Reportage — Familie Hulievych

»Mama, der Krieg ist hier!«

Auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine mussten Inna Hulievych und ihre Tochter Sofia nicht nur ihre Wohnung zurücklassen, sondern auch den 20-jährigen Sohn Vlad. Untergekommen sind sie vorerst bei Daniel Heinz, dem ehemaligen Tutor des Sohnes aus Studienzeiten. Zusammen mit seiner guten Freundin Ilona Naydyonova hat er Mutter und Tochter in der Slowakei abgeholt und nach Berlin gebracht. Vor wenigen Tagen haben wir alle vier zu einem Gespräch in Daniels Wohnung getroffen.

11. März 2022 — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Inna Hulievych (40) ist mit ihrer Tochter Sofia (13) aus Kiew nach Berlin geflohen.

Für die Woche, in der Wladimir Putins Truppen in die Ukraine einmarschierten, hatte Familie Hulievych aus dem Zentrum Kiews eigentlich andere Pläne. Anstatt mit notdürftig gepackten Rucksäcken und Koffern die Flucht aus der ukrainischen Hauptstadt anzutreten, hatte sich die 13-Jährige Sofia auf eine ruhige Woche mit coronabedingtem Online-Unterricht eingestellt. Student Vlad, 20 Jahre alt, schrieb zum Zeitpunkt, als die ersten Bomben fielen, gerade an seiner Bachelorarbeit. Sein Thema: deutsche Erinnerungskultur mit Schwerpunkt Sowjetunion. Der Abgabetermin stand kurz bevor. Und Inna, die 40-jährige Mutter der beiden, hatte sich mit ihren Kolleginnen aus der Zahnarztpraxis zum frühmorgendlichen Sport verabredet. Ein Ritual unter Freundinnen, die einmal pro Woche zuerst ins Fitnessstudio, dann zum Kaffeeklatsch und anschließend gemeinsam zur Arbeit gingen.

Untergekommen sind Inna und Sofia in der Wohnung eines Freundes in Berlin-Friedrichsfelde.

»Wir müssen sofort hier raus.«

In den Stunden, bevor der Alltag dieser drei Menschen in sich zusammenfiel und ihr an Freude und Freundschaft reiches Leben plötzlich ein anderes war, scheiterte ein Versuch des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, den russischen Präsidenten telefonisch zu erreichen. Noch während der UN-Sicherheitsrat tagte, hielt Putin seine Rechtfertigungsrede. In dieser erklärte er unter anderem die „Entnazifizierung“ des „faschistischen, neonazistischen Regimes“ des jüdischen Wolodymyr Selenskyj zum Kriegsziel, der im Jahr 2019 demokratisch gewählt worden war.

Ab dem frühen Morgen, gegen fünf Uhr ukrainischer Zeit, waren die ersten Explosionen zu hören. Und das – zur Überraschung der Ukrainer*innen und der Weltbevölkerung – nicht nur im Donbas, sondern auch bei Odessa, Charkiw oder Kiew. Um sechs Uhr wurde Inna Hulievych von ihrem Sohn geweckt: „Mama, der Krieg ist hier!“, rief Vlad. „Wir müssen sofort hier raus.“

»Ich habe zuerst den Abwasch gemacht.«

Halb verschlafen und eher ungläubig trat Inna auf ihren Balkon. In der Ferne sah sie den Funkenflug und hörte das Dröhnen der Bomben. Während ihre Kinder sofort mit dem Packen begannen, dachte sie im ersten Moment an das schmutzige Geschirr, das sich vom Abend vorher noch in der Küche stapelte: „Ich habe zuerst den Abwasch gemacht. Mein Kopf war irgendwie leer – ich konnte das alles kaum begreifen.“

Danach eilte Inna zu einer nahgelegenen Bank, vor der sich bereits eine lange Schlange an Menschen gebildet hatte. Alle wollten so schnell wie möglich an Bargeld kommen. Doch wie etliche andere Leute wartete sie umsonst, denn die meisten Automaten gaben kein Geld mehr aus. Also hastete Inna wieder nachhause.

Daniel Heinz (25) hat Mutter und Tochter in der Slowakei abgeholt.

»In so einem Moment denkt man weder an den Schmuck noch an irgendwelche Wertsachen.«

„Ich wurde schon ein paar Mal gefragt, an welche Dinge ich sofort gedacht habe, als klar wurde, dass wir fliehen müssen“, berichtet sie. „Doch wie viele andere, mit denen ich auf der Flucht darüber gesprochen habe, denkt man in so einem Moment weder an den Schmuck noch an irgendwelche Wertsachen oder die Lieblingsklamotten. Man wirft einfach irgendwelche Sachen in die Koffer.“

Der Plan der kleinen Familie war, zunächst zu einer Verwandten im Westen der Ukraine zu fliehen. Sie kontaktierten Freunde aus Browary, einer Vorstadt im Osten Kiews, da diese im Gegensatz zu den Hulievychs ein Auto besitzen und ohnehin in die Innenstadt fahren wollten. Aus Browary braucht man an einem geschäftigen Tag um die 45 Minuten bis zum Stadtzentrum. Doch auf den Straßen herrschten Massenstaus, alles wirkte wie ein einziges Chaos. Und so brauchten die Freunde mit dem Auto ganze sechs Stunden, bis sie die Wohnung von Familie Hulievych im Zentrum Kiews erreicht hatten.

Studentin Ilona Naydyonova (24) ist gebürtige Ukrainerin und hilft der Familie unter anderem mit Übersetzungen.

»Neben den PKW rollten massive Panzer über den Beton.«

Mit jeder Menge schwerem Gepäck verfrachteten sich Inna, Sofia und Vlad ins Auto und baten ihre Freunde, sie zur nächsten U-Bahn-Station zu bringen. Doch statt der üblichen zehn Minuten dauerte die Fahrt über anderthalb Stunden. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren die Drei bis zur Stadtgrenze. Von dort aus liefen sie eine Stunde zu Fuß zu einer Autobahnraststätte. „Neben den PKW rollten massive Panzer über den Beton“, erzählt Inna. Sie schafften es zu einem Teil ihrer Familie in Chmelnyzkyj.

Kurz darauf gab die ukrainische Regierung bekannt, dass alle gesunden Männer zwischen 18 und 60 das Land nicht mehr verlassen dürfen. Eine furchtbare Nachricht für Inna, die sich zum einen um den Vater ihrer Kinder sorgt, von dem sie seit mehreren Jahren getrennt lebt. Noch viel größer ist ihr Kummer, wenn sie an ihren Sohn denkt. Denn auch für Vlad schlossen sich nun alle Fluchttüren. Dabei hatte er bereits Kontakt mit seinem deutschen Freund Daniel Heinz aufgenommen, um eine mögliche Flucht in die Bundesrepublik vorzubereiten.

»Es war uns bewusst, dass es das letzte Mal sein könnte, dass wir uns in den Armen liegen.«

Vlad und Daniel hatten sich 2021 beim Studium an der Justus-Liebig-Universität Gießen kennengelernt, der heute 25-jährige Daniel war damals sein Tutor. Er bot sofort an, die dreiköpfige Familie in seiner Wohnung in Berlin-Friedrichsfelde aufzunehmen. Nun drängte Vlad darauf, wenigstens seine Mutter und seine Schwester in Sicherheit zu bringen.

Am Mittwoch, den 2. März, verabschieden sich Inna und Sofia von Vlad. „Es war uns bewusst“, sagt Inna, „dass es das letzte Mal sein könnte, dass wir uns in den Armen liegen – auch wenn man das eigentlich nicht begreifen kann.“

Mit dem Zug fuhren Inna und Sofia von Winnyzja zur Grenzstadt Uschgorod. Von dort aus liefen sie zu Fuß über die Grenze zur Slowakei. „Bereits in diesem Moment durchströmte mich ein Gefühl der Sicherheit: Nun waren wir in einem Land, dass gerade nicht im Krieg war“, erzählt Inna. Zudem warteten auf der andere Seite zwei Engel aus Berlin: Freunde sammelten die beiden Frauen mit ihrem Auto ein und transportierten sie nach Berlin, wo sie von Daniel Heinz und Ilona Naydyonova auf Russisch empfangen wurden.

»Es ist unfassbar, welche Geschichten ein Mensch in 30 Minuten erzählen kann.«

Daniel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Potsdam und darüber hinaus Referent für Antidiskriminierung an der Bildungsstätte Anne Frank. Seine Großeltern sind in der ukrainischen Hafenstadt Odessa geboren und wurden von Stalin nach Sibirien deportiert. In den 1990er Jahren migrierten seine Eltern als Spätaussiedler in die Bundesrepublik. Er hat in Kiew studiert und mehre deutsch-ukrainische Jugendbegegnungen zwischen Berlin und Chernigiv organisiert.

Die Fluchtauswirkungen erlebte Daniel von Anfang an hautnah mit, da er seit Kriegsbeginn ehrenamtlich am Hauptbahnhof arbeitet. „Ich habe dort in den letzten Tagen viel übersetzt, um ankommenden Personen dabei zu helfen, ihre Weiterreise zu planen. Es ist unfassbar, welche Geschichten ein Mensch in 30 Minuten erzählen kann. Das hat mich sehr betroffen gemacht, aber auch in meinem Aktivismus gestärkt.“ Als wir ihn vergangenen Samstag in seiner Berliner Wohnung treffen, betont Daniel, dass es vor Ort am Hauptbahnhof keine behördlichen Strukturen gegeben hätte.

„Alle Arbeitsgruppen und Angebote werden von Privatpersonen und Aktivist*innen der ukrainischen Widerstandsbewegung in der Diaspora organisiert,“ berichtet er und hebt dabei den Verein „Vitsche“ hervor, der sich über Telegram und andere Social-Media-Kanäle abstimmt: „Ich habe gestern einen Aufruf auf Instagram gestartet, wir benötigen mehr Übersetzer für den Bahnhof. Es haben sich über 50 Leute gemeldet, die heute mitgeholfen haben. Aktuell fühlen sich weder die Deutsche Bahn noch die Bundespolizei verantwortlich und sind zudem wenig kooperativ. Nur dank der vielen zivilen Freiwilligen sind wir überhaupt in der Lage, die Ankunft der Menschen aus der Ukraine zu stemmen.“

»Meine Cousine sagt mir jeden Tag am Telefon unter Tränen, dass sie einfach nicht mehr kann.«

Während wir unsere Fragen stellen, frühstückt Daniel gerade mit Inna und Sofia. Auch seine Bekannte Ilona Naydyonova ist dabei und gießt den beiden Frauen frischen Orangensaft nach. Ilona studiert in Münster. Als sie in den ersten Tagen des Krieges über die Demos und Hilfsprojekte der ukrainischen Community in Berlin erfuhr, buchte sich die 24-Jährige sofort ein Zugticket nach Berlin.

Sie selbst zog bereits vor 16 Jahren mit ihren Eltern von der Krim nach Deutschland. „Meine Tante und meine Cousine sind immer noch in der Ukraine“, sagt sie mit kämpferischer Mine. „Sie mussten bereits 2014, als die Russen zum ersten Mal in den Donbas einmarschiert sind, nach Kiew fliehen. Die Ukraine war ein armes Land, die Zustände waren prekär. Sie haben so viel verloren, aber nicht aufgegeben. Als sich die Lage etwas beruhigt hat, beschloss meine Tante, in ihre Heimat zurückzukehren und alles wieder aufzubauen. Vor kurzem konnten sie es sich endlich leisten, neue Fenster in ihr kaputtes Haus einzubauen. Ich würde mir so sehr wünschen, dass meine Cousine nach Deutschland kommt, aber sie sagt mir jeden Tag am Telefon unter Tränen, dass sie einfach nicht mehr kann.“

Ilona, die besser Russisch und Ukrainisch spricht als Daniel, übersetzt unsere Interviewfragen und die Antworten von Inna. Sofia, die immer noch geschlaucht wirkt, zieht sich zum Musikhören zurück. Typisch Teenager, könnte man denken. Doch was kann überhaupt noch typisch und normal sein im Leben eines Teenagers, wenn man solche Dinge erlebt hat wie Sofia in den letzten Tagen?

»Ich kann meiner Familie mit gutem Gewissen sagen: Kommt her!«

Der einzige Trost, den die geflüchteten Frauen finden, ist die Herzlichkeit, mit der sich Daniel und Ilona um sie kümmern. Gemeinsam essen, sich beim Nachrichtenschauen die Hände halten, ukrainische Musik hören und sich laut den Frust von der Seele singen – was Daniel und Ilona in den letzten Tagen getan haben, war eine 24-Stunden-Betreuung, um den Schock, in einem fremden Land neu anfangen zu müssen, so gut wie möglich abzufedern.

Ilona weiß, wie es ist, in Deutschland erst mal eine Fremde zu sein. Sie kennt die Diskriminierung und den Rassismus, mit dem osteuropäische Frauen hier konfrontiert werden. „In einer Männergruppe habe ich ein Posting gesehen nach dem Motto: ‚Jetzt kann sich jeder eine günstige ukrainische Schlampe vom Hauptbahnhof mitnehmen.‘ Ekelhaft. Genau wie das Klischee, dass wir alle Alkoholiker wären.“

Dies sagt Ilona nur auf Deutsch und übersetzt es nicht. Warum auch, aktuell hat Inna einen guten Eindruck von den Deutschen. „Die Leute waren unfassbar nett und hilfsbereit.“ Eine Perspektive, die angesichts der überall entstehenden Hilfsprogramme auch von vielen anderen ankommenden Ukrainer*innen geteilt wird. Daniel und Ilona wollen alles dafür tun, dass sich die deutsche Zivilbevölkerung die momentane Stimmung und den Tatendrang bewahren. „Ich kann meiner Familie mit gutem Gewissen sagen: Kommt her, hier ist es definitiv besser als im Donbass. Es gibt hier Menschen, die euch helfen wollen und werden.“

»Viele junge Leute haben noch immer keine Chance, sich einbürgern zu lassen.«

Daniel stimmt dem grundsätzlich zu, versucht aber jetzt schon, die kommenden Problematik mitzudenken: „In Berlin überlegen jetzt viele, zuhause bei sich ukrainischer Geflüchtete aufzunehmen. Das ist erst mal großartig, aber man sollte sich davor überlegen, ob man noch eine andere Person zur Betreuung organisieren kann, die vielleicht ein bisschen Russisch oder Ukrainisch spricht.“

Daniel und Ilona sind sich einig: Viele Geflüchtete werden von den Dokumentenbergen der deutschen Bürokratie im ersten Moment überfordert sein. „Ich bin sehr wütend auf die deutsche Politik,“ sagt Daniel. In der Regel spricht er sehr sanft, wechselt hier aber tatsächlich seine Stimmlage. „Wir haben nicht erst seit letzter Woche Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland. Viele junge Leute, die teilweise sogar noch vor dem Kriegsbeginn 2014 in die Bundesrepublik migriert sind, haben noch immer keine Chance, sich einbürgern zu lassen.“

»Wir brauchen jetzt dringend ein unbürokratisches und zugängliches Verfahren für Sozialhilfen.«

Sein Blick auf die Situation wird nicht von der akuten Hilfswelle verklärt. Trotz der immensen Solidarität in der Zivilgesellschaft sähe er auf struktureller und institutioneller Ebene nach wie vor unnötige Hürden für Migrant*innen aus Osteuropa und dem postsowjetischen Raum. „Wir brauchen jetzt dringend ein unbürokratisches und zugängliches Verfahren für Sozialhilfen. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass auch nächste Woche noch so viele freiwillige Helfer*innen an Start sein werden. Der Staat muss jetzt handeln.“

Während Daniel erzählt, sucht Inna auf ihrem Handy nach den Aufnahmen aus der Ukraine. Selbst gedrehte Videoclips, die schwere Panzer und hochbewaffnete Soldaten zeigen. Schüsse, die zu hören sind, und ein feuerverfärbter Horizont. Das liegt nun hinter ihr. Aber was liegt vor ihr und ihrer Tochter?

Für die nächsten Schritte in Deutschland werden Mutter und Tochter weiterhin Hilfe brauchen. Entscheidend wäre die Einrichtung von offiziellen Stellen, die ihr die Frage beantworten, wie sie sich finanzieren kann. Wie Deutschkurse zu belegen sind. Und wie ihre Tochter wieder in ein Schulsystem integriert werden kann. Hilfe, die jeder Mensch, der so brutal aus seinem Leben gerissen wird, auch verdient.