Interview — Julia Penner

»Opfer sind mehr als die Tat, die ihnen passiert ist«

Wie handelst du, wenn deine beste Freundin eine Affäre mit deinem Vater beginnt – und ihn nach der Trennung der Vergewaltigung beschuldigt? Diesem ethischen und juristischen Konflikt muss sich in der ARD-Miniserie »37 Sekunden« die Musikertochter Clara stellen, die ausgerechnet Anwältin ist. Wir treffen Drehbuchautorin Julia Penner an ihrem heimischen Arbeitsplatz – wo die Idee zur Geschichte entstand.

3. August 2023 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Alicia Pfeifer

Drehbuchautorin Julia Penner hat sich mit der ARD-Serie „37 Sekunden“ an ein wuchtiges Thema gewagt: die Grauzone zwischen Vergewaltigung und einvernehmlichem Sex. Um diesen Konflikt zu erzählen, hat sie sich eine Familie mit viel Fallhöhe ausgesucht:

Der Musiker Carsten Andersen – vom Status her eine Art Herbert Grönemeyer oder Marius Müller-Westernhagen – bereitet sich auf seine Comeback-Tour vor. Bei seiner Geburtstagsfeier taucht ein unerwarteter Gast auf: Leonie, die beste Freundin seiner Tochter Clara. Die 32-jährige Sängerin hatte, was niemand weiß, eine leidenschaftliche Affäre mit dem Star, dessen poetisch-politische Musik sie seit Kindertagen liebt. Obwohl beide wissen, dass es vorbei ist, kommen sie sich mit aufgeladener Leidenschaft nochmals nahe. Leonie möchte keinen Sex, doch Carsten übergeht ihr „Nein“. Als sie ihrer besten Freundin das verstörende Erlebnis schildert, ohne einen Namen oder den Ort zu nennen, ist das für Clara eine klare Vergewaltigung. Doch als die Anwältin erfährt, um wen es sich handelt, ändert sie ihre Meinung…

Julia Penner, die an der HfS Ernst Busch Schauspiel und später an der DFFB Drehbuch studierte, erzählt von 37 Sekunden, die das Leben mehrerer Menschen für immer verändern. Zusammen mit ihrem Co-Autor hat sie eine für Deutschland ungewöhnliche Serie geschaffen: Denn obwohl das Thema hart aufschlägt und juristisch präzise verhandelt wird, bestechen Bilder und Dialoge durch eine feine Sinnlichkeit. Diese machen dem Publikum den ernsten Stoff nicht nur erträglicher, sondern heben gleichzeitig die Dringlichkeit hervor, sich mit den Motiven der Handlung auseinanderzusetzen.

Wir treffen Julia Penner an ihrem Arbeitsplatz: in ihrer Kreuzberger Wohnung. Dort, zwischen ihrem Lieblingssessel und ihrem Bett, erfindet sie große Geschichten – und erzählt uns, wie man gute Frauenfiguren entwickelt, was ihre Serie vom Fall Lindemann unterscheidet und von wem sie am meisten über das Schreiben gelernt hat.

»Schon als Schauspielerin habe ich immer Musik gehört, um in die Emotionen zu kommen.«

MYP Magazine:
Wir besuchen dich zu Hause und fotografieren dich an deinem Arbeitsplatz: im Bett. Bei welcher alltäglichen Routine kommen dir die besten Ideen?

Julia Penner:
Beim Spazierengehen, tatsächlich mit Musik. Ich erstelle für jedes Projekt eine Spotify-Liste. Diese Angewohnheit stammt noch aus meiner Zeit als Schauspielerin. Da habe ich immer Musik gehört, um in die Emotionen zu kommen. Und Berlin hat viele Parks und Wege, die ich sehr kreativ und inspirierend finde. Überraschenderweise habe ich vor kurzem auch eine große Liebesbeziehung zu Zürich begonnen. Ich habe dort an einem Projekt im Writers Room mitgearbeitet und schnell gemerkt, dass die Stadt mein Herz erobert hat.

MYP Magazine:
„37 Sekunden“ ist ein sehr heftiger Stoff. Kann man so etwas zu Hause schreiben? Oder sucht man dafür lieber einen Ort, der Distanz zum eigenen Privatleben schafft?

Julia Penner:
Da wir die Serie während der Pandemie geschrieben haben, erübrigt sich die Antwort wohl. (lacht)

»Ich wollte mit dieser Serie eine intakte Familie sezieren.«

MYP Magazine:
Du hast bereits 2016 mit dem Stoff begonnen und das Ganze dann 2020 mit deinem Co-Autor David Sandreuter fertiggestellt. Ihn hast du mit ins Boot geholt, um mit ihm an der männlichen Perspektive zu arbeiten. Wie hat das funktioniert?

Julia Penner:
Ich wollte mit dieser Serie eine intakte Familie sezieren. Der Stein, der den Konflikt innerhalb dieses Personenkreises ins Rollen bringt, ist eine Vergewaltigung. Da die Geschichte ursprünglich in Dänemark spielen sollte, habe ich vorrangig nach jemandem gesucht, der die dortige Landessprache spricht. Ich finde es falsch zu sagen: Es braucht einen Mann im Writers Room, um diese Geschichte zu erzählen. David ist einfach ein sehr guter Autor, der zufälligerweise auch ein Mann ist. Ich habe mich auch für ihn entschieden, weil wir uns von Anfang an gut verstanden haben und ich sofort gemerkt habe, wie sehr er sich in die Geschichte einfühlt. Ich habe selbst MeToo-Erfahrungen gemacht, er nicht. Und er war genauso offen für meine Erfahrungen wie ich für die Tatsache, dass wir die Geschichte nur gut erzählen können, wenn auch der Täter, Carsten, verstanden wird.
Diese Ambivalenz auszuhalten und auszuloten hat David stark unterstützt. Außerdem war er in vielen Momenten für mich da. Wir haben viel recherchiert und mit einigen Anwälten in Kopenhagen gesprochen, die uns von Vergewaltigungsfällen erzählt haben. Und wenn man den sechsten Fall hört, wird einem irgendwann ganz schlecht. Einmal musste ich weinen, und dann hat er mich in den Arm genommen. Das hat mir gezeigt: Ich kann mich irgendwo festhalten in diesem Arbeitsprozess.

»Mir war mir wichtig zu zeigen, dass nichts an dieser Untersuchung für die Protagonistin beschämend ist.«

MYP Magazine:
Warum war es für euch so wichtig, mit echten Jurist*innen zu sprechen?

Julia Penner:
Am Anfang haben wir überlegt, ob wir die Geschichte so erzählen, dass Carstens Tochter ihn selbst verteidigt. Aber das ist rechtlich nicht möglich. Später ging es darum, die Gerichtsverhandlung so realistisch wie möglich zu gestalten und die richtigen Abläufe und Begriffe zu verwenden. Wir haben auch mit Leuten gesprochen, die in sogenannten Rape Stations arbeiten: Dort wird nach einer Gewalttat eine gynäkologische Untersuchung durchgeführt. Das ist auch die Untersuchung, der sich die Hauptfigur in unserer Serie unterzieht. Hier war es mir wichtig zu zeigen, dass nichts an dieser Untersuchung für die Protagonistin beschämend ist. Es war mir wichtig, dass die Zuschauerin nach dem Sehen in dieser Szene denkt: Okay, wenn mir so etwas passiert, werde ich gut behandelt.

»Man merkt, wie schnell die Leute auch vom Thema Lindemann übersättigt waren.«

MYP Magazine:
Glaubst du, es ist heute einfacher als noch 2016, eine Serie über so ein Thema bei den Filmförderungen „durchzubekommen“?

Julia Penner:
Ich wollte eine Serie über Konflikte innerhalb einer Familie machen – und speziell über Loyalität und Freundschaft. Der Aufhänger der Vergewaltigung, war zum Beispiel den Lehrenden an meiner Universität im Jahr 2016 noch zu schwach. Mittlerweile gibt es da eine größere Offenheit. Andererseits merkt man, wie schnell die Leute auch vom Thema Lindemann übersättigt waren. Vielleicht schadet das Thema Vergewaltigung der Serie auch, weil viele keine Lust haben, sich das auch noch fiktionalisiert anzusehen.

»Wir sprechen über einen Moment in der Grauzone.«

MYP Magazine:
Der berühmte Musiker Carsten wird gegenüber einer jungen Frau übergriffig, die ihn anhimmelt – und viel weniger ökonomische Macht hat. Es ist schon verrückt, dass wir dieses Interview schon vor Wochen vereinbart haben und jetzt gerade der Skandal um die Band Rammstein öffentlich wird, der genau diese Machtkonstellation thematisiert. Wie siehst du diese Debatte?

Julia Penner:
Ich verstehe die Frage, aber ich finde, dass unsere Serie in einem ganz anderen Kontext stattfindet. Da gibt es eine Liebesbeziehung zwischen Täter und Opfer, und dann kommt es zu einer Trennung, bei der ein Moment entsteht, der kippt. Bei Till Lindemann geht es um einen möglichen Vergewaltiger, der ein System aufgebaut hat, in dem zum Teil minderjährige Frauen emotional ausgebeutet und sexuell ausgenutzt werden. Das ist strukturelle Gewalt. Wir sprechen über einen Moment in der Grauzone – deshalb kann man die Geschichten nicht miteinander vergleichen, auch wenn beide im Musikermilieu spielen.

»Ich bin froh, dass die Opfer, meistens Frauen, immer mehr den Mut haben zu sprechen.«

MYP Magazine:
Kennst du solche strukturelle Gewalt auch in deiner eigenen Branche?

Julia Penner:
Auf jeden Fall. Ich habe lange im Theater gearbeitet und viele künstlerische Bereiche erlebt, in denen es Machtmissbrauch von Männern gegenüber Frauen oder auch von Frauen gegenüber Männern gab. Ich bin froh, dass sich dieses Verhältnis zu Machtverhältnissen langsam ändert und die Opfer, meistens Frauen, immer mehr den Mut haben zu sprechen – auch wenn sie in den sozialen Medien auf eine Art und Weise angegangen werden, die mich immer wieder kopfschüttelnd zurücklässt.

»Ich frage mich, wie man ernsthaft glauben kann, dass eine Frau mit dem Satz ›Ich wurde vergewaltigt!‹ unbedingt in die Öffentlichkeit will.«

MYP Magazine:
Apropos soziale Medien: Die Art und Weise, wie Leoni, die Hauptfigur deiner Serie, von Kommentatoren in den sozialen Medien und der klassischen Presse unter Druck gesetzt wird, kann sicherlich eine Diskussion darüber anregen, wie wir als Öffentlichkeit mit Vergewaltigungsvorwürfen umgehen.

Julia Penner:
Das hoffe ich. Denn wie im Fall Rammstein ist die erste Reaktion vieler Menschen: „Schon wieder so eine Frau, die nur ins Rampenlicht will.“ Da frage ich mich persönlich, wie man ernsthaft glauben kann, dass eine Frau mit dem Satz „Ich wurde vergewaltigt!“ unbedingt in die Öffentlichkeit will. Außerdem wird oft sehr schnell Mitleid mit dem armen Boxer, dem armen Journalisten oder dem armen Regisseur geäußert – weil er Projekte verliert und seine Arbeit nicht mehr floriert. Aber was ist mit den Frauen, die sich getraut haben zu sagen: „Er hat mich vergewaltigt!“ Arbeiten die noch?

»Hält uns das Prinzip Familie von gewissen progressiven Schritten in unserer Gesellschaft ab?«

MYP Magazine:
Besonders spannend ist der Konflikt der beiden zentralen Frauenfiguren: Die Juristin Clara will ihren Vater schützen und muss sich dafür quasi gegen ihre gleichaltrige beste Freundin Leonie stellen. Sich vorzustellen, selbst in so einer Situation zu sein, tut wahnsinnig weh. Wie hast du diesen Konflikt gestaltet?

Julia Penner:
Die Prämisse war, dass sich alle Charaktere lieben, aber die Familie auf dem Spiel steht. Tochter Clara steht zwischen den Stühlen: Natürlich ist sie gegen Vergewaltigung, aber wenn auf einmal ihr Vater angeklagt wird, was passiert dann mit ihrer Loyalität? Das System, das die Serie damit hinterfragt, ist die Familie. Hält uns das Prinzip Familie von gewissen progressiven Schritten in unserer Gesellschaft ab? Am Anfang war auch Clara absolut die Hauptprotagonisten, weil sie es wahnsinnig schwer hat – und man ihre Entscheidungen trotz der ganz klaren Einsicht in das Tatgeschehen verstehen kann.

»Ich wollte die Perspektive von Leonie einnehmen, ohne ihr ganzes Leben auf diese 37 Sekunden Vergewaltigung zu reduzieren.«

MYP Magazine:
Trotz der Schwere des Themas ist die Serie sehr nahbar und lebendig, teilweise sogar erotisch – und auf jeden Fall nicht so deprimierend, wie man beim Lesen des Klappentextes hätte vermuten können. Wie ist das gelungen?

Julia Penner:
Vielschichtige und widersprüchliche Charaktere zu schreiben, denen man einfach gerne folgt, weil man sich in ihnen vielleicht sogar wiedererkennt. Ich habe den Eindruck, dass die Leute, nachdem sie einen Film oder eine Serie über sexuelle Gewalt gesehen haben, oft denken: „Ich will nie wieder in meinem Leben Sex haben.“ Und das wollte ich ändern – ich wollte die Perspektive von Leonie einnehmen, ohne ihr ganzes Leben auf diese 37 Sekunden Vergewaltigung zu reduzieren: Opfer sind mehr als die Tat, die ihnen passiert ist. Langfristig geht es für mich in der MeToo-Debatte neben der Veränderung von Machtstrukturen nicht nur um die Konsensfrage, ob wir Sex haben wollen. Sondern auch darum, wie wir Sex haben wollen und wie wir Intimität miteinander gestalten können.

»Ich weiß noch, wie ich dem Team gesagt habe: Wir müssen unbedingt drehen, sonst muss ich den Kühlschrank zurückgeben.«

MYP Magazine:
Häufig stammt die gesamte Vision für einen Film oder eine Serie von einem kleinen Team an Drehbuchautor*innen. Im Fall von „37 Sekunden“ warst du auch stark an der Umsetzung beteiligt – in den letzten beiden Folgen spielst du sogar selbst mit, in der Rolle der Richterin. Wie ist es, ein Projekt von der Idee bis zur Verfilmung zu begleiten?

Julia Penner:
Die Umsetzung kann manchmal ewig dauern. Zuerst hatten wir einen dänischen Sender, der sich dann kurzfristig zurückgezogen hat. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon angefangen, Dänisch zu lernen – und dann schien das Projekt plötzlich tot zu sein. Die Rettung kam aus Deutschland. Eigentlich war alles schon unter Dach und Fach, und ich habe den Moment genutzt, um mir diesen Kühlschrank zu kaufen (zeigt auf das Gerät in ihrer Wohnung). Weil ich dachte: Jetzt kommt Geld in die Kasse. Aber dann ging es turbulent weiter. Wir haben eine Förderung nicht bekommen, weil jemand in der Förderstelle gesagt hat, man glaube die Grundkonstellation nicht. Plötzlich war wieder völlig unklar, ob wir drehen oder nicht. Ich weiß noch, wie ich dem Team gesagt habe: Wir müssen unbedingt drehen, sonst muss ich den Kühlschrank zurückgeben.

MYP Magazine:
Und wie ging es weiter?

Julia Penner:
Wir hatten Glück und durften drehen, mussten aber stark einsparen. Unser Kernteam ist dann mit der Regisseurin Bettina Oberli aufs Land gefahren. Dort haben wir geschaut, wie wir kürzen und vereinfachen können. Es ist diesem Umstand geschuldet, dass wir die gleiche Vision von der Serie entwickelt haben, und das war wahnsinnig toll. Wir haben übrigens fast chronologisch gedreht. Neben der Regisseurin zu sitzen, als die letzte Klappe gedreht wurde, und diesen Meilenstein eines Projektes so mitzuerleben, war ein überwältigendes Gefühl.

»Meine Mutter war ein Kriegskind und hat mit selbstgemischter Tinte Gedichte aus einem Buch abgeschrieben.«

MYP Magazine:
Du hast an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studiert und hast das Schreibkollektiv Q3 mitgegründet, dessen Serie „Druck“ zum Beispiel für den Grimme-Preis nominiert wurden. Was in deinem Leben hat dir am meisten über das Schreiben beigebracht?

Julia Penner:
Meine Mutter! Meine Mutter war ein Kriegskind und hatte kein Geld für Bücher. Sie hat Gedichte aus einem Buch abgeschrieben, mit selbstgemischter violetter Tinte. Diese Gedichte habe ich immer noch. Meine Mutter lebt nicht mehr, aber jedes Mal, wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, mit ihr verbunden zu sein.

MYP Magazine:
Welche Projekte beschäftigen dich aktuell und wie weit bist du im Schreibprozess?

Julia Penner:
Unter anderem die Spionageserie „Davos“ mit dem Headautor Adrian Illien, die dieses Jahr für den SRF und die Degeto gedreht wurde, sowie die Vampirserie „Love Sucks“ von Headautor und Creator Marc O. Seng, die im September fürs ZDF gedreht wird. Außerdem entwickele ich gerade einen Kinofilm mit Andreas Kleinert und ein Serienprojekt mit dem Titel „Julia Penner sucht ein Privatleben in: Zürich?!“ für die Schweiz.

MYP Magazine:
Wow, du brauchst echt ein Privatleben.

Julia Penner:
Inshallah! Wobei das in Zürich tatsächlich gerade floriert, was mich sehr happy macht. Ich würde in diesem Zusammenhang auch gerne etwas humorvolles Schweizerdeutsches dazu schreiben, aber das haben mir meine Schweizer Freund*innen strikt verboten. Als Deutsche ist das nur peinlich.