Interview — Annette Hess

»Mir gefällt Schönheit, die gebrochen ist«

Drehbuchautorin Annette Hess gilt als virtuose Geschichtenerzählerin. Nach »Ku’damm« und »Weißensee« hat sie sich nun an eine Neuadaption des Coming-of-age-Klassikers »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« gewagt. Ein Interview mit einer Menschensammlerin über die Kunst, neue Welten zu erschaffen.

5. März 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Sie ist Deutschlands bekannteste Drehbuchautorin: Wo Annette Hess die Feder ansetzt, geht die Quote recht zuverlässig hoch. Dabei ist sie häufig Chronistin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der Hauptstadt Berlin. Filme wie „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ oder „Die Holzbaronin“ trafen ebenso den Nerv der Zeit wie ihre Serien-Hits „Weißensee“ und „Ku’damm“. Darüber hinaus landete sie 2018 als Romanautorin mit „Deutsches Haus“ einen Bestseller für den Ullstein Verlag.

Unsere Chefredakteurin Katharina Weiß hat die Autorin, die zwischen dem Weserbergland und Berlin pendelt, zu einem Gespräch über ihr neuestes Werk getroffen: die Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, die seit kurzem auf Amazon Prime zu sehen ist.

Katharina Weiß:
Sie kommen vom niedersächsischen Dorf und sind nur fünf Jahre jünger als Christiane F. Haben Sie das Phänomen „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ als Teenager eher mit Faszination oder mit Distanz verfolgt?

Annette Hess:
Als ich das Buch mit ungefähr zwölf Jahren zum ersten Mal gelesen habe, ist es eingeschlagen wie eine Bombe. Meine Freundinnen und ich wussten davor so gut wie nichts über harte Drogen und den Babystrich. Ich war einerseits total abgestoßen und andererseits sehr angezogen: Ich wollte auch zu einer supercoolen Hauptstadt-Clique gehören, die kompromisslos ihr Leben aufs Spiel setzt. Diese Ambivalenz spiegelt sich im riesigen Erfolg des Buches wider, das auch in anderen Ländern ein Hit war.

»Unsere Eltern durften ihren Eltern keine Fragen stellen.«

Katharina Weiß:
Sie sagten in einem Interview, dass sich das Grundmotiv der meisten Stoffe unter „Das Individuum und die Gesellschaft“ zusammenfassen lässt. Das wird auch in Ihrem aktuellen Projekt abgebildet. Welche Perspektiven finden Sie diesmal besonders spannend?

Annette Hess:
Zum einen das historische Momentum: Die Generation der Christiane F., zu der ich auch noch ein Stück weit gehöre – wir sind Kinder der Kriegskinder. Unsere Eltern waren in ihren Familien konfrontiert mit Vätern, die traumatisiert von der Front kamen, als sogenannte Mitläufer oder sogar Verbrecher in der Nazizeit. Unsere Eltern durften ihren Eltern keine Fragen stellen, sie waren zum Schweigen verdammt und wirken bis heute wie eine verlorene Generation. Die Unfähigkeit, später mit den eigenen Kindern das Gespräch zu suchen, spiegelt sich für mich in der Mutter von Christiane F. wider.
Aber da ist nicht nur die Unfähigkeit zur Kommunikation. Nicht zu vergessen ist auch die körperliche Gewalt, die über Generationen einfach weitergegeben wird. Die Tatsache, dass sich Ende der 1970er Jahre so viele Kinder und Jugendliche in dieser Diskothek Sound getroffen und harte Drogen genommen haben, ist meiner Meinung nach aus der Historie begründet.
Ich persönlich finde solche Zusammenhänge faszinierend. Gleichzeitig reizt mich aber auch die Zeitlosigkeit des Stoffs: was jung sein bedeutet. Hoffnungen und Ängste treffen auf die Unfähigkeit, sich selbst einschätzen zu können. Das kulminiert dann in dem berauschenden Gefühl, unsterblich zu sein.

»Es war uns extrem wichtig, die Figuren nicht nur als Opfer darzustellen.«

Katharina Weiß:
Neben den Drogen ist vor allem der erotische Aspekt – auch in seiner Brutalität und seinem Tabu – ein Grund für die Zeitlosigkeit der Vorlage. Mit welchen inneren Konflikten wurden in Ihrem Team die Szenen rund um Kinderprostitution aufgeschrieben?

Annette Hess:
Für dieses Projekt habe ich zum ersten Mal zusammen mit einem sogenannten Writers Room geschrieben. Dafür habe ich mit fünf jungen Autoren*innen gearbeitet, die frisch von der Filmuni oder aus der Drehbuchwerkstatt München kamen. Anfangs haben wir eher weniger geschrieben, sondern intensiv über unsere eigenen ersten Erfahrungen mit Drogen, Sexualität, Gewalt oder Übergriffigkeit gesprochen. Wir haben uns ausgiebig mit der Frage befasst, wie man diesen Stoff so wenig voyeuristisch wie möglich erzählen kann. Später, als es dann um die Visualisierung ging, haben wir uns darüber mit dem Regisseur Philipp Kadelbach ausgetauscht, etwa über die Kostüme. Es ist ein unbehaglicher Gedanke, dass jemand zum Beispiel aus unserer Serie Szenen vom Babystrich zusammenschneiden und für Suchbegriffe wie „Sex mit Kindern“ hochladen könnte. Dennoch war es wichtig, diese Seite zu beleuchten und auch die Ambivalenz von Figuren wie Günther aufzugreifen: Er ist der einzige Erwachsene, der den Mädchen wirklich zuhört, und gleichzeitig müssen sie Sex mit ihm haben. Darin liegt eine immense Brutalität. Dennoch war es uns extrem wichtig, die Figuren nicht nur als Opfer darzustellen. Dafür haben wir uns von der Vorlage entfernt: Die Idee, dass sich die Gruppe gegen Günther zusammenschließt und sich wehrt, fühlte sich für uns richtig an.

»Man kann das Leben quasi so aufschreiben, wie es laufen sollte.«

Katharina Weiß:
Für den Writers Room von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ haben Sie an Filmhochschulen nach Teamkolleg*innen gesucht. Sie beschreiben den Prozess als sehr privat. Was war die aus kreativer Sicht größte Überraschung dieser „Gesprächstherapie“, wie sie es einmal nannten?

Annette Hess:
Da es mit dem Buch bereits eine Vorlage gab und wir nicht gemeinsam einen komplett neuen Stoff entwickeln mussten, konnten wir uns von Anfang an auf die Figuren und deren Psychologie konzentrieren. Der Schicksalsweg, die Drogenspirale abwärts ist kein komplizierter Plot, wir konnten uns also ganz mit den menschlichen Aspekten beschäftigen. Vielleicht auch deshalb konnten wir sehr schnell produktiv werden. Was mich überrascht hat: wieviel Spaß es mir gemacht hat, meine Co-Autor*innen Linda Brieda, Christiane Kalss, Johannes Rothe, Lisa Rüffer und Florian Vey laufen zu lassen – denn ich habe die großartigen Ergebnisse gesehen, die nur in einem kreativen Freiraum entstehen können. Dabei bin ich ein totaler Kontrollfreak – anders kann man aber auch nicht Drehbuchautorin werden.

Katharina Weiß:
Verständlich, denn mit dem Drehbuch beginnt nun mal jeder Film. Menschen wie Sie müssen das ganze Universum im Kopf haben und gedanklich zusammenhalten.

Annette Hess:
Ich glaube, beim Drehbuchschreiben kompensiert man schon seine Machtlosigkeit über das Leben. Man kann dort das Leben quasi so aufschreiben, wie es laufen sollte.

»Ich dachte mir mit jeder weiteren Sekunde: Was für eine Katastrophe! Warum ist das so lahmarschig?«

Katharina Weiß:
Sind Sie manchmal enttäuscht, wenn Sie eine Szene schreiben, dadurch einen ganz eigenen Film im Kopf haben und schließlich die Umsetzung der Schauspieler*innen sehen?

Annette Hess:
Das ist etwas, das man als Drehbuchautorin als allererstes lernen muss: Man muss sein Buch irgendwann loslassen. Das war ein totaler Schock bei meinem ersten Film, „In Liebe eine Eins“ mit Anna Loos. Ich erinnere mich noch genau, wie mich der Regisseur und der Cutter spontan eingeladen haben, einen ersten Blick auf das Material zu werfen. Ich saß zwischen den beiden eingekeilt vor dem Bildschirm und dachte mir mit jeder weiteren Sekunde: Was für eine Katastrophe! Warum ist das so lahmarschig? Ich hatte noch nicht gelernt dabei zu bedenken, dass die Zuschauer*innen natürlich noch nicht wissen, was ich über die Handlung weiß. Oder was die Schauspieler*innen sagen. Das hören die Zuschauer*innen dann ja zum ersten Mal. Das konnte ich lustigerweise nicht abstrahieren.
Diese Nervenzusammenbrüche bei der ersten Sichtung eines fertigen Films habe ich inzwischen nicht mehr. Das Gefühl hat sich mittlerweile gedreht. Heute bin ich sehr neugierig, wie sich die anderen kreativen Gewerke von meinem Buch haben inspirieren lassen: Wie haben Regisseur*innen und Schauspieler*innen meinen Stoff gesehen? Welche Perspektive hat sich durchgesetzt? Bei meinen letzten Projekten wie „Ku’damm“ oder „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ bin ich allerdings auch als Creative Producer intensiv in die Drehprozesse eingebunden. Dort entscheide ich nicht nur die Regie mit, sondern auch den Cast oder den Look. So kenne ich die täglichen Muster – und es gibt keinen Schockeffekt mehr im Schneideraum, da ich die Serien bis zum Schluss mitgestalte.

»Ich denke oft: Das ist viel zu irre, das versteht keiner, das geht nicht durch.«

Katharina Weiß:
Writers Rooms scheinen sich vor allem im Serienzeitalter zu bewähren. Wo liegen die großen Chancen dieser Teamarbeit? Und was können Sie immer noch alleine am besten?

Annette Hess:
Die Writers Rooms haben sich ja vor allem entwickelt, da bei Serien einfach viele Bücher geschrieben werden müssen. Gerade bei langlaufenden Serien kann das keiner allein. Was ich für mich weiterhin nur alleine finden kann, ist die Grundidee, das Thema, die Vision für eine Geschichte. Das kommt bei mir aus dem Bauch heraus und ist immer sehr persönlich. Und dann kann ich mir den Rahmen überlegen, wie die Geschichte ausgearbeitet wird. Was ich jetzt bei „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ gemerkt habe: Wenn man eine starke Grundlage hat und im Writers Room eine freie, tabulose Atmosphäre herrscht, wird man miteinander mutiger.
Wenn ich alleine Drehbücher schreibe, habe ich – auch aufgrund meiner langjährigen Erfahrung – oft viele Scheren im Kopf. Ich denke oft: Das ist viel zu irre, das versteht keiner, das geht nicht durch. Wenn dann aber drei oder vielleicht sogar alle fünf Teamkolleg*innen eine Idee super finden, die man gerade wieder verwerfen wollte, dann schreibt man auch Ungewöhnliches auf. Ich finde, das merkt man unserer Serie mit ihrer manchmal anarchistischen Erzählweise und ihrer Leichtigkeit auch an. Speziell für dieses Projekt empfand ich die vielen Stimmen als perfekt.

»Wir sind die, die aus dem Nichts schöpfen.«

Katharina Weiß:
Im Jahr 2018 traten Sie als Gründungsmitglied der Drehbuchautor*innen-Initiative Kontrakt 18 an die Öffentlichkeit. Wenn ich es richtig verstanden habe, sollte diese Initiative der mangelnden Macht von Drehbuchschreibenden Aufmerksamkeit schenken, um mehr Anerkennung und kreative Freiheit für ebendiese zu bewirken. Wie sieht es aktuell mit der kreativen Freiheit von Drehbuchautor*innen aus?

Annette Hess:
Alle Sender suchen mehr denn je nach Geschichten, nach Stoffen, nach Content – und je mehr Wertschätzung den Schöpfer*innen eben jenes Contents entgegengebracht wird, desto höher wird die Qualität dessen, was bei den Zuschauenden ankommt – um die es uns allen ja geht. Deshalb kämpft unsere Initiative auch weiterhin eisern für die angemessene Positionierung der Drehbuchautor*innen in der Branche. Wir sind die, die aus dem Nichts schöpfen. Und wenn zum Beispiel eine Autorin eine gute Idee für eine Serie hat, dann sollte die Person auch mitentscheiden dürfen, wer diese Vision inszeniert. Das ist mit manchen Vertreter*innen der Regiefraktion immer noch ein Streitpunkt, natürlich geht es da auch um Macht. Was Kontrakt 18 so besonders macht – und worum uns andere Gewerke beneiden – ist unsere Vernetzung. Wir haben ein gemeinsames Forum, wir tauschen unsere Erfahrungen untereinander aus und raten Kolleg*innen zu oder ab, mit wem sie zusammenarbeiten sollten.
Unabhängig von kreativem Mitspracherecht ist zudem die finanzielle Beteiligung an den Verkaufserlösen gerade ein wichtiges Thema. Ein großer Teil unserer Unterzeichner*innen hat aktuell Produktionen, die auf Netflix oder Prime verfügbar sind. Von mir zum Beispiel laufen da aktuell „Weißensee“ und „Ku’damm“, dafür sehe ich aber keinen Cent. Als ich die Verträge für „Weißensee“ gemacht habe, gab es quasi noch gar kein Netflix. Aber natürlich gibt es irgendjemanden, der jetzt an diesem Verkauf verdient. Da muss eine neue Transparenz geschaffen werden. Ich finde, es kann nicht sein, dass ich als Erfindern der Serie daran nicht beteiligt werde. Und das gilt auch für andere Gewerke – und für Produktionsfirmen selbst übrigens auch, die zum Beispiel von Streamingdiensten nicht erfahren, wie oft ihre Produktionen dort aufgerufen werden. Ein undurchsichtiges Millionengeschäft, was so nicht bleiben kann.

»Ich suche mir gerne die Schwächsten der Gesellschaft als Hauptfiguren aus.«

Katharina Weiß:
Je stärker unsere Sehgewohnheiten sich auf Serien fixieren, desto mehr Macht liegt auch bei den Autor*innen, die einer Figur ihre Seele gegeben haben. Den Prozess, einer Figur wirklich nahezukommen, haben Sie mit „Empathietraining“ beschrieben. Was bedeutet das? Und wie hat sich diese Arbeitsroutine auf Ihren Alltag ausgewirkt?

Annette Hess:
Das Wort klingt ein bisschen sehr technisch, aber es beschreibt folgende Dynamik sehr gut: Man lässt sich in seinen tieferen Gefühlsschichten von Menschen berühren, die man im gesamtgesellschaftlichen Kontext eigentlich verurteilt. Ich suche mir gerne die Schwächsten der Gesellschaft als Hauptfiguren aus, in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ beispielsweise sind das die Drogenabhängigen und die Verlorenen am Rande der Gesellschaft. In „Ku’damm“ dagegen waren das zum Beispiel junge unverheiratete Frauen in den 1950er Jahren, die nichts durften und nichts wert waren.

»Ich tauche gerne in scheinbar heile Welten ein – und suche dann nach den Rissen.«

Katharina Weiß:
Was einmal gegenwärtig war, ist nun Nostalgie. Ein bisschen leben Ihre Stoffe von dieser bittersüßen Zeitreise – und von einer poetischen Ästhetik, die vielen Menschen zu gefallen scheint. Wie ist die geformt worden?

Annette Hess:
Das ist eine interessante Frage. Ich bin zunächst einmal ein tief romantischer Mensch. Zudem bin ich eskapistisch veranlagt. Ich tauche gerne in scheinbar heile Welten ein – und suche dann nach den Rissen. Mir gefällt Schönheit, die gebrochen ist. Selbst eine so bedrückende Geschichte wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ hat für mich durch die Liebesgeschichte, durch den jugendlichen Leichtsinn oder das große Herz von Axel eine gewisse Schönheit. Durch die Zeilen hindurch fühlt man vielleicht meine Sehnsüchte und die Romantik, mit der ich an sich harte Stoffe und Thematiken schreibe. So fließt möglicherweise ein Teil davon mit in die Arbeit der Schauspieler*innen oder der Regisseur*innen ein.

»Grundsätzlich zieht mich alles an, was widersprüchlich ist.«

Katharina Weiß:
Von „Was nützt die Liebe in Gedanken“ über die „Ku’damm“-Serie bis zu Ihrem Romandebüt „Deutsches Haus“ haben mich persönlich in Ihren Stoffen immer wieder die komplexen Männercharaktere angesprochen, die Sie darin zeichnen. Fließen in diese Figuren eher eigene Erfahrungen oder eigene Ideale ein?

Annette Hess:
Ich war schon als Achtjährige oft in die Bösen verliebt, die Prinzen haben mich nicht interessiert. Ich erinnere mich noch an meine Enttäuschung bei „La Belle et la Bête“ von Jean Cocteau, wenn sich la Bête in diesen öden Schönling verwandelt. Ich fand die Bestie mit dem guten Herzen viel aufregender. Grundsätzlich zieht mich alles an, was widersprüchlich ist. Denn Widersprüchlichkeit schafft Reibung, das macht es spannend und davon lebe ich ja auch: Konflikte und Überraschungen machen eine Geschichte erst erzählenswert.

»Ich weiß aus meinen Recherchen, was junge Frauen damals dachten, was sie aushalten müssten.«

Katharina Weiß:
Für Aufruhr im Kontext einer männlichen Figur sorgte eine kreative Entscheidung bei der „Ku’damm“-Serie: Hauptfigur Monika, die in der ersten Staffel vom Industriellensohn Joachim Franck vergewaltigt wird, verzeiht ihm zunächst, und verliebt sich schließlich sogar in ihn, was am Ende der zweiten Staffel in einer Heirat der beiden mündet.

Annette Hess:
Zu diesem Handlungsstrang hat mich in der ersten Staffel eine Freundin inspiriert, die aufgrund verschiedener Gewalterfahrungen durch eine sehr schwere Zeit gegangen ist und sich mit dem Gedanken des Verzeihens stark auseinandersetzen musste. Ich weiß auch aus eigenem Erleben, welche Kraft man dafür aufwenden muss – und wie es sich doch oft auf lange Sicht auszahlt.
Da ich bei „Ku’damm 56“ eine Erzählzeit von fast fünf Stunden hatte, wollte ich mich trauen, so einen intensiven Bogen zu spannen: Nach dem Verbrechen und dem Schock lernt Monika nur langsam, sich selbst wieder zu spüren. In der Liebe zu Musiker Freddie kann sie schließlich wieder Spaß am Leben und ihrem Körper empfinden. Nach einer gewissen Zeit der Katharsis kommt schließlich eine Aussprache. Von diesem Punkt des ehrlichen Verzeihens aus haben sich beide Figuren stark weiterentwickelt, was in der Liebesgeschichte mündet, die viele Zuschauer*innen mochten und diskutierten. Dennoch tat es mir leid, dass einigen die kreative Entscheidung, Joachim und Monika einen Neuanfang als Liebespaar zu geben, negativ aufgestoßen ist. Und dafür, dass das jemand unmöglich findet, habe ich großes Verständnis. Aber man darf auch nicht vergessen, dass es in den 1950er Jahren durchaus Ehen gab, die mit einer Quasi-Vergewaltigung und daraus resultierender Schwangerschaft begonnen haben. Darüber spricht niemand gern, aber ich weiß aus meinen Recherchen, was die Unaufgeklärtheit der jungen Frauen damals angerichtet hat, was junge Frauen damals dachten, was sie aushalten müssten. Auch das wollte ich mit Monikas Schicksal erzählen.

»Wenn die Reflexion zu früh einsetzt, kommt die Geschichte nicht mehr aus dem Herzen, sondern aus dem Kopf.«

Katharina Weiß:
Haben Sie durch Ihre Arbeit schon mal einer Liebesgeschichte eine glückliche Wendung gegeben, die Ihnen selbst in der Realität versagt wurde?

Annette Hess:
Die Frage kann ich gar nicht richtig beantworten, da sie sehr ins Unterbewusste zielt. Was ich beschreiben kann: Ein Thema oder eine Figur faszinieren mich, ich gehe dem nach, tauche ein, gehe darin auf. Und beobachte manchmal auch, wie eine Ader wieder versiegt. Was ich in dieser ersten Zeit der Ideenfindung aber erst mal nicht tue, ist zu reflektieren, woher meine Faszination oder gewisse Einfälle kommen. Wenn die Reflexion zu früh einsetzt, dann ist man im theoretischen Bereich und kann die Geschichte nicht mehr lebendig erzählen. Dann kommt sie nicht mehr aus dem Herzen, sondern aus dem Kopf.
Aber bei jedem Stoff bemerke ich irgendwann, was das eigentlich mit mir zu tun hat. Ein Beispiel: Am Ende der ersten „Ku’damm“-Staffel zieht Monika aus und trennt sich damit von ihrer Mutter, der Tanzlehrerin Caterina Schöllack. Als ich zum ersten Mal den Rohschnitt des dritten Teils gesehen habe, musste ich heulen wie ein Schlosshund. Erst in diesem Moment ist mir aufgegangen, dass das gerade mein persönliches Thema war, weil meine Tochter zuhause ausgezogen ist. Ich hätte vorher nie gedacht, dass diese Trennung so brutal sein würde. Sie wohnt in Berlin und wir sehen uns oft, wenn ich hier bin. Aber der Schmerz damals war ganz schrecklich für mich.

»Ich lausche tausendmal lieber einem Gespräch in der U-Bahn, als eine neue Netflix-Serie zu schauen.«

Katharina Weiß:
Wie sehr sind Ihre Figuren Denkmäler der Menschen, die Ihnen in Ihrem Leben begegnet sind?

Annette Hess:
Die Mutter bei „Ku’damm“, Caterina Schöllack, ist meiner Großmutter nachgezeichnet – was aber unbewusst passiert ist. Ich habe zwei Cousinen in der Schweiz, die ich nur ganz selten sehe. Als die dort die Serie gesehen haben, riefen sie am nächsten Tag bei meinen Eltern an und meinten: „Das ist doch Oma!“ Da hatte ich Gänsehaut.
Ich denke, ich lasse all meine Begegnungen mit Menschen letztlich in meine Figuren einfließen. Ich bin einfach fasziniert von Menschen, das wird auch eher mehr als weniger, ich bin neugierig auf Lebenswege, Familienstrukturen. Ich will hinter Fassaden blicken. Ich lausche tausendmal lieber einem Gespräch in der U-Bahn, als eine neue Netflix-Serie zu schauen. Aber nicht, weil ich Autorin bin und Stoff brauche, sondern andersherum ist es richtig: Wegen meiner Faszination für Menschen bin ich überhaupt Autorin geworden.