Reportage — Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof

»Jeden Tag hoffe ich, dass der Krieg aufhört«

So sieht Flucht vor dem Krieg innerhalb Europas aus: Chefredakteurin Katharina Weiß und Fotografin Frederike van der Straeten haben am späten Abend des 15. März den Alltag am Berliner Hauptbahnhof beobachtet. Dort sind sie mit Menschen ins Gespräch gekommen, die der russische Angriffskrieg aus der Ukraine getrieben hat. Und mit Menschen, die vor Ort sind, um zu helfen.

18. März 2022 — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Helfer*innen, deren Wangen vor Solidarität und dem Gefühl glühen, die Situation für Geflüchtete ein kleines bisschen erträglicher zu machen. Pop-up-Infostände, die speziell für BPoc, LGBTIQ* und andere diskriminierte Menschengruppen da sein wollen, aber von behördlichen Strukturen eher vernachlässigt werden. Und Kuscheltierberge für geflüchtete Kinder, denen in den letzten Tagen ein großes Stück ihrer Kindheit genommen wurde. Das ist aktuell die Situation am Berliner Hauptbahnhof.

Dazu kommen Wärmedecken-Lieferungen, die wegen Brandschutzbestimmungen nicht angenommen werden dürfen. Durchsagen, die nach vermissten Minderjährigen suchen – dieses Mal ist es ein Mädchen, das anscheinend Irina heißt. Und der ständige Mangel an Sandwiches, Wasserflaschen oder Hygieneartikeln.

»Die Regierende Bürgermeisterin hätte sich für eine Nachtschicht am Hauptbahnhof eintragen können.«

Während Franziska Giffey am 14. März im Kraftwerk Berlin die Fashion Week eröffnete, stand Studentin Marina Laschke (26) vier S-Bahn-Stationen weiter vor dem Hauptbahnhof, um den aus der Ukraine geflüchteten Menschen Transporte zu vermitteln. In einer Pause sah sie auf Instagram, wie die Regierende Bürgermeisterin die Fragen einer Fashion-Influencerin beantwortete. „Das waren Fragen wie Was würden Sie Putin gerne sagen? oder so“, erinnert sich Marina. „An sich ja ok, auch die Designer haben ihre Presse verdient. Aber die Bürgermeisterin hätte ja zuerst dort Champagner trinken und sich im Anschluss für eine Nachtschicht am Hauptbahnhof eintragen können. Aber hier ist es vermutlich nicht so glamourös. Dafür…“, sie sucht nach Worten, „fühlt es sich hier bedeutend an.“

»Jeden Tag hoffe ich, dass der Krieg aufhört.«

Wer mit den Ankommenden, vor allem sind es Frauen, ins Gespräch kommt, der versteht sofort, was Marina meint. Aliona Rybak (37) zum Beispiel versucht, sich nach Düsseldorf durchzuschlagen. Als wir sie im Zelt der Berliner Stadtmission treffen, unterhält sie sich gerade mit einem Mädchen, das nur wenig älter ist als ihr Sohn. 17 Jahre ist er alt, deshalb durfte er ausreisen. Im Oktober wird er 18 – ein paar Monate, die vielleicht sein Leben gerettet haben. Sein Vater musste zurückbleiben, um zu kämpfen. „Schon in den Tagen, bevor der Krieg ausbrach, konnte ich schlecht schlafen. Und jetzt spüre ich immerzu diese Angst. Jeden Tag hoffe ich, dass der Krieg aufhört.“ Ihr Mann verfolgt die Nachrichten kaum noch. Sie hingegen liest und liest und liest. Die Informationsflut ändert nichts an ihrem festen Glauben daran, schon bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Eine Wunschvorstellung, die aus der Perspektive vieler Helfer*innen für die meisten dieser Menschen wohl eher nicht so schnell zur Realität werden wird.

Aliona Rybak (37) ist mit ihrem 17-jährigen Sohn aus der Ukraine geflohen. Ihr Ziel: Düsseldorf.

»Mein Herz blutet, ich vermisse meinen Mann so sehr!«

Ein paar Meter weiter lernen wir Marina Usik (41) kennen, die aus verständlichen Gründen nicht fotografiert werden will: Ihr Kajal ist leicht verwischt – von der Erschöpfung, vielleicht auch von den Tränen. Neben ihr sitzt eine fahle, ältere Dame. Mit eingefallenen Wangen und müdem Blick hört sie ihrer Tochter beim Reden zu: „Mein Herz blutet, ich vermisse meinen Mann so sehr. Ich bin mir meiner Mutter und meiner Tochter hier und warte ungeduldig auf den Frieden.“ Wie die meisten Ankommenden bedankt sie sich für die Hilfe. Volontäre hätten ihr gestern ein Hotelzimmer organisiert, sagt Marina, nun wartet sie auf ihre Weiterreise nach Frankreich.

Immer wieder betont sie, wie sehr sie sich Frieden wünscht. Angesichts der Nachrichtenlage fällt es einem schwer, danach zu fragen, für wie realistisch sie diese Entwicklung hält. Wäre der Krieg nicht über sie hereingebrochen, hätte sie in diesen Tagen eine Feier für ihre Tochter ausgerichtet, die nach Abschluss der 9. Klasse auf eine weiterführende Schule gekommen wäre. „Und ich hatte auch geplant, Urlaub zu machen und zu verreisen“, lässt sie uns wissen. Dann blickt sie sich im Zelt der Stadtmission um und sagt zynisch: „Aber nicht auf diese Weise.“

Einer, der seit wenigen Tagen Verantwortung an zentraler Stelle übernimmt, ist Robert Michaelis (41). Als Schichtleiter koordiniert er unter anderem die ankommenden Gruppen von Geflüchteten, die Arbeit der vielen Freiwilligen sowie all die Sach- und Lebensmittelspenden, die täglich am Hauptbahnhof abgegeben werden. Darüber hinaus ist er dafür verantwortlich, die vor dem Zelt stehenden Journalist*innen in Empfang zu nehmen und sie inhaltlich in die Lage vor Ort einzuführen. Das britische Fernsehen war heute schon zu Besuch. Wie die Deutschen mit der Geflüchteten-Situation umgehen, interessiere mittlerweile viele ausländische Medien, sagt Robert.

»Wir versuchen, die Menschen individuell abzuholen.«

Auch wenn die Herausforderungen nicht weniger würden, sei er stolz auf die vielen Ehrenamtlichen, lässt uns Helfer Robert wissen. „Wir versuchen, die Menschen individuell abzuholen.“ Aktuell gäbe es aber noch Probleme mit der Weiterverteilung. „Es mangelt vor allem an Übernachtungsplätzen. Viele wollen gar nicht dauerhaft in Berlin bleiben, benötigen aber bis zur Weiterreise eine Unterkunft. Wir mussten jetzt schon mehrmals Menschen für eine Nacht in die Messe zur Übernachtung bringen. Dort haben sie keine Duschen“, sagt Robert, während wenige hundert Meter entfernt im Untergeschoss gerade drei Aufenthaltszüge geparkt sind, in denen weitere Reisende versorgt werden.

„Zum Glück können wir mittlerweile auch mit Hotels wie dem Estrel oder dem Sheraton kooperieren“, fügt er an. Dennoch benötige die humanitäre Lage vor Ort weiterhin jede Menge Engagement von Privatpersonen. Dabei könne sich jede Person individuell und dem eigenen Zeitplan entsprechend einbringen. Viele Ehrenamtliche, mit denen wir an diesem Tag sprechen, sind selbst zum allerersten Mal dabei.

Allmählich ordnet sich auch das strukturlose Chaos, mit dem die Ersthelfer*innen zu Beginn der ersten Geflüchteten-Züge noch klarkommen mussten. Das liegt insbesondere an der verstärkten Präsenz diverser Institutionen: Dutzende Bahner*innen, BVG-Sicherheitsleute und Vereine sind zusammen mit vielen Partnern rund um die Uhr im Einsatz, um die ankommenden Ukrainer*innen zu unterstützen.

Durch diese verstärkte Präsenz wird allerdings auch der Zugang für Berichterstatter*innen in gewisser Weise eingeschränkt. Für die Presse ist es vor Ort nicht mehr ohne Weiteres möglich, sich in allen Bereichen frei zu bewegen, wie es noch vor wenigen Tagen der Fall war. Dabei liegt es im Interesse der Öffentlichkeit, genau zu beobachten, wie die involvierten Institutionen mit so vulnerablen Gruppen wie Frauen und Kindern umgehen.