Interview — Tina Pfurr

»Ihr könnt mich alle mal, ich mach‘ das trotzdem«

Seit 2011 leitet sie das Ballhaus Ost, nun hört sie auf: Schauspielerin und Performance-Künstlerin Tina Pfurr blickt im Interview zurück auf zwölf außergewöhnliche Ballhaus-Jahre und ein Vierteljahrhundert Theaterarbeit. Ein Gespräch über patriarchale Machtstrukturen, toxische Körperideale und eine neue SWR-Sitcom aus einem Fitnessstudio, in dem wenig geschwitzt und sehr viel diskutiert wird.

8. September 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Osman Balkan

Es gibt Menschen, die haben nicht nur einen Job, sondern zwei. Manche haben sogar drei. Und Tina Pfurr hat vier. Mindestens. Denn die 42-Jährige arbeitet als Schauspielerin, Performance-Künstlerin, Hörspielsprecherin und leitet ein Theater. Okay, genau genommen sind es „nur“ dreieinhalb, denn sie teilt sich die künstlerische Leitung des Ballhaus Ost, einer freien Berliner Theaterspielstätte, mit ihrem Kollegen Daniel Schrader.

Geboren und aufgewachsen ist Tina Pfurr in Kassel. Nach dem Abitur und einem Jahr Regie- und Dramaturgie-Assistenz am Jungen Theater Göttingen zog sie 2001 nach Berlin. Hier stürzte sie sich nicht nur in ein Germanistik- und Philosophiestudium, sondern arbeitete bald auch mit dem renommierten Autor, Dramaturg und Regisseur René Pollesch zusammen. Seitdem war sie auch in etlichen Filmen und Fernsehserien zu sehen, spielte in diversen Theaterproduktionen, entwickelte ihre eigenen Performances und lieh einem halben Dutzend Hörspielen ihre Stimme. Daneben machte sie – zusammen mit Daniel Schrader und vielen anderen – das Ballhaus Ost zu einem national wie international anerkannten Ort für freies Theater.

Sein Zuhause hat das Ballhaus in der Pappelallee Nummer 15 im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, genauer gesagt in der alten Feierhalle der Freireligiösen Gemeinde. Anfang des 20. Jahrhunderts neben dem Gemeindefriedhof errichtet, fanden in dem neuromanischen Backsteinbau fast 30 Jahre lang Jugendweihen, Trauungen, Trauerfeiern und sogenannte Sonntagserbauungsvorträge statt.

Nach der Auflösung der Gemeinde durch die Nazis im Jahr 1934 wurde das Gebäude samt Friedhof enteignet, nach dem Krieg nutzte man die Halle gastronomisch und taufte sie „Casino des Handwerks“. In den wilden Neunzigern wurde der Bau zu einem Billardsalon und Club umfunktioniert, aus dem historischen Friedhof wurde ein öffentlicher Park. Erst 2006 gründeten die Regisseure Uwe Moritz Eichler, Philipp Reuter und die Schauspielerin Anne Tismer hier das Ballhaus Ost, das sich heute als Spielstätte für freies Theater, Performance, Tanz, Musiktheater und Neue Musik versteht.

Seit 2011 ist Tina Pfurr hier als künstlerische Leiterin tätig – nun hat sie entschieden, das Ballhaus zum Jahresende zu verlassen. Das allein wäre schon Anlass genug für ein Interview. Aber da sie zudem seit heute in der neuen SWR-Fitcom „Sweat“ zu sehen ist (einer Sitcom, die in einem Fitnessstudio spielt), gibt es umso mehr Gesprächsbedarf.

Wir treffen die Frau mit den vier Jobs, von denen einer bald am Nagel hängt, an einem Sonntagnachmittag im Ballhaus Ost – ein bisschen im Geiste der sonntäglichen Erbauungsvorträge, die es einst hier gab, bevor die Nazis kamen. Eine mahnende Erinnerung, vor allem für die heutige Zeit.

»Ich kehre dem Theater nicht den Rücken. Ich mache nur eine Pause.«

MYP Magazine:
Tina, zum Jahresende wirst du die künstlerische Leitung des Ballhaus Ost abgeben – nach über zwölf Jahren. Warum hörst du auf?

Tina Pfurr:
Ach, in meinem Leben ist es einfach mal wieder Zeit, etwas anderes zu machen. Ich bin ein eher rastloser Mensch und brauche immer wieder neue Herausforderungen. Und was das Ballhaus betrifft, ist meine Geschichte hier so ziemlich auserzählt. Aber das ist auch völlig okay. Wir haben in den letzten zwölf Jahren an diesem Ort so viel aufgebaut und angeschoben, dass ich mein Amt guten Gewissens abgeben kann.

MYP Magazine:
Hast du schon eine Idee, was danach kommen soll?

Tina Pfurr: (lacht)
Erst mal ein bisschen Pause! Ich befinde mich seit vielen Jahren in einem Zustand, in dem ich ständig an diversen Dingen gleichzeitig arbeite. Ich frage mich schon eine ganze Weile, wie das alles auf Dauer funktionieren soll. Gerade in den letzten Monaten habe ich neben dem Job im Ballhaus so viel gedreht, dass ich das Gefühl hatte, den vielen Aufgaben nicht mehr in dem Maße gerecht werden zu können, wie ich das gerne würde. Daher möchte ich ab Januar einfach nur drehen und schauen, was noch so passiert. Aber ich kehre dem Theater nicht den Rücken. Ich mache nur eine Pause.

»Wir haben hier jahrelang praktisch zu viert ein ganzes Theater geschmissen.«

MYP Magazine:
Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Worauf bist du besonders stolz, wenn du auf dieses Kapitel zurückblickst? Und was wirst du am meisten vermissen?

Tina Pfurr:
Besonders stolz bin ich auf das, was wir aus dem Ballhaus gemacht haben. Das war zwar schon immer ein kleiner, feiner Ort, an dem viel los war, aber für den es kaum Geld gab. Wir haben hier jahrelang praktisch zu viert ein ganzes Theater geschmissen – mein Leitungskollege, ich und zwei Techniker:innen. Doch dadurch, dass wir das Programm anders kuratiert und mit viel mehr Leuten zusammengearbeitet haben, konnten wir uns im Laufe der Jahre inhaltlich und personell erweitern und uns Stück für Stück etwas aufbauen. Heute kann ich sagen, dass wir das Ballhaus Ost zu einem sehr anerkannten Ort gemacht haben. Und dank einer vierjährigen Konzeptförderung des Berliner Senats hat dieser Ort mittlerweile elf Festangestellte.

»Nur weil das Theater nach außen progressiver wirkt, heißt das noch lange nicht, dass wir hier nicht auch unter eingefahrenen, patriarchalen Strukturen leiden.«

MYP Magazine:
In Deutschland werden weniger als ein Viertel aller Theater von Frauen geleitet. Woran liegt das? Versteht sich das Theater nicht als Ort des gesellschaftlichen Fortschritts?

Tina Pfurr:
Ach was! Nur weil das Theater nach außen progressiver wirkt als andere Berufsbereiche, heißt das noch lange nicht, dass wir hier nicht auch unter eingefahrenen, patriarchalen Strukturen leiden, die sich nur langsam und mit Mühe auflösen. Und da schließe ich die großen Stadttheater ausdrücklich mit ein. Und so ist es leider immer noch so, dass es in unserer Branche zwar viele Dramaturginnen und Kostümbildnerinnen gibt, aber immer noch sehr wenige Frauen in Leitungspositionen.
Als Daniel und ich vor zwölf Jahren gemeinsam die künstlerische Leitung übernommen haben, war das in der klassischen Theaterwelt dreifach spektakulär. Erstens, weil wir beide erst Anfang 30 waren. Zweitens, weil wir als Duo angetreten sind. Und drittens, weil sich in dieser sogenannten Doppelspitze eine Frau befand. Für die freie Theaterszene war das zwar nicht ungewöhnlich – da gab es schon immer mehr Frauen und man hatte schon früh verstanden, dass eine Struktur, in der allein eine Person die Macht beziehungsweise das Sagen hat, nicht funktioniert. Aber in den großen Stadttheatern ist das bis heute nicht angekommen.

»Was sich verbessert hat: dass mehr Frauen da sind, die auch mehr zu sagen haben.«

MYP Magazine:
Die Theater-, aber auch die Filmbranche hat sich vor allem in den letzten Jahren stark gewandelt, einerseits durch gesellschaftspolitische Bewegungen wie #ActOut oder #MeToo, andererseits bedingt durch Krisen wie Corona. Wie hast Du selbst die Entwicklung der letzten 20 Jahren erlebt? Was hat sich zum Besseren verändert?

Tina Pfurr:
Was sich tatsächlich verbessert hat: dass mehr Frauen da sind, die auch mehr zu sagen haben. Das konnte ich an meinem eigenen Werdegang erleben. Ein Beispiel: Wenn wir – vor allem in den ersten Jahren unserer Dienstzeit – eine Einladung zu einem Panel erhalten haben, war die in der Regel an Daniel gerichtet, den männlichen Teil des Leitungsduos. Diese Praxis hat sich mit der Zeit geändert. Allerdings bin ich mir auch heute nie ganz sicher, ob es an irgendeiner Quote oder doch an meiner Kompetenz liegt, dass ich als Frau auf so ein Panel muss. Oft ist mir das aber auch echt egal. Hauptsache, es gibt vor Ort eine weibliche Stimme.
Darüber hinaus sehe ich, dass heute mehr Stimmen gehört werden als noch vor 20 Jahren; dass Leute auch in anderer Aufstellung Theater machen; und dass immer mehr Menschen aus den performativen Künsten oder den angewandten Theaterwissenschaften an die Bühnen kommen – statt wie früher aus den Germanistik- oder Regiestudiengängen. Dadurch hat sich über die Jahre die Machart und Erzählweise von Theater stark verändert. Die Leute wissen heute besser, was sie wollen, und haben mehr Ansprüche an sich und ihre Geschichten.

MYP Magazine:
Und wo gibt es noch offene Baustellen?

Tina Pfurr:
Neben den veralteten Strukturen ist vor allem das Thema Geld ein großes Problem. Gerade an freien Theatern erleben wir immer noch, wie sich die Theaterschaffenden selbst ausbeuten – weil einfach die finanzielle Grundlage für ihre Arbeit fehlt oder unzureichend ist. Im Ballhaus Ost zum Beispiel gleichen wir zwar gerade die Löhne an aktuelle Tarifniveaus an. Aber leider ist es in der Branche nach wie vor bittere Realität, dass viele Produktionen gerade einmal Mindesthonorare zahlen können.

»Wir dürfen Nazis in unseren Häusern keine Plattform bieten.«

MYP Magazine:
In Deutschland müssen wir gerade erleben, wie eine rechtsextreme und demokratiefeindliche Partei quer durch die Gesellschaft an Zustimmung gewinnt. Ihr menschenverachtendes Gedankengut scheint sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Welchen Handlungsauftrag muss die deutsche Theaterlandschaft daraus für sich ableiten – das Ballhaus Ost mit eingeschlossen?

Tina Pfurr:
Es ist auch im Theater spürbar, dass der Druck und der Handlungsbedarf größer werden. Wir – und damit meine ich jede:n Einzelne:n – dürfen Nazis in unseren Häusern keine Plattform bieten. Wir müssen in relevanten Gesprächen und Diskussionen unsere Stimme erheben und dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen uns positionieren, solidarisieren und zusammenschließen, um gemeinsam gegen diesen Drift nach rechts standzuhalten. Das geschieht zum Beispiel durch Veranstaltungen, die von den Theaterhäusern gemeinsam organisiert werden. Oder durch Zusammenschlüsse mit Initiativen wie DIE VIELEN: ein Verein, der bis 2022 aktiv war und sich für eine offene, solidarische, vielgestaltige und demokratische Gesellschaft eingesetzt hat – ein wichtiger Impulsgeber für die Kunst- und Kulturszene.
Aus diesem Grund kann ich keinen konkreteren Auftrag für die Theaterlandschaft ableiten, als einfach weiter zu existieren und kreativen Menschen eine Bühne zu geben, die etwas zu erzählen haben. Hier im Ballhaus Ost ist das besonders wichtig, da wir selbst keine Stücke produzieren. Wir bieten Künstler:innen lediglich einen Ort, an dem sie relevante Themen behandeln können und dies auch tun. Die beängstigende Zunahme von Menschenhass und Nationalismus in unserer Gesellschaft ist übrigens so ein Thema.

»Die Theaterwelt versucht oft, besonders intellektuell daherzukommen.«

MYP Magazine:
Welche Stücke, Filme oder TV-Formate, die Du in der letzten Zeit gesehen hast, geben Dir in der aktuellen Lage Hoffnung?

Tina Pfurr: (grinst)
Muss ich jetzt „Barbie“ sagen?

MYP Magazine:
Du kannst natürlich „Barbie“ sagen.

Tina Pfurr:
Mir fällt da jetzt gar nicht unbedingt eine Serie oder ein Format ein. Es gibt aber viele Menschen und Gruppen, die mir gerade Hoffnung machen. Weil sie sich besonders ausführlich mit den Dingen beschäftigen, mit denen man sich in unserer Welt beschäftigen muss. Überhaupt machen mir alle Leute Hoffnung, die noch in der Kulturbranche arbeiten, vor allem im Theaterbereich.

MYP Magazine:
Die Themen, aber auch die Ensembles der vielen Theaterbühnen in Deutschland wurden über die letzten Jahre zunehmend diverser. Das Publikum dagegen wirkt in den meisten Fällen immer noch sehr homogen: Theater scheint nach wie vor ein Ort für das weiße Bildungsbürgertum zu sein. Wie kann es Eurer Branche gelingen, ein weniger exklusiver Ort zu sein?

Tina Pfurr:
Theater ist immer noch irrsinnig elitär, das stimmt. Für eine einzelne Karte zahlt man schnell mal 30, 40 Euro. Das ist für viele Menschen wahnsinnig viel Geld – und auch ich würde mir bei den Preisen zweimal überlegen, ob und wann ich ins Theater gehe. Darüber hinaus versucht die Theaterwelt oft, besonders intellektuell daherzukommen. Dabei braucht es das gar nicht, man kann viele Geschichten auch einfacher erzählen. Alleine deshalb ist dieser „Ich gehe ins Theater“-Lifestyle für viele Menschen nicht sexy. Und ganz ehrlich? Das kann ich verdammt gut nachvollziehen. Ich selbst war zum Beispiel in letzter Zeit mehrfach in großen Stadttheatern und weiß, warum mich das eigentlich nicht interessiert und mir das Publikum dort zu homogen ist.
Bitte nicht falsch verstehen: Natürlich kann man auch aus Stadttheatern etwas mitnehmen und ich will, dass so etwas weiter stattfindet. Dennoch glaube ich, dass Theater mehr Spaß macht, wenn es zugänglicher und ungezwungener ist. Wie etwa in der freien Theaterszene, wo man in der Regel nicht den puren klassischen Stoff behandelt – oder sich mit diesem inhaltlich anders auseinandersetzt.

»In Kassel gab es für mich zu wenig Erzählung.«

MYP Magazine:
War es am Ballhaus Ost eigentlich jemals ein Problem, dass du eine Westdeutsche bist?

Tina Pfurr: (lacht)
Nee, das haben hier auch alles Wessis gegründet! Aber an der Volksbühne war das anfangs ein Thema, weil ich dort die einzige Westperson unter Ostberliner:innen war. Aber irgendwann hat sich das auch gelegt.

MYP Magazine:
Apropos Westdeutschland: Du bist 1980 in Kassel geboren und auch dort aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast Du an die Achtziger- und Neunzigerjahre? Was war das für ein Land – aus gesellschaftlicher, politischer und kreativer Perspektive?

Tina Pfurr:
Hmm, daran habe ich nicht wirklich eine Erinnerung. Auf jeden Fall war es immer so, dass meine Eltern mir ein Gefühl von Freiheit gaben – und davon, dass im Leben sehr viel möglich ist.

MYP Magazine:
Dabei ist es nicht unbedingt gewöhnlich, dass Kinder im Elternhaus auf Zustimmung stoßen, wenn sie sagen, sie möchten jetzt Theater machen oder Schauspielerei studieren.

Tina Pfurr: (grinst)
Das habe ich denen ja erst mal nicht gesagt. Aber im Ernst: Meine Eltern haben immer voll und ganz hinter meinen beruflichen Entscheidungen gestanden. Aber da ich nicht aus einem reichen Elternhaus komme, habe ich sehr früh angefangen, neben der Schule zu arbeiten. Ich wollte finanziell so früh wie möglich auf eigenen Beinen stehen. Aus diesem Grund hatten meine Eltern zu meinem Berufsweg theoretisch nicht viel zu sagen, weil sie dafür ja nicht zahlen mussten – obwohl sie das auch gerne getan hätten.
Um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ich hatte in meiner Jugend zunehmend das Gefühl, dass mir in Kassel alles zu eng wurde. Als piefig würde ich die Stadt zwar nicht bezeichnen, viel los ist da aber trotzdem nicht. Außer vielleicht, wenn gerade Documenta ist. Als ich etwa 17, 18 war, habe ich gespürt, dass ich da schnell raus muss. In Kassel gab es für mich zu wenig Erzählung. Und zu wenig zu tun.

»In Berlin habe ich erst mal in einer Bäckerei Brötchen geschmiert – morgens um vier, wenn alle anderen nach Hause torkelten.«

MYP Magazine:
Du bist 2001 auf gut Glück nach Berlin gezogen. Was war das für eine Zeit in Deinem Leben?

Tina Pfurr:
Ich habe nach dem Abi erst mal in einem Göttinger Theater gearbeitet. Das war ziemlich krawallig… im Gegensatz zu Kassel war da richtig was los.

MYP Magazine:
Und das in Göttingen.

Tina Pfurr:
Ja, und das in Göttingen. Damals waren dort ständig Popliteraten wie Alexa Hennig von Lange oder Rainald Goetz zu Gast, deren Texte bei uns inszeniert wurden. Da ich schon als Teenager immer nach Berlin wollte, habe ich Anfang der 2000er unter anderem an diversen Berliner Schauspielschulen vorgesprochen. Mein Glück war, dass ich vom Göttinger Theater eine Dramaturgin kannte, die in Berlin eine Wohnung hatte. Dort konnte ich eine Woche lang übernachten. In dieser Woche habe ich durch Zufall jemanden kennengelernt, der seine Wohnung loswerden wollte. Und dann habe ich einfach gesagt: „Ich nehm‘ die.“ Kurz darauf habe ich den Mietvertrag unterschrieben, bin hierher gezogen und habe dann erst mal in einer Bäckerei in der Friedrichstraße Brötchen geschmiert – morgens um vier, wenn alle anderen aus den Clubs nach Hause torkelten.

»Bei Pollesch habe ich gelernt, dass es bei Theater nicht um Perfektion geht, sondern darum, Inhalte voranzutreiben.«

MYP Magazine:
Bereits in deinem ersten Berlinjahr hast du angefangen, mit dem berühmten Autor, Dramaturg und Regisseur René Pollesch zusammenzuarbeiten. Wie kam es dazu?

Tina Pfurr:
Eines Tages rief mich die Dramaturgin aus Göttingen an, die mittlerweile im künstlerischen Betriebsbüro der Berliner Volksbühne arbeitete. Sie sagte: „Wir haben in anderthalb Wochen Premiere und unsere Souffleuse ist krank geworden. Hast du nicht Lust, das zu übernehmen? Das hast du ja eh schon mal gemacht.“ Und so bin ich da reingerutscht.

MYP Magazine:
Als René Polleschs „Stamm-Souffleuse“ hast du neben den Schauspieler:innen auf der Bühne gestanden – als gleichwertiger und vor allem sichtbarer Teil des Geschehens. Wie hat Dich diese insgesamt 17-jährige Zusammenarbeit geprägt – künstlerisch, beruflich und privat?

Tina Pfurr:
Geprägt haben mich diese rund 30 Produktionen in vielerlei Hinsicht. Unter anderem habe ich gelernt, dass es bei Theater nicht um Perfektion geht, sondern darum, Inhalte voranzutreiben. Dafür ist die Souffleusen-Position ein gutes Beispiel. Warum sollte man sie verstecken? Sie ist ebenso ein Teil der Inszenierung. Und den sollte man dem Publikum nicht vorenthalten. Bei Pollesch stand immer die gemeinschaftliche Arbeit im Zentrum. Alle hatten die Möglichkeit, sich einzubringen und an der Diskussion zu beteiligen, egal ob Schauspielerin, Praktikant oder eben Souffleuse.
Überhaupt habe ich bei Pollesch eine Theater-Philosophie kennengelernt, die ich noch immer gut finde. Da geht es nicht darum, einen alten, klassischen Text zu reproduzieren – sondern andere Formen von Theater zu erschaffen. Die des Aushaltens zum Beispiel, bei Stücken, die sehr lange sind. Man muss wissen, dass es Anfang der 2000er noch etwas total Neues war, auf der Bühne diese enormen Textmassen zu wälzen, bei denen man nicht hinterherkommt und sich dauernd fragt, was das soll. Bei Pollesch gelingt es einem erst nach und nach, sich an einen interessanten Gedanken anzudocken und diesen im Laufe des Stückes zu verfolgen. Wenn man an diesem Punkt angekommen ist, versteht man, was die Texte mit dem eigenen Leben zu tun haben – so ging es mir auch. Davon zehre ich noch heute.

»Ich war bisher immer diejenige, die alle Leute im Freundeskreis informieren muss, dass wieder jemand gestorben ist.«

MYP Magazine:
Mit deinem eigenen Leben hat auch eine performative Arbeit zu tun, die du vor zwei Jahren der Öffentlichkeit vorgestellt hast. »I just called to say… sHe’s dead.« besteht aus fünf Video-Miniaturen, in denen du dich intensiv mit den fünf Phasen der Trauer auseinandersetzt. Was genau war dafür der Auslöser?

Tina Pfurr:
Die Tatsache, dass in meinem Freundeskreis in den letzten 20 Jahren ungewöhnlich viele Personen ums Leben gekommen sind – und viele nicht auf natürliche Art und Weise. Das ist für mich ein riesengroßes Thema, denn ich war oft diejenige, die man als erste anruft – und die dann alle Leute im Freundeskreis informieren muss, dass wieder jemand gestorben ist.
Ich habe all die Jahre einen Weg gesucht, mit dieser Belastung umzugehen und das Erlebte mit anderen zu teilen – mit Leuten aus meinem eigenen Umfeld, aber auch mit Fremden. Als die Performance vor zwei Jahren online präsentiert wurde, bin ich auf eine sehr große Resonanz gestoßen. Viele Menschen haben mir ihren Dank dafür ausgedrückt, dass ihnen für dieses sensible Thema ein Ort geboten wurde, an dem sie selbst mittrauern konnten. Oder dass es ihnen abgenommen wurde, mit einem Baseballschläger auf dieses Thema draufzuschlagen, wie es in einem der Videos zu sehen ist.

»Ich mag es viel mehr, die Alltagskomplexität eines normalen Menschen sichtbar zu machen, als irgendeine unrealistische, Indiana-Jones-artige Heldenfigur zu spielen.«

MYP Magazine:
In den letzten zwei Dekaden hast du nicht nur an und in unzähligen Theaterproduktionen mitgewirkt, sondern warst auch in diversen Serien und Filmen zu sehen. Dabei tauchst du mit Deinen Figuren immer wieder in die Lebenswirklichkeiten von Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Milieus ein. Was reizt Dich so an Stoffen, die im normalen Alltag verortet sind und die Seele des „kleinen Mannes“ bzw. der „kleinen Frau“ sezieren?

Tina Purr:
Weil mich das am meisten interessiert! Ich interessiere mich generell für das, was das Leben ausmacht. Dazu gehört übrigens auch der Tod – nur leider redet unsere Gesellschaft über dieses Thema nicht so gerne. Dabei wäre es so wichtig, sich darüber mehr auszutauschen.
Was meine Rollen angeht, mag ich es tatsächlich viel mehr, die Alltagskomplexität eines normalen Menschen sichtbar zu machen, als irgendeine unrealistische, Indiana-Jones-artige Heldenfigur zu spielen. Im normalen Leben passiert doch eh schon genug. Ich selbst finde Filme spannend, die von oben in irgendeine Stadt reinzoomen, dort für einen Moment das Leben von normalen Menschen beleuchten und deren Geschichten erzählen.

»Wenn ich heute auf die deutsche Comedy-Szene schaue, sehe ich eine helle und eine dunkle Seite der Macht.«

MYP Magazine:
Im Jahr 2008 hast du eine Rolle in der Comedy-Serie „Torstraße intim“ übernehmen, die auf der damals noch jungen Online-Plattform YouTube veröffentlicht wurde. In einem Tagesspiegel-Artikel von damals heißt es, diese Art von Humor habe es zuvor in deutschen TV-Serien eher selten gegeben. Das Genre sei hierzulande nicht für Experimente offen, daher sei die Serie gleich fürs Internet konzipiert worden. Hat sich das Humorverständnis der Deutschen mittlerweile entspannt?

Tina Purr: (lacht)
Es ist noch immer eine Katastrophe, dass „Torstraße intim“ nicht erfolgreich wurde – wir waren einfach zu früh…
Ob man das Humorverständnis der Deutschen wirklich entspannt nennen kann, weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat es sich verändert – nicht zuletzt durch die Vielzahl der Medien und Plattformen, die es heute gibt. 2008 konnten wir gerade mal auf MySpace und YouTube zurückgreifen, das damals noch in den Kinderschuhen steckte. Hätte es damals schon TikTok gegeben, wäre unsere Serie vielleicht viel eher durchgestartet.
Wenn ich heute auf die deutsche Comedy-Szene schaue, sehe ich eine helle und eine dunkle Seite der Macht: Auf der hellen Seite stehen Comedians, die sich in ihren Formaten mit dem normalen Leben von Menschen auseinandersetzen. Auf der dunklen Seite findet man dagegen Konzepte, bei denen es die ganze Zeit um nichts anderes geht, als Leute zu mobben und auf ihnen herumzuhacken…

MYP Magazine:
Hast du ein Beispiel?

Tina Pfurr:
Ich denke da etwa an dieses stumpfe „Ich rede dauernd abschätzig über Frauen“-Zeug. Von diesen Comedians, bei denen es immer nur darum geht, eine bestimmte Gruppe schlecht zu machen, gibt es in Deutschland echt viele. Oder besser gesagt zu viele. Dass es auch anders geht, zeigen die vielen wirklich talentierten Komiker:innen, die es in Deutschland ebenfalls gibt – und die oft auch sehr gute Schauspieler:innen sind. Wie zum Beispiel Anke Engelke.

»Die Charaktere wirken wie ganz normale Leute – und nicht wie langweilige Standard-Schönheiten.«

MYP Magazine:
Mit deiner Rolle in der neuen SWR-Serie „Sweat“ bist du erneut in einer deutschen Comedy-Serie zu sehen, die speziell fürs Internet entwickelt wurde – genauer gesagt für die Mediathek, die es Ende der Nullerjahre auch noch nicht gab. In der Serie spielst du die Figur Ezra, die als Stammkundin ständig im Fitnessstudio „Perle“ herumhängt. Was hat Dich an dem Format gereizt?

Tina Purr:
Ich finde „Sweat“ vor allem aus zwei Gründen interessant. Erstens, weil es in einem Fitnessstudio spielt – soweit ich weiß, gab es das zuvor noch nicht, bisher waren vergleichbare Formate ja eher im Büro oder im Supermarkt angesiedelt. Und zweitens mag ich „Sweat“ so, weil die sechs Hauptcharaktere einerseits so divers sind und andererseits miteinander arbeiten und interagieren müssen. Dabei wirken sie alles in allem trotzdem wie ganz normale Leute – und nicht wie langweilige Standard-Schönheiten, die man sich für gewöhnlich in so einem Gym vorstellen würde.

»Für Ezra ist dieser Ort ein safe space, an dem sie Zuflucht findet und so akzeptiert wird, wie sie ist.«

MYP Magazine:
Deine Figur Ezra wirkt ein bisschen wie der Charakter Schildkröte in „Dittsche“, der in vielen Folgen einfach permanent im Hintergrund auf einem Hocker sitzt – nur dass sich Ezra viel aktiver am Geschehen beteiligt.

Tina Pfurr:
Aber auch das ist doch wie im echten Leben. In jedem Gym, in jeder Kneipe, in jedem Theater gibt es diese eine Person, die eigentlich nicht zum Team gehört, aber dennoch immer da ist – und die man daher auch irgendwie anders respektiert als „reguläre“ Gäste.

MYP Magazine:
Gibt es im Ballhaus Ost auch so jemanden?

Tina Pfurr: (hüstelt absichtlich)
Kein Kommentar!

MYP Magazine:
Bleiben wir bei deinem Charakter: Was ist Ezra für ein Mensch? Warum verbringt sie so viel Zeit in der „Perle“ und tut sogar so, als würde sie dort arbeiten?

Tina Pfurr:
Für Ezra ist dieser Ort ein safe space, an dem sie Zuflucht findet und so akzeptiert wird, wie sie ist. Dazu kommt, dass ihre Meinung von allen sehr geschätzt wird. Ich glaube, ohne die Menschen aus dem Studio wäre Ezra oft allein in ihrem Leben, die „Perle“ ist für sie ein Familienersatz. Daher hängt sie da ständig rum.

»So ein Fitnessstudio ist halt ein Mikrokosmos, der den Querschnitt einer ganzen Gesellschaft abbildet.«

MYP Magazine:
In der Serie erleben wir unter anderem, wie Ezra mit Detlev Buck für ein Schäferstündchen in der Sauna verschwindet und fünf durchtrainierte Typen bei einem Power-Workout an ihre Belastungsgrenze bringt. Wie hast du die Dreharbeiten erlebt? Darfst du ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern?

Tina Pfurr:
Diese Serie war eines der schönsten Projekte, in denen ich bisher mitwirken durfte. Das gesamte Team war superjung, der Dreh entsprechend lustig und entspannt und man war die ganze Zeit on set. Das bedeutet: Die Produktion fand an einer einzigen Location statt, einem ehemaligen Fitnessstudio in einem Marzahner Einkaufszentrum. So etwas ist ein großer Vorteil, da man nicht die ganze Zeit zwischen verschiedenen Drehorten hin- und herfahren muss, wobei man auch gerne mal vereinsamt. Insgesamt hatten wir nicht nur persönlich eine wahnsinnig gute Zeit, es konnte sich auch schauspielerisch sehr viel entwickeln – alleine dadurch, dass wir permanent aufeinandersaßen, vor und hinter der Kamera.

MYP Magazine:
Anders als der Titel vermuten würde, wird in „Sweat“ wenig geschwitzt, dafür aber so gut wie jedes Thema verhandelt, das unserer Gesellschaft gerade unter den Nägeln brennt: von Bodyshaming bis Jugendwahn, von sexueller Nötigung bis political correctness, vom schönen Schein des Influencertums bis zur biederen Tristesse des Analogen. Was kann man als Zuschauer:in aus der Serie mitnehmen? Warum sollte man sich „Sweat“ anschauen?

Tina Pfurr:
Weil es lustig ist. Weil es divers besetzt ist. Und weil die Behandlung der verschiedenen Themen nicht so zeigefingermäßig-plakativ stattfindet. „Sweat“ will kein aufklärerisches Werk sein, sondern ist eher subtil und nebenbei erzählt. Wir haben während des Drehs auch viel miteinander diskutiert, ob man einzelne Texte so sagen kann oder will. Und an welchen Punkten man persönlich den Eindruck hat, vielleicht selbst gemeint zu sein, und sich deshalb angegriffen fühlt. So ein Fitnessstudio ist halt ein Mikrokosmos, der den Querschnitt einer ganzen Gesellschaft abbildet und an dem die unterschiedlichsten Meinungen, Überzeugungen und Lebensphilosophien aufeinander treffen. Daher glaube ich, dass sich viele Zuschauer:innen in unseren Charakteren wiederfinden werden.

»Weiß und schlank war damals die Norm auf Schauspielschulen – für jede Abweichung davon fehlte den Leuten die Fantasie.«

MYP Magazine:
Die Serie thematisiert auch den Fitness- und Schönheitswahn unserer Gesellschaft, mal auf lustige, mal auf ernsthafte Art und Weise. Dabei geht es unter anderem um ein idealisiertes Körperbild, dem viele nicht entsprechen können oder wollen. Wie erlebst du persönlich die Film- und Theaterbranche in Bezug auf dieses Thema?

Tina Pfurr:
Die Branche hat sich in den letzten Jahren sehr verändert und normalisiert. Ich erinnere mich noch gut, wie ich vor 20 Jahren, als ich an Schauspielschulen vorgesprochen habe, die ganze Zeit nur aufs Maul gekriegt habe. Auch wenn ich damals schon recht sportlich war und mich in den einzelnen Rollen körperlich richtig verausgabt hatte, hieß es trotzdem nur: „Wir wüssten jetzt nicht, warum wir sie mit ihrem Körper annehmen und ausbilden sollten. Wir hätten auch gar keine Idee, wohin wir sie vermitteln sollten. Die Julia werden sie ja eh nie spielen können. Und immer nur die Amme sein, das wollen sie ja sicher auch nicht.“ Weiß und schlank war damals die Norm auf Schauspielschulen – für jede Abweichung davon fehlte den meisten die Fantasie.

»Man ist nicht einfach nur eine Person, die eine Rolle spielen soll. Man ist eine dicke Person, die eine Rolle spielen soll.«

MYP Magazine:
Wie bist du damit umgegangen?

Tina Pfurr:
Diese Ablehnung hat mich aber eher motiviert als deprimiert. Ich dachte nur: „Ihr könnt mich alle mal, ich mach‘ das trotzdem.“ Daher ist es für mich umso schöner, dass es irgendwann doch geklappt hat – vor allem, wenn ich manchmal wieder vor den Leuten stehe, die mir vor 20 Jahren gesagt haben, dass es keinen Weg für mich gibt.
Ebenso schön ist es für mich, dass das Thema Körper mittlerweile gesamtgesellschaftlich diskutiert und normalisiert wird. Dennoch ist es für jemanden wie mich noch immer nicht ganz einfach. Oft weiß ich schon im Vorfeld, dass ich eine Rolle nicht erhalte oder als Klischee besetzt werde – weil sich viele Verantwortliche nicht vorstellen können, dass ich das spielen kann. Bei vielen Kostümbildner:innen ist es genauso: Da fehlt in der Regel die Fantasie, mir etwas anderes anzuziehen als eine klassische Bluse mit einer weiten Strickjacke darüber. Wenn ich überlege, wie oft ich schon für eine Rolle sogenannte Dickenmode anprobieren musste! In solchen Momenten ist man nicht einfach nur eine Person, die eine Rolle spielen soll. Man ist eine dicke Person, die eine Rolle spielen soll.

MYP Magazine:
Na, Gott sei Dank haben wir heute im Adidas-Onesie geshootet.

Tina Pfurr:
Eine Strickjacke hätte ich auch nicht im Schrank gehabt.