Interview — Jonas Nay

»Journalismus macht man nicht von der Poolbar aus«

In Bully Herbigs neuem Film »Tausend Zeilen« ist Schauspieler Jonas Nay in der Rolle des allseits gefeierten Reporters Lars Bogenius zu sehen. Für seine packenden Reportagen wird dieser mit Preisen überhäuft – dabei hat er alles nur erfunden. Ein Gespräch über gespielte Empathie, die Bedeutung von Journalismus sowie die Frage, wie sich der Kinofilm zur realen Betrugsaffäre um Spiegel-Reporter Claas Relotius positioniert.

28. September 2022 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß & Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke

Eine bewaffnete Bürgerwehr in der Wüste von Arizona, die auf Geflüchtete schießt, um sie an der illegalen Einreise von Mexiko in die USA zu hindern. Ein 13-jähriger Syrer, der in der Stadt Daraa mit einem Graffito Präsident Assad beleidigt und damit den Syrienkrieg auslöst. Ein Gespräch mit den Eltern von Footballspieler Colin Kaepernick, der sich aus Protest gegen Rassismus in den USA vor Spielbeginn zur Nationalhymne hinkniete. Gab es alles nicht. Zumindest nicht so, wie es erzählt wurde.

Am 19. Dezember 2018 machte das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel öffentlich, dass Claas Relotius, damals 33 Jahre alt und ein gefeierter Reporter des Hauses, über Jahre große Teile seiner Reportagen und Interviews frei erfunden beziehungsweise Fakten falsch dargestellt, verfälscht oder hinzugedichtet hatte. Die Affäre löste national wie international regelrechte Schockwellen aus und beschädigte nicht nur den Spiegel schwer, sondern stellte einen gesamten Berufsstand unter Generalverdacht. Wenn so etwas bei einem derart renommierten Blatt passieren konnte, war das vielleicht gar keine Ausnahme, sondern eher die Regel?

Aufgeflogen war das Ganze durch Relotius‘ Kollegen Juan Moreno, der mit ihm im Herbst 2018 an einer Reportage über US-Bürgerwehren an der Grenze zu Mexiko arbeitete. Moreno fand in Relotius‘ Text diverse Ungereimtheiten, überprüfte angebliche Fakten und teilte seinen Verdacht der Ressortleitung mit. Diese reagierte skeptisch bis kopfschüttelnd auf die Vorwürfe und nahm Moreno nicht ernst. Daraufhin entschloss er sich, seinem allseits beliebten und mit diversen Preisen ausgezeichneten Kollegen hinterher zu recherchieren. Und so besuchte er Mitglieder jener ominösen Bürgerwehr in den USA, um Beweise für seine Anschuldigungen zu sammeln und seinen Arbeitgeber endlich zu überzeugen.

Mit Erfolg: Am 17. Dezember reichte Claas Relotius seine Kündigung ein, zwei Tage später machte das Blatt die Sache publik und begann mit der umfangreichen Aufarbeitung des Skandals. Knapp ein Jahr später, am 17. September 2019, veröffentlichte Juan Moreno mit „Tausend Zeilen Lüge“ ein Buch über die Affäre.

Dieses Buch und die darin beschriebenen Ereignisse haben Regisseur Michael „Bully“ Herbig sowie die Produzenten Sebastian Werninger und Hermann Florin, von dem auch das Drehbuch stammt, zu einem Kinofilm inspiriert. Im Mittelpunkt von „Tausend Zeilen“, der gerade in den deutschen Kinos anläuft, stehen die Reporter Juan Romero, gespielt von Elyas M’Barek, und Lars Bogenius, dargestellt von Jonas Nay. Während der eine verzweifelt versucht, bei der schmierigen Chefredaktion des Nachrichtenmagazins Chronik mit seinen Anschuldigungen durchzudringend und dabei immer stärker Frau und Kinder vernachlässigt, wird der andere mit Preisen überschüttet und denkt sich immer neue Reportagen aus – bevorzugt von der Poolbar eines Luxushotels aus.

In einem Luxushotel treffen wir auch Jonas Nay zum Interview – allerdings nicht, weil der unprätentiöse Schauspieler dort bevorzugt absteigen würde. Sondern weil die Produktionsfirma hier einen großen Pressetag veranstaltet. Bevor wir mit dem Gespräch starten, schnappt sich der 32-Jährige erst den Frisierumhang der Visagistin und dann den Kopfschmuck unserer Chefredakteurin, um sich damit vor der Kamera in Szene zu setzen. Was folgt, sind turbulente 60 Minuten, in denen nicht nur der Concierge spontan mit einbezogen wird, indem er ein Hemd als weitere Kostümvariante zur Verfügung stellt. Sondern auch das Hausmeister-Team, das Jonas Nay freundlich eine Leiter überlässt, damit er sich inmitten der Deckenbeleuchtung fotografieren lassen kann. Was für ein Warm-up!

»Ich habe mich gefragt, was das wohl für ein System gewesen sein musste, in dem so etwas über Jahre nicht aufgeflogen ist.«

MYP Magazine:
Als vor knapp vier Jahren die sogenannte Relotius-Affäre öffentlich wurde, löste sie medial regelrechte Schockwellen aus. Erinnerst Du dich noch, welche Gedanken Dir damals durch den Kopf gegangen sind, nachdem Du von der Sache erfahren hattest?

Jonas Nay:
Ich muss gestehen, dass ich damals zwar mitbekommen habe, dass es beim Spiegel eine große Betrugsaffäre gab, die für den Journalismus ein ziemlicher Paukenschlag gewesen sein muss. Aber jene Schockwelle hat mich persönlich nicht mit aller Wucht erwischt, da ich in der Zeit in zwei parallel stattfindenden Drehs in Kroatien und Belarus eingespannt war. So bin ich erst richtig in die Materie eingetaucht, als plötzlich dieses Filmprojekt auf meinem Tisch lag. In der Vorbereitung auf meine Rolle habe ich all die gefälschten Reportagen und Interviews von Claas Relotius gelesen, die der Spiegel – mit Kommentaren versehen – im Nachhinein wieder online gestellt hat. Dabei habe ich mir immer wieder die Augen gerieben und mich gefragt, was das wohl für ein System gewesen sein muss, in dem so etwas über Jahre nicht aufgeflogen ist.

»Ich muss klar herausstellen, dass ich nicht Claas Relotius spiele.«

MYP Magazine:
Auch vor Claas Relotius gab es bereits Journalist:innen, die Artikel gefälscht hatten – wie etwa den Schweizer Tom Kummer, der in den 1990er Jahren Interviews mit etlichen Hollywood-Stars fingiert hatte. Solche Skandale lösen immer wieder öffentliche Debatten über die Ethik des Erzählens im Journalismus aus. Fühlst Du dich als Schauspieler ebenfalls bestimmten ethischen Grundregeln verpflichtet, wenn Du eine Figur spielst, die wie etwa Lars Bogenius an eine reale Person der Zeitgeschichte angelehnt ist?

Jonas Nay:
Zuerst einmal muss man klar unterscheiden zwischen journalistischem und fiktionalem Erzählen. Der Beruf, den ich ausübe, lebt davon, dass man Dinge erfindet. Er lebt davon, dass ich als Schauspieler durch meine Performance versuche, dem Publikum bestimmte Emotionen nahezubringen, damit Zuschauer:innen eine Empathie für meine Figur entwickeln können. Demgegenüber verstehe ich den Journalismus als einen Beruf, in dem es darum geht, die Wahrheit – also das, was ist – in Worte zu fassen und der Leserschaft beizubringen. Natürlich variiert das Erzählen ein wenig von Ressort zu Ressort, aber das Grundprinzip der Wahrheitstreue bleibt dasselbe.
Davon abgesehen muss ich klar herausstellen, dass ich nicht Claas Relotius spiele. Sowohl Hermann Florin als auch Bully Herbig haben von Anfang an betont, dass wir keinen Film über Claas Relotius und Juan Moreno machen. Wir erzählen eine fiktive Geschichte, die inspiriert ist von Morenos Buch.
Als ich mich im Vorfeld mit Bully über meine Figur unterhalten hatte und ihn fragte, wie nah ich mit diesem Lars Bogenius an die real existierende Person Claas Relotius heranrücken sollte, sagte er: „Mach dich davon frei. Dein Bogenius ist ein fiktiver Betrüger, der inspiriert ist von all den Erfahrungen, die du als Mensch im Laufe deines Lebens gesammelt hast.“ Das Erste, was ich also getan habe, um in die Rolle eines Hochstaplers einzusteigen, war, „berühmteste Betrüger“ zu googeln. Dabei bin ich beispielsweise auf Stephen Glass gestoßen, dessen Fall noch etwas näher an der Causa Relotius ist als der von Tom Kummer. So habe ich mich Stück für Stück durchgearbeitet und mir die Kirschen für meinen fiktionalen Charakter herausgepickt.

»Lars Bogenius lebt von der sogenannten Spiegeltechnik – was übrigens viele Betrüger tun.«

MYP Magazine:
Es gibt im Film immer wieder Situationen, in denen man das Gefühl hat, diesem Lars Bogenius ein wenig näherzukommen. Etwa bei seinem mal freundlichen, mal aufbrausenden Umgang mit Kolleg:innen. Bezeichnend ist auch eine Szene, in der Bogenius von einer Redakteurin spontan in den Arm genommen wird. Er ist nicht in der Lage, diese plötzliche Herzlichkeit zu erwidern, sondern streckt ungelenk beide Arme von sich. Welche Bedeutung haben diese Unsicherheit und der offensichtliche Mangel an sozialer Kompetenz für die Ausgestaltung der Figur?

Jonas Nay:
Erstens habe ich Lars Bogenius einen leichten Asperger-Hauch gegeben und ihn so gezeichnet, dass er von der sogenannten Spiegeltechnik lebt – was übrigens viele Betrüger tun. Dabei geht es darum, in der eigenen Körpersprache und dem eigenen Ausdruck das Gegenüber zu kopieren, um eine gewissen Nähe herzustellen, und zwar so, dass es davon nichts merkt. Zweitens, und auch das tun viele Betrüger, versucht Lars Bogenius immer wieder, bei seinen Mitmenschen persönlich anzudocken und für deren privaten Schicksale eine aufrichtige Anteilnahme vorzutäuschen. Das wiederum gelingt ihm besonders gut, weil er dafür im Gegensatz zu seinen Kolleg:innen viel mehr Raum und Zeit in seinem Kopf hat. Er muss seine Reportagen nicht wie andere aufwendig recherchieren, sondern kann sie sich in aller Ruhe und ohne journalistischen Druck ausdenken.
Ich weiß aus meinem eigenen Beruf, wie sehr einen die Profession im Alltag einnehmen kann und wie sehr man dem hinterherrennt, was man erreichen möchte. Es passiert mir zum Beispiel oft, dass ich an der Supermarktkasse stehe und plötzlich über einen Songtext für meine Band nachdenke. Oder darüber, wie ich meine nächste Rolle ausgestalte. Oder wie die Szene war, die ich gerade gespielt habe. Wenn ich abends nach einem Drehtag ins Bett steige, ist mein Kopf voller Gedanken darüber, was über den Tag passiert ist und was morgen kommt. Ein Lars Bogenius hat solche Gedanken nicht – und kann sich daher voll und ganz der Manipulation seiner Umwelt widmen.

»Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Lars Bogenius von heute auf morgen entschieden hat, Betrüger zu sein.«

MYP Magazine:
Im Film lernen wir die tatsächlichen Beweggründe von Lars Bogenius nie wirklich kennen…

Jonas Nay:
Nein.

MYP Magazine:
Hast Du persönlich eine Vermutung, was seine Motive sind? Will Lars Bogenius in erster Linie ein Hochstapler sein? Oder glaubst Du, dass er eher aufgrund des hohen Leistungsdrucks im Job in die Situation gekommen ist, Reportagen zu fälschen – etwa, weil es von Seiten der Chefredaktion oder Ressortleitung heißt: „Wir brauchen von dir in drei Tagen ein Text über dieses krasse Schicksal!“

Jonas Nay:
Ich glaube – und das ist nur meine persönliche Sicht – dass so ein Verhalten immer multikausal ist. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich Lars Bogenius von heute auf morgen entschieden hat, Betrüger zu sein. In unserem Film habe ich es so erzählt, dass es irgendwann einen Zeitpunkt gab, ab dem Bogenius langsam angefangen hat, in seinem Leben Dinge dazu zu dichten, und damit sehr viel Erfolg hatte.

MYP Magazine:
Wie etwa das Erfinden einer todkranken Schwester.

Jonas Nay:
Genau, das hat ihm bei seinen Mitmenschen schon mal ein paar Empathiepunkte eingebracht und willkommene Ausreden beschert. Und was seine Artikel angeht, hat er zwar ursprünglich auch klassischen Journalismus betrieben, aber seine Texte dann immer weiter ausgeschmückt, Elemente verändert oder frei erfunden. Auch damit hatte er sehr viel Erfolg und ich glaube, dass ihn diese Welle des persönlichen wie beruflichen Erfolgs bald vollständig getragen hat. Wenn so etwas passiert, schafft man irgendwann den Absprung nicht mehr. Man ist davon überzeugt, dass das alles doch irgendwie funktioniert.

»Ich mag es gerne ein wenig rationaler und kühler, wenn ich etwas Journalistisches lese.«

MYP Magazine:
Über Claas Relotius sagte damals Welt-Redakteur Christian Meier, dass dieser „mit Sprache so gut umzugehen vermag wie kaum jemand sonst seiner Generation“. Seine Reportagen seien fast immer spektakulär gewesen, außerdem extrem gut komponiert und geschrieben. Empfindest Du wegen dieses Talents auch so etwas wie Bewunderung gegenüber Deiner Figur Lars Bogenius – und in der Konsequenz auch gegenüber Claas Relotius?

Jonas Nay:
Ein Talent für packende Texte kann ich Claas Relotius auf jeden Fall attestieren – jetzt, da ich seine Reportagen gelesen habe. Er weiß, wie er mit Sprache umzugehen hat, um seine Texte spannend und unterhaltsam zu machen. Aber hier liegt auch die Crux. Ich persönlich finde seine Texte zu filmisch für einen Reportagestil. Ich mag es gerne ein wenig rationaler und kühler, wenn ich etwas Journalistisches lese. Allein deshalb empfinde ich hier schon keine Bewunderung.
Darüber hinaus haben seine Reportagen meistens scheinbare Sensationen aufgedeckt – was in erster Linie dem Umstand geschuldet war, dass er diese Sensationen selbst erfunden hat. Ich habe mich dazu lange mit Juan Moreno unterhalten und kann sagen, dass so ein Verhalten wohl der größte Schlag ins Gesicht eines ehrlichen Journalisten ist. Moreno hat mir von eigenen Reportagen erzählt, für die er beispielsweise in Kolumbien bei der damals neu aufkeimenden FARC-Guerilla recherchiert hatte. Er war mit seinem Fotografen dorthin gefahren und wusste nicht, ob er jemals wieder lebend zurückkommen und seine Familie wiedersehen würde. Er sagte zu mir, dass man als Journalist über so viele Grenzen gehe, um wirklich an ein Geschehen heranzukommen, dass es extrem wehtue, wenn jemand so etwas einfach frei erfinde – und damit mehr Erfolg habe als die, die die Regeln einhielten. Allein deshalb sei es so wichtig, so etwas aufzudecken. Oder um es auf Lars Bogenius zu beziehen: Journalismus macht man nicht von der Poolbar aus.

»Mit einem Michael Bully Herbig kommt man am Humor nicht vorbei.«

MYP Magazine:
Die Affäre Relotius wurde zu einer Zeit publik, in der klassische Medien weltweit ohnehin schon gegen Fake News und Trumpismus anzukämpfen hatten. Der Relotius-Fall war Wasser auf die Mühlen der Feinde der freien Presse und des unabhängigen Journalismus – also ein richtig ernstes Thema. Euer Film spielt in derselben Zeit wie der reale Skandal, arbeitet immer wieder mit komödiantischen Elementen, die eher an „Schtonk“ als an „The Post“ erinnern. Habt Ihr im Vorfeld diskutiert, wie viel Humor die Erzählung einer so eine brisanten Geschichte vertragen kann oder vielleicht sogar braucht?

Jonas Nay:
Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn es um die Kreation unserer Figuren geht, treibt es uns Schauspieler:innen generell sehr um, in welche Richtung die Regie mit der Geschichte gehen und welche Tonalität sie treffen möchte. Auch bei „Tausend Zeilen“ gab es dazu im Vorfeld viele Gespräche. Ich glaube, mit einem Michael Bully Herbig kommt man am Humor nicht vorbei. Aus diesem Grund wurde er auch ausgewählt.
Gleichzeitig ist unser Film aber keine Mediensatire wie etwa „Schtonk“, den ich übrigens persönlich sehr mag. Der Humor, der bei uns stattfindet, hat sich eher aus den Absurditäten heraus entwickelt. Mir selbst ist es beim Lesen des Buches immer wieder so gegangen, dass ich laut auflachen musste – auf eine bittere und sarkastische Art und Weise. An vielen Stellen dachte ich einfach nur: What?! Wenn es darum geht, von wie vielen Leuten Claas Relotius in den Himmel gelobt wurde, wie viele Preise er gewonnen hat und wie wenig dabei von all dem Geschriebenen gestimmt hat, ist das alles an Absurdität kaum zu übertreffen. Daher war es naheliegend, aus der Geschichte kein investigatives Drama zu entwickeln – auch weil wir ohnehin nie an den tatsächlichen Wahrheitsgehalt herangekommen wären.

»Vielleicht ist Claas Relotius ja fein mit sich und der Welt.«

MYP Magazine:
Gab es im Vorfeld der Dreharbeiten Kontakt zu Claas Relotius?

Jonas Nay:
Das ist die Frage an den Falschen. Ich selbst habe nie mit ihm gesprochen. Für meine Figur wäre es auch ohne Bedeutung gewesen – spätestens ab dem Moment, als klar war, dass ich nicht Claas Relotius spiele, sondern Lars Bogenius, und es keinen direkten Einfluss der historischen Figur auf die fiktive gibt. Klar, natürlich würde ich mich gerne mal mit ihm unterhalten, weil er für mich als Schauspieler eine wahnsinnig spannende Persönlichkeit ist. Aber das hat nichts mit unserem Film zu tun.

MYP Magazine:
Hast Du Mitleid mit Claas Relotius?

Jonas Nay:
Mitleid? Hmm, nein. Ich finde, er hat einem der besten Magazine, die wir in Deutschland haben, und einem ganzen Berufsstand einen so unglaublich großen Schaden zugefügt, dass ich da kein Mitleid haben kann. Vielleicht ist er ja auch fein mit sich und der Welt.

MYP Magazine:
Hast Du Mitleid mit Lars Bogenius?

Jonas Nay:
Nein, auch nicht. Wenn man den Filmplot mal etwas weiterdenkt, glaube ich, dass es Lars Bogenius so richtig gut geht. Sicher hat er bereits Juan Romero sowie die Chronik auf Verleumdung verklagt, wird damit Erfolg haben und sich ein schönes Leben machen.

»Ich spüre die positive Energie, wenn ich irgendwo hinkomme und die Menschen sich freuen, mich zu sehen.«

MYP Magazine:
In der Redaktion der Chronik findet eine regelrechte Heroisierung des „Wunderkinds“ Bogenius statt, das war auch bei Claas Relotius so. Wie gehst Du als bekannter Schauspieler mit der gelegentlichen Überhöhung der eigenen Person um?

Jonas Nay:
Ich würde die Antwort gerne ein wenig biegen wollen. Ich kenne als Schauspieler den Zustand, in dem einem alles leichter fällt, weil man von anderen Menschen gemocht wird und diese Menschen einem nur Gutes wollen. Das war etwa nach meinem ersten Film „Homevideo“ so, als die Erfolgswelle einfach nicht abebben wollte – eine echt schöne Zeit. Auch wenn ich glaube, dass mir das nicht ungebremst zu Kopf gestiegen ist, spüre ich natürlich die positive Energie, wenn ich irgendwo hinkomme und die Menschen sich freuen, mich zu sehen – weil sie gut finden, was ich so mache. So eine Situation gibt einem das Gefühl, dass man erst mal nichts verkehrt machen kann. Auch Claas Relotius ist damals in seiner Welt – dem Journalismus – als Wunderkind gehypt worden und stand gleichzeitig noch unter Welpenschutz. Dieses Setting kann ich sehr gut nachvollziehen. Und ich glaube, es verleitet einen dazu, sich selbst nicht mehr so zu hinterfragen.

MYP Magazine:
Passiert es ab und zu, dass Du dich selbst googelst und zufrieden lächelst – wie Bogenius im Film?

Jonas Nay: (grinst)
Ich habe mich schon oft selbst gegoogelt – und ganz bestimmt habe ich da auch hin und wieder mal gelächelt.

»Es macht etwas mit mir, wenn ich das Gefühl habe, im Moment des Lesens ein echtes Schicksal vor Augen zu haben.«

MYP Magazine:
Am Ende des Films versucht sich Lars Bogenius mit folgenden Worten vor seinen Vorgesetzten zu rechtfertigen: „Die Welt da draußen – die Wirklichkeit – ist langweilig, ist öde. Wir bringen Dramatik rein. Wir sorgen für Abläufe, Wendungen, Kurven.“ Wie kann es passieren, dass ein so intelligenter Charakter den Journalismus so beschreibt, als ginge es um Theater?

Jonas Nay:
Das ganze Leben ist doch Theater! Ich glaube, wir alle sind auf eine gewisse Art und Weise Schauspieler:innen, weil wir unsere Persönlichkeit in Momenten der Selbstpräsentation so gestalten, wie es der Situation gerade angemessen ist. In dem erwähnten Monolog von Lars Bogenius steckt sehr viel Wahres, auch wenn ich die Welt da draußen alles andere als öde finde. Was er aber hauptsächlich aufzählt, sind Qualitäten, die auch ein seriöser Reporter an den Tag legen darf – mit dem kleinen Haken, dass er sich dabei an nachvollziehbar wahre Tatsachen und Erlebnisse halten muss.
Es ist nicht einfach, aus subjektiven Beobachtungen eine journalistische Erzählung zu spinnen, die die Leserschaft mitnimmt. Daher ist es auch in einer Reportage wichtig, eine gute Dramaturgie zu haben. Ich als Leser will ja nicht enttäuscht werden! Ich will einerseits einen Text haben, der mich emotional umhaut und von sensationellen Erlebnissen getragen wird. Und andererseits will ich selbstverständlich, dass der Text bei der Wahrheit bleibt. Es macht nämlich etwas mit mir, wenn ich das Gefühl habe, im Moment des Lesens ein echtes Schicksal vor Augen zu haben – weil ich davon ausgehe, dass mir da gerade die Wahrheit in einer Weise nahegebracht wird, wie ich sie vorher nicht erleben durfte. Durch einen fiktionalen Film kann ich das nicht erleben. Und ich kann auch nicht oder nur schwer an den betreffenden Ort fliegen, wo die Geschichte passiert ist oder gerade passiert. So werden mir Informationen nahegebracht, die ich ohne die Reportage nicht erlebt hätte. Diesen Mehrwert gibt es aber nur, weil ich davon ausgehe, dass das Geschriebene wahr ist. Sonst könnte ich auch einen Roman lesen. Aber dann – wenn man von rein fiktionalen Geschichten ausgeht – gibt es wesentlich bessere Texte als die von Claas Relotius.

»Mir wird immer wieder gespiegelt, dass ich in meiner schauspielerischen Arbeit zu rational-handwerklich sei.«

MYP Magazine:
Ist es Dir in Deinem Beruf als Schauspieler auch schon mal passiert, dass Du stellenweise nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden konntest?

Jonas Nay:
Bei mir geht es eher ins andere Extrem. Mich faszinieren einfach der Drehprozess und die Gewerke um mich herum zu sehr, als dass ich mich im Künstlerischen längere Zeit komplett verlieren könnte – vielleicht auch, weil ich als Filmkomponist auch noch in die Postproduktion eingebunden bin. Ich merke, dass ich am Set ständig Antennen ausfahre, weil ich wahrzunehmen versuche, was um mich herum passiert und gesprochen wird: etwa, wenn die Regieassistenz, die Continuity-Verantwortliche oder Kamera und Regie etwas miteinander zu bereden haben. Diese direkten und ungefilterten Informationen mag ich in manchen Fällen sogar eher als den gefilterten Sprech eines Regisseurs oder einer Regisseurin am Set. Ich bin dann so sehr in der Welt des Hier und Jetzt, dass mir schon gesagt wurde: „Jonas, ich weiß, wir drehen gerade nicht, aber jetzt geh zurück in Deine Rolle und lass mich mal machen.“ (lacht)

»Durch die Arbeit an historischen, aber auch an fiktionalen Stoffen habe ich sehr viel über mich als Mensch gelernt.«

MYP Magazine:
Wir haben bei unserem letzten Interview vor knapp zwei Jahren darüber gesprochen, dass Du mit Deinen Rollen der letzten Jahre inhaltlich in fast jedes Jahrzehnt der jüngeren deutschen Geschichte eingetaucht bist. Das scheint sich mit „Tausend Zeilen“ nun fortzusetzen. Was hast Du durch diesen Film gelernt, was Dir vorher verborgen war?

Jonas Nay:
Ich mache es etwas genereller: Ich habe das Gefühl, dass ich durch meine Arbeit sehr viel über mich als Mensch gelernt habe. Als Schauspieler:in setzt man sich einfach sehr mit sich als Person auseinander. Bei den historischen Stoffen habe ich zudem viel über die deutsche Geschichte erfahren. Ohne die Schauspielerei hätte ich mich damit vielleicht privat nicht so ausführlich beschäftigt – etwa, wenn ich stattdessen Musiklehrer am Gymnasium geworden wäre.
Darüber hinaus ist das Schöne an fiktionalen Stoffen, dass man seinen Charakteren so dicht folgen kann und eine unmittelbare – und aus deren Perspektive authentische – Sicht auf die Dinge erhält, auch wenn es um Epochen geht, in denen man selbst nicht gelebt hat. Als Schauspieler:in setzt man sich dabei nicht nur mit der Rolle per se auseinander, sondern auch mit dem gesamten Surrounding der Figur. Man erlebt die Dynamiken, Hierarchien und Dominanzen, die in einer Szene vorherrschen, in der Regel ja noch intensiver als das Publikum. Diese Erfahrungen sind etwas, was ich an diesem Beruf total genieße.

»Wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, ernsthaften und ungefärbten Journalismus zu erfahren, würde ich die Welt noch viel weniger verstehen.«

MYP Magazine:
Hat diese Rolle Dich Menschen und Medien gegenüber misstrauischer gemacht? Oder positiv gefragt: Wie stellst Du für dich sicher, nach wie vor Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu erfahren?

Jonas Nay:
Ich weiß nicht. Ich glaube, vieles in diesem Leben ist ein Game, ein permanentes Austesten und Schauen. Und Menschen sind so vielschichtig in ihrem Miteinander, dass man eigentlich nie den Punkt erreichen kann, an dem man das Gefühl hat, vollkommene Wahrhaftigkeit zu erfahren.
Wenn es um journalistische Texte geht, bin ich der Meinung, dass explizite Fake News und Propagandatexte immer noch leicht zu entlarven sind. Sobald man anfängt zu überprüfen, ob das Geschriebene ansatzweise anhand seriöser Quellen belegbar ist, kann man Falschnachrichten leicht entschärfen. In einem Fall wie dem von Claas Relotius ist das schwieriger, weil sein Betrug im Rahmen eines seriösen Formats passierte, bei dem man so etwas nicht erwartet hatte und die meisten – und prestigeträchtigsten – seiner Werke Auslandsreportagen waren. Aber Menschen betrügen eben. Daher werden wir auch in Zukunft immer wieder auf Lügner und Betrüger treffen – und ich hoffe, die allermeisten von ihnen werden entlarvt. Dieser Umstand stellt für mich persönlich aber nicht den Journalismus an sich in Frage. Relotius war ein Einzelfall, davon wird es wahrscheinlich immer wieder welche geben. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich überaus dankbar bin für den Journalismus und das hohe Gut der Pressefreiheit in Deutschland. Ich bin nach wie vor ein begeisterter Konsument von seriösem Journalismus. Das färbt meine Weltsicht, das finde ich wichtig für mein Leben. Wenn ich nicht die Möglichkeit hätte, ernsthaften und ungefärbten Journalismus zu erfahren, würde ich die Welt noch viel weniger verstehen.

MYP Magazine:
Jonas, besten Dank für das Gespräch!