Interview — Josef Hader

»Bei alten weißen Männern gibt’s oft kein Happy End«

Ein alter weißer Mann, der im Suff das Leben und die Welt bejammert: Mit »Hader On Ice« ist der österreichische Kabarettist Josef Hader seit Anfang des Jahres wieder mit einem eigenen Bühnenprogramm unterwegs. Im Interview erklärt er, warum ihn graue Herren nerven, was Jörg Haider posthum im Teleshop zu suchen hat und wieso Europa ein Konstrukt ist, zu dem man keine rein enthusiastische Beziehung haben kann.

26. März 2022 — Interview: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Ein bisschen Alkohol, sagt man, lockert die Zunge. Die Gedanken fließen, die Stimmung steigt, und man kann endlich sagen, was man schon immer sagen wollte. Die Konsequenzen: völlig egal. Jetzt red‘ ich! Und nach mir die Sintflut. Doch kaum setzt die Ernüchterung ein, wird vielen klar: Si tacuisses – wenn du doch geschwiegen hättest.

Den älteren Herrn, den der österreichische Kabarettist Josef Hader in seinem neuen Programm „Hader On Ice“ spielt, wird diese Erkenntnis so schnell nicht ereilen. Haders Protagonist, der mit weit aufgeknöpftem Hemd und gelb getönter Brille seiner Jugend nachzutrauern scheint, beginnt die Show bereits beschwipst, geht noch angeheiterter in die Pause und beendet den Abend mit ordentlich Promille im Blut. Der beste und wahrscheinlich einzige Freund an seiner Seite ist dabei ein edler Rum, nachhaltig erzeugt und mit dem Segelboot nach Europa verschifft. Man muss sich ja was gönnen.

Der Herr, so merkt man schnell, hat Redebedarf. Und zwar großen. Mit seinen Ausführungen, die der zwei Stunden lang über das Publikum ergießt, streift er inhaltlich so ziemlich alles, an dem man sich heutzutage stoßen kann – zumindest, wenn man als „alter weißer Mann“, wie Josef Hader gerne sagt, die Welt betrachtet. Und einfach ignoriert, was man nicht begreifen will.

Damit ist diese Figur so ziemlich das Gegenteil ihres Erschaffers. Hader, Jahrgang 1962, beobachtet seit vielen Jahrzehnten akribisch die Gesellschaft und genießt es, deren Eigenarten, Skurrilitäten und Schrulligkeiten zu sezieren – mal als Schauspieler, mal als Regisseur, mal als Kabarettist. Mit „Hader On Ice“ hat er nach etlichen Jahren wieder ein eigenes Bühnenprogramm aufgelegt, mit dem er aktuell auf Tour ist – und das ihm prompt den Deutschen und Österreichischen Kabarettpreis 2022 eingebracht hat.

Am Morgen nach seinem Auftritt im Berliner „Babylon“ und wenige Tage vor seinem 60. Geburtstag haben wir ihn zum Gespräch getroffen.

»Jemand wie Strache inspiriert mich nicht.«

MYP Magazine:
Herr Hader, wir haben gestern Abend in Ihrer Show ein neues Wort gelernt: Reparaturseidl. Klären Sie uns auf, was ist das?

Josef Hader:
In Österreich meint man mit Seidl ein kleines Bier, etwa 0,3 Liter. Und ein Reparaturseidl ist ein Bier, das man an einem verkaterten Morgen zu sich nimmt. In Deutschland würde man Konterbier sagen.

MYP Magazine:
Seit 2019 kennen wir noch eine weitere österreichische Redewendung: „a besoffene G’schicht“. Mit diesen Worten hatte Hans-Christian Strache versucht, seine Ausfälle im legendären Ibiza-Video zu entschuldigen. Hat Sie das zu Ihrem neuen Programm inspiriert?

Josef Hader:
Nein, jemand wie Strache inspiriert mich nicht. Ich habe mit dem Schreiben des Programms begonnen, als gerade die Ära Trump auf dem Höhepunkt war. Ich hatte das Gefühl, dass man gegen so jemanden mit moralischem Kabarett nichts ausrichten kann, daher habe ich so eine Person wie Trump einfach auf die Bühne gestellt – aber als mich selbst: als einen Josef Hader, der offenbar eine schlimme Entwicklung genommen hat.
Eine andere Inspiration war Dean Martin. Der war auch ein alter weißer Mann, aber ziemlich charmant dabei. Und das wollte ich natürlich auch sein, sonst rennen mir ja die Leute aus der Vorstellung. Dean Martin war einer der letzten, die auf der Bühne das gute alte Stilmittel des drunken act eingesetzt haben. Dabei geht es darum, dem Publikum eine leichte Betrunkenheit vorzutäuschen und damit den Spielraum zu erweitern: Man kann Dinge sagen, die sich sonst eher verbieten würden.

»Einem Betrunkenen verzeiht man bestimmte Grenzverletzungen.«

MYP Magazine:
Sie spielen einen beschwipsten Herrn Ende 50. Glaubt man einem alten Sprichwort, sagen Kinder und Betrunkene immer die Wahrheit.

Josef Hader:
Vielleicht kann man die bittere Wahrheit tatsächlich leichter nehmen, wenn sie von einem Kind oder einem Betrunkenen ausgesprochen wird. Zumindest wird in beiden Fällen das Gesagte eher toleriert. Das ist auch der Gedanke hinter dem drunken act. Entstanden ist diese Form der Comedy um 1900 in den USA, inmitten einer äußerst regressiven Gesellschaft, in der man auf der Bühne noch bis in die 1950er Jahre nicht alles sagen konnte, was man sagen wollte. Wichtig beim drunken act ist, nie wirklich betrunken zu sein, weil man die Leichtigkeit beherrschen muss. Dean Martin war da ein Großmeister. Leider hat es später mit ihm ein schlimmes Ende genommen, durch Rauchen und Trinken – wie bei vielen alten weißen Männern.

»Alkohol ist kein guter Freund, wenn es einem richtig schlecht geht.«

MYP Magazine:
Ihr Protagonist versteht die Welt und unsere Zeit nicht mehr. Also greift er zur Flasche. Sind manche Zustände nur noch im Suff zu ertragen? Man denke nur an die DDR, die in den Jahren vor dem Mauerfall den höchsten Spirituosenverbrauch der Welt hatte.

Josef Hader:
Hm, ich trinke jetzt erst mal einen Kaffee. Das ist eine so schwierige Frage, da muss ich mir kurz eine Auszeit nehmen.

Josef Hader lacht, steht auf und bedient sich an der Kaffeemaschine. Dann kommt er zurück.

Ich denke, dass Alkohol kein guter Freund ist, wenn es einem richtig schlecht geht. Aber für alle Zustände der Wehleidigkeit und des Jammerns auf hohem Niveau ist er durchaus ein guter Begleiter. Ich meine damit Momente, in denen das Leid nicht existenziell ist und man sozusagen genussvoll leidet. Folgt man dieser Logik, war es damals in der DDR gar nicht so schlimm. Manche dort behaupten ja, es wäre heute schlimmer. (grinst)

MYP Magazine:
Ihre Bühnenfigur hat auch mit der jungen Generation so ihre Probleme. Aus Studien der letzten Jahre wissen wir, dass Jugendliche immer weniger Alkohol konsumieren. Ist das vielleicht der wahre Grund, warum sich Jung und Alt nicht mehr verstehen – weil sie nicht mehr auf dieselben Rauschmittel zurückgreifen?

Josef Hader:
Jung und Alt haben sich noch nie verstanden, das wäre auch ein geradezu seltsamer und absurder Zustand. Die Jungen versuchen immer, sich von den Älteren abzuheben. Das heißt für unsere Zeit: Wenn die letzte Generation so eine richtige Säufergeneration war, bleibt für die Jungen als einzige Distanzierungsmethode, wesentlich weniger zu trinken.

»Das Testosteron lässt nach und die Angst nimmt zu.«

MYP Magazine:
Im Film „Nevrland“ aus dem Jahr 2019 spielen Sie den Vater eines unter Angststörungen leidenden Teenagers. Der Vater ist absolut unfähig, eine gewisse Empathie für die Gefühlslage seines Sohnes zu entwickeln. Sehen Sie dieses Problem auch in der Realität? Gibt es ein emotionales Gap zwischen den Generationen?

Josef Hader:
Ja, aber auch das war schon immer so. Jede Generation versucht doch, nicht die Fehler zu wiederholen, die sie von der vorangegangenen erlitten hat. Aber dafür macht sie wieder eigene Fehler. Kinder, die nicht in der Lage sind, sich irgendwann mal von ihren Eltern zu distanzieren, werden keine glücklichen Menschen. Die alte Generation muss das aushalten und soll nicht so rumjammern.
Überhaupt dieses Rumjammern! Etwa darüber, dass man nicht mehr Zigeunersauce sagen darf. Das ist so seltsam und weltfremd. Gerade als älterer Mensch – ich selbst werde bald 60 – hat man doch einen gewissen Überblick und weiß, dass sich Sprache ständig ändert und das etwas völlig Natürliches ist. Man weiß doch, dass man selbst damals Dinge anders gesagt hat als die Elterngeneration und die das scheiße fand.

Ich frage mich immer, warum dieselben Leute, die auch mal jung waren und gewusst haben, wie alte Leute ticken, heute wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist. Warum sie dieses wertvolle Wissen aus der Jugend nicht konserviert haben, um es jetzt im Alter nutzbar zu machen und zu sagen: So ein Trottel möcht‘ ich nicht werden. Es passiert leider nicht. Vielleicht hat das hormonelle Gründe. Das Testosteron lässt nach und die Angst nimmt zu – vor der Welt und vor der Zukunft. Das ist eh eine interessante Sache: dass die Leute, die am wenigsten Zukunft haben, nämlich die Alten, am meisten Angst vor ihr haben. Das ist in meinen Augen nur mit Testosteronmangel erklärbar.

»Jeder, der einen Beruf ergreift, in dem er allein auf der Bühne steht, hat einen kleinen Sozialdefekt.«

MYP Magazine:
In Ihrem Film „Wilde Maus“, in dem Sie die Rolle des arbeitslosen Musikkritikers Georg spielen, gibt es eine Szene, in der Sie zuhause auf der Couch sitzen und sagen: „Seit ich auf der Welt bin, sind andere Menschen für mich wie Außerirdische. Ich weiß nicht, wie sie funktionieren. Ich fühle mich wie eine Insel, wo rundherum Wasser ist, und keiner kann mir helfen.“ Wieviel Ihrer eigenen Persönlichkeit steckt in Georgs Worten?

Josef Hader:
Generell hat jeder, der einen Beruf ergreift, in dem er allein auf der Bühne steht und mit dem Publikum redet, einen kleinen Sozialdefekt, gepaart mit ordentlich Narzissmus. Da bin ich keine Ausnahme.

MYP Magazine:
Haben Sie eine Vermutung, wie es bei Ihnen zu diesem Sozialdefekt kam?

Josef Hader:
Ich bin als Kind auf dem Bauernhof meiner Großeltern aufgewachsen. In der Nachbarschaft gab es keine anderen Kinder. Und so etwas wie einen Kindergarten hatte man damals auch noch nicht. Ich hatte also bis zu meinem sechsten Lebensjahr kaum Kontakt zu Gleichaltrigen – bis dann der Schock der Grundschule über mich hereinbrach. In den ersten Jahren dort hatte ich tatsächlich das Gefühl, um mich herum seien lauter Außerirdische.

»Ich mag Städte, in denen das Fortschrittstempo nicht ganz so hoch ist.«

MYP Magazine:
Sie haben Ihre Heimatstadt Wien mal als einen Ort bezeichnet, an dem sich so wenig tue und von dem so wenig Aufbruch in irgendeine Richtung ausgehe, dass man weder ablehnen noch zustimmen könne. Warum kehren Sie der Stadt nicht den Rücken? Oder steigen zumindest öfter in den Nachtzug nach Rom, wie Sie dem Tagesspiegel verraten haben?

Josef Hader:
Naja, auch in Rom tut sich nicht viel, zumindest nicht, wenn man New York oder Berlin als Maßstab nimmt. Aber das ist auch ok so. Ich mag Städte, in denen das Fortschrittstempo nicht ganz so hoch ist. Städte, in denen man nicht ständig Angst haben muss, dass der eigene Bezirk gentrifiziert wird, die Mieten um das Fünffache steigen und alle alten Geschäfte durch irgendwelche Boutiquen und Nachtbars ersetzt werden. Für mich ist Wien wie ein stilles, tiefes Gewässer, in dem seltsame Wesen mit Tentakeln leben, die anderswo von der Strömung abgerissen werden würden. Berlin dagegen ist wie ein schneller, flacher Bach, in dem man stromlinienförmig gestylt sein muss, um sich zu halten.

»Es gibt nichts Internationaleres als Provinz.«

MYP Magazine:
In Ihrem aktuellen Programm geht es neben Wien auch immer wieder um das Weinviertel. Diese eher landwirtschaftlich geprägte Region im äußersten Nordosten Österreichs wird von Ihrem Protagonisten als ausgesprochen provinziell dargestellt. Darauf könnte man mit einem Zitat antworten, das Manfred Rommel zugeschrieben wird: „Provinz ist kein Ort, sondern eine Geisteshaltung.“

Josef Hader:
Der Kabarettist Sigi Zimmerschied hat schon 20 Jahre zuvor gesagt, dass Provinz kein geografischer Begriff sei. Und das stimmt auch. Mein Protagonist spielt eher darauf an, dass es auf dem Land andere Regeln und Gewohnheiten gibt als in der Großstadt. Und das gilt nicht nur für Österreich. Wenn ich beispielsweise in deutschen oder italienischen Dörfern unterwegs bin, merke ich immer wieder, dass es auf dem Land stets dieselben Regeln gibt: wie man sich verhält, wie man grüßt, wie man miteinander umgeht. Es gibt nichts Internationaleres als Provinz.

»Durch die 68er-Bewegung konnte das, was wir heute liberale Demokratie nennen, überhaupt erst entstehen.«

MYP Magazine:
Sie beobachten unsere Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten sehr genau. Haben Sie den Eindruck, dass wir eher provinzieller statt progressiver geworden sind in unserer Weltanschauung und Moral?

Josef Hader:
Als Küchenhistoriker könnte ich die Theorie aufstellen, dass das Pendel kontinuierlich hin- und herschwingt, weil sich aufeinanderfolgende Generationen immer aneinander reiben. So folgten beispielsweise auf die dunkle Nazizeit und die piefigen Nachkriegsjahre der Rock’n’Roll und schließlich die 68er-Bewegung, durch die das, was wir heute liberale Demokratie nennen, überhaupt erst entstehen konnte. Und aktuell gibt es dazu wieder eine entsprechende Gegenbewegung, die glaubt, dass liberale Demokratie scheiße ist. Ich hoffe, dass diese Leute in der Minderheit bleiben.

»Österreich ist schon ein besonders abgründiges Land – das sage ich auch mit einem gewissen Stolz.«

MYP Magazine:
In vielen Interviews mit Ihnen hat man den Eindruck, Sie müssten uns Deutschen ständig die Politik Österreichs erklären, insbesondere wenn das Pendel mal wieder nach rechts schwingt.

Josef Hader:
Das liegt an den Fragen. Ich werde da oft als Ethnologe verwendet, dagegen kann man nichts machen.

MYP Magazine:
Wäre es nicht an der Zeit, sich mit dem Problem rechten Gedankenguts auf gesamteuropäischer Ebene auseinanderzusetzen, statt sich nur an den Skurrilitäten Österreichs abzuarbeiten?

Josef Hader:
Satire funktioniert nur, wenn sie nahe am Menschen bleibt, also beschäftige ich mich mit den Österreichern, die kenne ich am besten. Dass menschliche Schwächen keine nationalen Eigenheiten sind, ist ja eh klar. Aber es gibt auch Unterschiede, jedes europäische Land hat seine ganz eigene Geschichte. So hat beispielsweise Österreich seine Nazi-Vergangenheit kaum aufgearbeitet, während das in Deutschland sehr ausführlich passiert ist. Österreich ist schon ein besonders abgründiges Land – das sage ich auch mit einem gewissen Stolz. Dadurch haben wir immer so interessante Künstler gehabt. Und eine Form von Kabarett, die sich nicht an Politikern abarbeitet, sondern am Menschen an sich – so böse, wie das in einer Unterhaltungsform möglich ist.

»Jörg Haider konnte auf äußerst charmante Weise richtig böse Botschaften verkaufen. Da reichen die Nachfolger nicht heran.«

MYP Magazine:
Gestatten Sie uns dennoch eine Frage zu Jörg Haider, dem ehemaligen FPÖ-Vorsitzenden und Kärntner Landeshauptmann, der 2008 tödlich verunglückt ist. Im Januar 2009 wurde über einen deutschsprachigen Teleshopping-Kanal eine CD-Kollektion mit österreichischen Volksliedern verkauft, gesungen von Haider höchstpersönlich. Angepriesen wurde dort „die weltexklusive Dr.-Jörg-Haider-in-memoriam-Collection, ein Highlight für alle Haider-Fans und Liebhaber der österreichischen Volkskultur“, moderiert vom ehemaligen RTL-Mann Walter Freiwald. Wenn es Rechtspopulisten in das Programm von Teleshopping-Sendern schaffen, ist das der Anfang vom Ende des Kapitalismus?

Josef Hader:
Nein, es ist absolut typisch für den Kapitalismus, wenn so etwas zu Geld gemacht wird. Es würde mich interessieren, welche Lieder das sind. Jörg Haider hat sehr gerne diese langsamen, melancholischen Kärntner-Lieder gesungen – er war ein sentimentaler Mensch. Der Mann konnte auf äußerst charmante Weise richtig böse Botschaften verkaufen. Da reichen die Nachfolger nicht heran, muss man sagen.

»Europa ist ein Konstrukt, zu dem man keine rein enthusiastische Beziehung haben kann.«

MYP Magazine:
Im Jahr 2016 haben Sie im Film „Vor der Morgenröte“ den jüdischen Autor Stefan Zweig gespielt, der 1934 vor den Nazis ins Ausland geflohen ist. An einer Stelle sagt Zweig: „Ich glaube an ein freies Europa. Ich glaube, dass Grenzen und Pässe eines Tages der Vergangenheit angehören.“ In Ihrem aktuellen Programm geht es unter anderem um ertrinkende Menschen im Mittelmeer sowie rechte Arme, die überall wieder nach oben zucken. Denken Sie bei diesen Bildern, die ein Symptom für den Zustand Europas im Jahr 2022 sind, oft an Stefan Zweig zurück?

Josef Hader:
Wie Stefan Zweig mag auch ich die Idee von Europa wahnsinnig gern. Ich mag es, dass all diese Länder, die früher aufeinander geschossen haben, heute etwas gemeinsam wollen und bestimmte Werte teilen. Das ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt. Aber gleichzeitig ist es auch ein großer Schmerz, wie verlogen die Sache eigentlich ist. Wie in fulminanten Sonntagsreden betont wird, dass Europa nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Wertegemeinschaft sei. Am Ende werden diese Reden aber nur dafür benutzt, um den ganz argen Ausreißern eine Moralpredigt zu halten. Und meistens betrifft das osteuropäische Staaten wie Ungarn oder Polen.
Dabei sind wir Westeuropäer auch nicht in der Lage, diese Werte mit Leben zu füllen. Wir schotten uns ab und haben keine Strategie, wie man mit Menschen auf der Flucht umgeht und welche Möglichkeiten man all jenen bietet, die wirklich verfolgt sind. Es gibt kein gemeinsames, funktionierendes System, das kann es nur geben, wenn alle Länder solidarisch sind. Sind sie aber nicht. Das macht Europa zu einem Konstrukt, zu dem man keine rein enthusiastische Beziehung haben kann.

»Mich haben diese älteren grauen Herren so genervt, die das Ende der Welt heraufbeschworen haben.«

MYP Magazine:
Es gibt hier in Berlin einen Künstler namens Eike König, der mal in einer Ausstellung den Werdegang der Menschheit knapp zusammengefasst hat: „Das Feuer das Auto das Internet das Ende.“ Schauen Sie persönlich etwas optimistischer in die Zukunft?

Josef Hader:
1963, da war ich gerade ein Jahr alt, wäre es beinahe zu einem Atomkrieg gekommen. Die gesamte Menschheit stand kurz davor, sich selbst per Knopfdruck auszulöschen – und da war das Internet noch gar nicht erfunden. Die atomare Gefahr war für mich in den 1970ern und 1980ern allgegenwärtig. Trotzdem hat mich die ständige Bedrohung nicht daran gehindert, meine Zukunft gestalten zu wollen. Auch, weil mich diese älteren grauen Herren so genervt haben, die das Ende der Welt heraufbeschworen haben. Es ist mir daher sehr unsympathisch, irgendeine Zukunftsangst zu verbreiten – obwohl wir Menschen gerade alles dafür tun, den Planeten absolut unbewohnbar zu machen, und überall staatliche Strukturen zusammenbrechen. Diese Kombination könnte sich möglicherweise als die größte Gefahr herausstellen, die noch auf uns wartet.

»Ich weiß nicht, welchen Blödsinn ich noch mache.«

MYP Magazine:
Im Jahr 2009 wurden Sie in einem Interview gefragt, wie Sie auf Ihr bisheriges Leben blicken. Sie sagten, dass Sie nicht zufrieden damit seien, wie sie gealtert seien. Sie seien schlecht mit der Zeit umgegangen, hätten die falschen Sachen gemacht, hätten mehr schreiben und sich neu entdecken sollen…

Josef Hader:
Das klingt nach einer Midlife-Crisis.

MYP Magazine:
Sehen sie das heute, 13 Jahre später, anders?

Josef Hader:
Ja, ich glaube, aus dieser Krise bin ich draußen. Möglicherweise bin ich heute eine kleine Spur zufriedener mit dem Leben. Aber das kann sich jederzeit ändern. (grinst) Ich weiß ja nicht, welchen Blödsinn ich noch mache.

»An meinem Geburtstag könnte ich ein bisschen auf dem Heuboden mithelfen.«

MYP Magazine:
In „Vor der Morgenröte“ sagt Ihre Figur Stefan Zweig zu einem Begleiter: „Wissen Sie, was Tolstoi sagt? Jeder Mann mit 60 soll sich im Dickicht verkriechen wie die alten Tiere.“ Nun werden Sie selbst bald 60 Jahre alt. Was haben Sie vor? Verkriechen Sie sich im Dickicht oder steigen Sie in den Nachtzug nach Rom?

Josef Hader:
Ich schätze Tolstoi sehr und stimme ihm da gerne zu. Ich werde mich an meinem Geburtstag tatsächlich ins Dickicht verkriechen wie ein altes Tier. Und die angenehmere Version des Dickichts ist für mich der Nachtzug nach Rom. Das ist auf jeden Fall eine Option. Ich könnte aber auch Urlaub im Waldviertel machen, auf dem Bauernhof meines Bruders. Da könnte ich dann ein bisschen auf dem Heuboden mithelfen. Das ist auch ein Dickicht.

MYP Magazine:
Auf Zweigs Bemerkung antwortet der Begleiter: „Aber Tolstoi ist doch über 80 geworden!“ Und Zweig entgegnet: „Vielleicht hat er sich im Dickicht wohlgefühlt.“

Josef Hader:
Tolstoi ist ein schlechtes Beispiel. Der hat am Schluss sehr unter seiner Frau gelitten – und sie unter ihm. Der Lebensausklang war kein Happy End, wie meistens bei diesen alten weißen Männern. Ich fürchte, ich werde da keine Ausnahme sein.

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