Interview — Narges Rashidi

Von der Vermenschlichung des Bösen

In der opulenten Sky-Produktion »Gangs of London« ist Schauspielerin Narges Rashidi gerade in der Rolle der Untergrundkämpferin Lale zu sehen. Das Besondere an der Serie: Sie sieht nicht nur aus wie eine Bond-Produktion, sondern bildet auch die Realität einer modernen, diversen Gesellschaft ab – mit all ihren Errungenschaften und Problemen. Ein Gespräch über Familienbande, Brutalität und die Frauenquote in der Unterwelt.

1. Oktober 2020 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Als Francis Ford Coppola am 15. März 1972 seinen Film „Der Pate“ auf die US-amerikanischen Leinwände brachte, rannten die Menschen regelrecht die Kinos ein. Die Verfilmung des gleichnamigen Mafia-Romans von Mario Puzo spielte allein am ersten Wochenende über 300.000 Dollar ein, wurde für insgesamt elf Oscars nominiert und ergatterte am Ende drei davon. Und mit einem Gesamterlös von 245 Millionen Dollar weltweit rettete er – ganz nebenbei – die Firma Paramount vor dem Ruin.

Dass am Sujet der kriminellen Familienbande etwas dran sein muss, was das Publikum regelrecht in seinen Bann zieht, zeigt nicht nur der Erfolg von „Der Pate“ und seinen beiden Fortsetzungen. Über die folgenden Jahrzehnte entstanden immer neue Filme und Serien, die in der düsteren Welt der organisierten Kriminalität spielen. Addiert man zu dem Plot einen mächtigen Familienclan, der aus der Unterwelt heraus die Gesellschaft und ihre Regeln unterwandert, ist das fast so etwas wie ein Erfolgsgarant. Denn wie hieß es schon bei Goethe: „Zu Zeiten der Not bedarf man seiner Verwandten.“

Mafia-Stoffe sind heute ein fester Teil der Popkultur. Und so wundert es nicht, dass auch die großen Streaming-Plattformen auf den Geschmack gekommen sind. Ob „The Irishmen“, „Peaky Blinders“ oder „4 Blocks“, der unersättliche Hunger des Online-Publikums verlangt nach immer neuen Storys, die an immer neuen Orten und zu immer neuen Epochen spielen.

Eines der jüngsten Mitglieder dieses illustren Ensembles ist „Gangs of London“. Die Serie des Streaming-Anbieters Sky, die am 23. April in Großbritannien startete, ist seit wenigen Wochen auch in Deutschland verfügbar. Gedreht wurde sagenhafte 175 Tage lang an fast 100 verschiedenen Drehorten in Großbritannien. Qualitativ hat sich dieser Aufwand definitiv ausgezahlt, die neun Episoden der ersten Staffel fühlen sich an wie eine Bond-Produktion.

Doch das Besondere an der Serie ist nicht unbedingt ihre visuelle Opulenz. Das können andere auch, wenn sie nur genügend Geld ausgeben. Es ist vielmehr das, was auch das Lexikon des internationalen Films über Coppolas „Der Pate“ schreibt: „Ein gewaltiger Gangsterfilm, der zeitgenössische Probleme […] transparent macht und in reißerischer Verpackung als perfekte Unterhaltung anbietet. Der überlange Film ist nicht ohne detaillierte Grausamkeit, wird aber vornehmlich sehenswert wegen des brillanten Spiels der Hauptdarsteller und interessiert auch als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen.“

Mittendrin in dieser opulenten Gangsterserie ist die 40-jährige Schauspielerin Narges Rashidi. Sie verkörpert die kurdische Untergrundkämpferin Lale, die aus London heraus versucht, durch kriminelle Geschäfte ihre PKK-Leute in der Heimat zu unterstützen. Dieses Engagement geht so weit, dass sie irgendwann gezwungen ist, das Wohl ihrer Familie gegen das ihrer Heimat abzuwägen.

Dabei würde bereits Narges‘ eigene Vita genug Stoff liefern, um ein spannendes Drama zu erzählen. Geboren wurde sie 1980 in der westiranischen Stadt Chorramabad. In jenem Jahr brach auch der Iran-Irak-Krieg aus, auch Erster Golfkrieg genannt, der insgesamt acht Jahre andauern sollte.

1987 floh Narges mit ihrer Familie über die Türkei nach Deutschland, wo sie in dem beschaulichen Städtchen Bad Hersfeld landete. Nach dem Abitur zog sie nach Berlin, wo sie eine Schauspiel-Ausbildung absolvierte und erste Rollen in Independent-Filmen ergatterte. Ihren Durchbruch erreichte sie mit dem Hollywood-Blockbuster Aeon Flux, der 2006 in die deutschen Kinos kam.

2015 spielte sie die Hauptrolle im Horrorfilm „Under the Shadow“ von Babak Anvari. Das Drama erzählt in bedrückender Weise die Geschichte einer jungen, selbstbewussten Frau und ihrer Familie zum Ende des Ersten Golfkriegs im Iran – eine Rolle, die Narges Rashidi hautnah an ihre eigene Familiengeschichte brachte.

Heute lebt die Schauspielerin mit ihrem Mann in Los Angeles, gerade dreht sie in Deutschland für die siebenteilige Justiz-Drama-Miniserie „Ferdinand von Schirach – Glauben“. Nahe des Weinbergsparks in Berlin-Mitte treffen wir sie zum Interview.

»Nur weil jemand kriminell ist, heißt das nicht, dass er oder sie das Herz nicht an der richtigen Stelle haben kann.«

MYP Magazine:
Neben „Gangs of London“ ist in den letzten Jahren eine ganze Reihe erfolgreicher Filme und Serien erschienen, in denen es um Clan-Kriminalität geht. Was ist Deiner Meinung nach das Faszinierende an dem Thema?

Narges Rashidi:
Ich glaube, das hat sehr viel damit zu tun, was man im Englischen als the humanizing of the villain bezeichnen würde: die dramaturgische Darstellung von Bösewichten als normale Menschen. Für die Zuschauer entsteht ein besonderer Reiz, wenn die Hauptprotagonisten eines Films oder einer Serie nicht als strahlende Helden angelegt sind, sondern eher als antiheroes. Diese Figuren sind uns normalen Menschen viel ähnlicher – zwar nicht in Bezug auf ihre kriminelle Energie oder Kaltblütigkeit, sondern weil sie Schwächen und Abgründe offenbaren, die in jedem von uns schlummern. Und wie jeder gute Mensch dunkle Seiten hat, so hat in der Regel auch jeder schlechte Mensch zumindest ein paar gute. Nur weil jemand kriminell ist, heißt das nicht, dass er oder sie das Herz nicht an der richtigen Stelle haben kann. Im Prinzip ist ein Mafiaboss ja trotzdem auch ein Vater oder Ehemann. Diese Widersprüchlichkeit finde ich total spannend. Und ich glaube, das ist es auch, was die Zuschauer so gut an dem Thema finden.

»Auch in Mafiaclans geht es um Themen, die sich in ganz normalen Familien abspielen.«

MYP Magazine:
Darüber hinaus herrscht in diesen Clan-Familien ein ganz besonderer Zusammenhalt…

Narges Rashidi:
Stimmt, diese Familien unterscheiden sich lustigerweise gar nicht so stark von denen aus Telenovela-Geschichten. Auch in Mafiaclans geht es irgendwann um Themen, die sich genauso in ganz normalen Familien abspielen. Damit kann sich jeder identifizieren ¬– und es trägt zusätzlich zur sogenannten Vermenschlichung des Bösen bei.
Überhaupt steht „Gangs of London“ für eine recht neuartige Form des Erzählens. Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre es undenkbar gewesen, dass die Hauptfiguren einer solchen Story nicht die gute Seite repräsentieren, sondern als Antiheld auf der anderen Seite stehen. Und man hätte auch nie den Übergang von Gut zu Böse so diffus gezeichnet, wie wir das tun – da musste alles ganz klassisch in Schwarz und Weiß aufgeteilt sein.

»Die Brutalität, die in der Londoner Unterwelt stattfindet, ist nicht wirklich weit entfernt von dem, was wir in der Fiktion zeigen.«

MYP Magazine:
„Gangs of London“ ist an vielen Stellen überaus brutal. Auch Deine Figur Lale schreckt nicht davor zurück, Gewalt anzuwenden und zu ertragen. Was ist Deiner Meinung nach der Grund, dass in der Serie Gewalt auf so eine ausführliche – und man muss leider sagen kreative – Art und Weise erzählt wird? Welcher inhaltliche Mehrwert wird dadurch geschaffen?

Narges Rashidi:
Bevor ich angefangen habe, die Serie zu drehen, habe ich sehr viel zur Londoner Unterwelt recherchiert. Und ganz ehrlich: Die Brutalität, die dort stattfindet, ist nicht wirklich weit entfernt von dem, was wir in der Fiktion zeigen. Nur dass wir sie dort natürlich in besonderer Weise inszenieren und überdramatisieren. Ich denke da etwa an die Szene, wo Elliot Finch im Pub mit einem Dartpfeil acht Männer ausschaltet. Aus meiner Perspektive versucht „Gangs of London“ zwei Anforderungen gerecht zu werden: Sie stellt einerseits den Bezug zur Realität her und liefert gleichzeitig einen gewissen Spannungs- und Unterhaltungswert. Dabei ist unsere Serie übrigens nie gewaltverherrlichend – diesen Eindruck habe ich an keiner Stelle.

MYP Magazine:
Diese Gewalt findet auch immer wieder in unmittelbarer Nähe von Kindern statt, ohne dass sie dem Ganzen entfliehen können. An einer Stelle werden sie sogar in die Ausübung von Gewalt mit einbezogen…

Narges Rashidi:
Wenn Eltern sich in so einer Welt bewegen und zulassen, dass ihre Kinder ein Teil davon sind, ist es schwer, sie letztendlich davor zu beschützen.

»Irgendwann wird der Krieg Teil des Alltags.«

MYP Magazine:
Erinnern Dich diese Szenen in gewisser Weise an Deinen Film „Under the Shadow“? Auch dort wird auf bedrückende Art und Weise gezeigt, wie Gewalt und Brutalität zur alltäglichen Normalität von Kindern gehören kann.

Narges Rashidi:
Es gibt da einen grundlegenden Unterschied. Die Kinder in „Gangs of London“ wachsen in einer Welt der Kriminalität auf. In „Under the Shadow“ aber erlebt das kleine Mädchen Krieg, und das über einen langen Zeitraum. Wenn Du so willst, war ich dieses kleine Mädchen im Iran in den Achtzigern. Und tatsächlich wird selbst so ein Krieg, wenn er lange genug andauert, irgendwann zur Normalität – auch wenn so etwas natürlich nicht normal ist. Aber irgendwann wird der Krieg Teil des Alltags. In meinem eigenen Leben gab es eine Situation, die ich nie vergessen werde. Ich lag auf dem Schoß meiner Mutter und habe geschlafen, als ich plötzlich von einem lauten Geräusch geweckt wurde. Ich habe sie gefragt, was das gewesen sei. Sie antwortete: „Ach, das war nur eine Bombe. Schlaf weiter.“

»Ich habe mich gefragt, wie ich diese Figur anlegen kann, damit man mir glaubt, dass ich gegen die Jungs gewinne.«

MYP Magazine:
Dein Charakter Lale scheint von allen Gangstern die Abgeklärteste und Härteste zu sein. Gleichzeitig ist sie die einzige, die ihr kriminelles Handeln unter ein höheres Ziel stellt. Während andere von reiner Profit- oder Rachsucht angetrieben werden, versucht sie als kurdische Freiheitskämpferin, im Londoner Exil Geld für ihre Landsleute zu erwirtschaften. Wie blickst Du persönlich auf diese Figur? Wie war es für Dich, ihr beim ersten Lesen des Drehbuchs zu begegnen?

Narges Rashidi:
Ich fühle mich grundsätzlich zu starken Frauenfiguren hingezogen – das ist übrigens auch etwas, was es im Film und in Serien noch nicht allzu lange gibt. Aber bei Lale ist es so, dass sie im Vergleich zu den weiblichen Charakteren, die ich bisher kannte, noch einen draufsetzt. Sie ist wahnsinnig stark und wie alle anderen auch eine Antiheldin. Diese Dreidimensionalität der Rolle hat mich extrem gereizt. Und davon abgesehen ist sie sehr, sehr gut geschrieben.
Für mich bestand die größte Herausforderung in der Frage, wie ich diese Figur anlegen kann, damit man mir glaubt, dass ich gegen die Jungs gewinne? Dass ich physisch und mental so stark bin, dass ich so viele Männer plattmache? Gleichzeitig ging es auch darum herauszufinden, wo die sentimentalen Momente sind, wo sie Mensch ist – vor allem in den Situationen, in denen sie das Leben aufs Spiel setzt. Ich wollte nachempfinden, was es mit dieser Figur macht, wenn sie ihre Schwester und Nichten in Lebensgefahr bringt für das große Ganze. Diese Ambivalenz hat mich wirklich gepackt. Es war toll, das zu spielen.

MYP Magazine:
Du spielst auf die Szene am Flughafen, wo Lale bewusst wird, dass sie gerade ihre Familie für einen Geldtransport nach Kurdistan geopfert hat. In diesem Moment läuft es einem als Zuschauer eiskalt den Rücken herunter, weil dort ihre gesamte Abgeklärtheit offenbar wird.

Narges Rashidi:
Ja, aber sie bricht kurz darauf zusammen. Auch wenn sie eine Entscheidung getroffen und diese in die Tat umgesetzt hat, merkt sie letztendlich, dass es doch etwas mit ihr macht, ihre Familie und ihr persönliches Glück für die große Sache zu opfern. In diesem Moment ist sie nicht abgeklärt, es tut ihr extrem weh.

»Wenn man durch die Straßen Londons läuft, sieht man so viele interessante Menschen verschiedenster Herkunft und Hautfarben. Das spiegelt sich sehr in dieser Serie wider.«

MYP Magazine:
Neben all der Dunkelheit und Brutalität zeigt sich „Gangs of London“ auch von einer sehr progressiven und modernen Seite, und zwar in Bezug auf die Art und Weise, wie dort gesellschaftliche Diversität abgebildet wird: Es gibt viele spannende weibliche Charaktere, von denen man immer wieder überrascht wird, wenn sie nach und nach die Bühne betreten; die Homosexualität eines Gangstersohnes, der schwule Orgien feiert, wird nicht – wie früher noch – als etwas Problematisches erzählt, sondern als etwas völlig Normales; ein Mann mit pakistanischen Wurzeln wird Bürgermeister von London – ganz wie in der Realität…

Narges Rashidi:
Das ist London! Wenn man dort durch die Straßen läuft, sieht man so viele interessante Menschen verschiedenster Herkunft und Hautfarben, die alle möglichen Sprachen sprechen. Und wenn man an Restaurants vorbeigeht, riecht man die unterschiedlichsten und exotischsten Gewürze. Das spiegelt sich sehr in dieser Serie wider.

»Das, was man hier im Fernsehen sieht, spiegelt selten das Stadtbild wider, das einem im Alltag begegnet.«

MYP Magazine:
In den letzten Jahren waren es vor allem britische oder amerikanische Produktionen, die sich in Sachen Diversität geöffnet haben. Wie blickst Du aus dieser Perspektive aktuell auf die deutsche Produktionslandschaft?

Narges Rashidi:
Natürlich ist das in den USA und in Großbritannien immer noch ein Thema. Und auch dort ist lange noch nicht alles so, wie es sein könnte oder sollte. Aber ich habe den Eindruck, dass Deutschland da noch viel weiter zurück ist. Das, was man hier im Fernsehen sieht, spiegelt selten das Stadtbild wider, das einem im Alltag begegnet. Ich habe es vor Kurzem schon in einem Interview gesagt: Ich bin in einer Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern aufgewachsen, in der ich seit 20 Jahren nicht mehr wohne. Und selbst damals war unser Stadtbild schon bunter als heute im Fernsehen. Dabei ist das Stadtbild in Bad Hersfeld und überall sonst in Deutschland noch viel diverser. Ich selbst hatte auch vor diesem Beruf nie das Gefühl, anders zu sein. Das kam erst mit der Schauspielerei und den Angeboten in Deutschland. Zwar ändert sich das gerade, aber eben langsam. Sehr langsam.

»Im Laufe der Story kommen etliche starke weibliche Figuren dazu. Dennoch ist die Serie männerdominiert – ein Abbild des wahren Lebens.«

MYP Magazine:
Bei all der Diversität in „Gangs of London“ ist Lale ganz am Anfang der Serie die einzige Frau am großen Tisch der Gangsterbosse. Glaubst Du, dass wir tatsächliche Gleichberechtigung erst erreicht haben, wenn selbst in der Unterwelt ein Frauenanteil von 50 Prozent herrscht?

Narges Rashidi (lacht):
Das weiß ich nicht. Zur Ehrenrettung von „Gangs of London“ muss ich sagen, dass man bei so einer Serie die Figuren nach und nach einführen muss, damit die Zuschauer nicht überfordert sind und sich eine gewisse Dramaturgie aufbaut. So kommen im Laufe der Story etliche starke weibliche Figuren dazu, wie etwa die Mutter oder die Polizistin. Und ganz am Ende tritt die Frau von Gangsterboss Luan immer stärker in Erscheinung und zeigt, dass sie diejenige ist, die die Hosen anhat und ihrem Mann sagt, was er zu tun hat. Dennoch ist die Serie natürlich männerdominiert – auch ein Abbild des wahren Lebens. Daher dürften es für meinen Geschmack gerne noch ein paar Frauen mehr sein (grinst).

»Für Schwarze und Iren war in der feinen Londoner Gesellschaft kein Platz.«

MYP Magazine:
Auf der Beerdigung des Gangsterbosses Finn Wallace erklärt Ed Dumani, selbst ein etablierter und mächtiger Gangster, dass es sein einziges Ziel gewesen ist, dass es in London keine Tür mehr gibt, die nicht für ihn offensteht – für ihn, der sich wie Finn aus einer unterprivilegierten Minderheit in der kriminellen Welt nach oben gearbeitet hat…

Narges Rashidi:
… „no Irish, no Black”. Für Schwarze und Iren war in der feinen Londoner Gesellschaft kein Platz.

MYP Magazine:
Exakt. Und dann erklärt Ed Dumani, wie er seine Aufgabe als mächtiger Unterwelt-Geschäftsmann versteht: „We’re giving opportunities to the disadvantaged“ – auch das entspricht der Auffassung realer Mafia-Organisationen. Glaubst Du, dass solche kriminellen Strukturen verschwinden würden, wenn unsere Gesellschaft eine solidarischere wäre?

Narges Rashidi:
Das ist eine sehr romantische Vorstellung von der Welt. Ich fände es schön, wenn dem so wäre. Aber ob ich daran glaube? Eher nein. Dafür bin ich zu sehr Realistin.

»Unser ganzes System ist fragil, unsere Demokratie, unsere Welt, unsere Gesellschaft.«

MYP Magazine:
Gutes Stichwort. Was „Gangs of London“ letztendlich so realistisch erscheinen lässt, ist, dass die Serie wie die Momentaufnahme einer modernen, urbanen, westlichen Gesellschaft unserer Zeit wirkt – mit all ihren Errungenschaften, aber auch mit all ihren Problemen. Neben der Zweiklassengesellschaft, die Minderheiten ausgrenzt, finden auch Themen wie Gentrifizierung, Verdrängung oder archaische Machtstrukturen statt, etwa wenn der junge Alexander Dumani zu seinem Vater Ed sagt: „Your generation is like a virus.“ Und als wäre das nicht genug, kann man dabei zusehen, wie die Konflikte dieser Welt stellvertretend in der Stadt London ausgetragen werden. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, die Fiktion werde von der Realität immer öfter vor sich hergetrieben…

Narges Rashidi:
Das zeigt uns doch, wie fragil unser ganzes System ist, unsere Demokratie, unsere Welt, unsere Gesellschaft. Und dass wir nie aufhören dürfen, daran zu arbeiten. Man muss sich nur immer wieder bewusst machen, was Menschen im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte imstande waren, anderen Menschen anzutun.

»Wir müssen wirklich aufpassen, was wir alles zulassen. Und wen wir wählen.«

MYP Magazine:
Im Trailer des Films „Aeon Flux“ aus dem Jahr 2005 – der erste Kinofilm, in dem Du mitgespielt hast – spricht die Off-Stimme folgende Worte: „We are in the last city on earth. Some call it the perfect society. But others know better. Government control is total. People disappear as though they never existed.” War hier die Fiktion der Realität voraus, wenn man auf das Weltgeschehen im Jahr 2020 blickt?

Narges Rashidi:
Das, was da geschildert wird, ist nicht exklusiv unserer Zeit vorbehalten. Das hat es immer gegeben und wird es noch weiterhin eine ganze Weile geben – leider. Ich kann dazu nur meine Antwort von eben wiederholen: Unsere Welt und unsere Demokratie sind sehr fragil. Wir müssen wirklich aufpassen, was wir alles zulassen. Und wen wir wählen.

MYP Magazine:
Am 3. November finden in den USA die Präsidentschaftswahlen statt. Wirst Du davor oder danach wieder nach L.A. zurückfliegen?

Narges Rashidi:
Soweit ich weiß, geht mein Flug am 3. November. Das Schlimme ist, dass ich schon 2016 genau an dem Tag im Flugzeug saß, als in den USA der neue Präsident gewählt wurde. Ich erinnere mich noch genau, wie ich im Flieger die erstens Ergebnisse mitbekommen habe. Danach habe ich den Rest des Flugs nur geweint. Ich hoffe nicht, dass es dieses Jahr wieder so kommt.

»Die Herzlichkeit und Wärme der Iraner, die Höflichkeit der Engländer, das Selbstbewusstsein der Amerikaner und die Ehrlichkeit der Deutschen.«

MYP Magazine:
Lass uns von den Dystopien zu den Utopien schwenken. Du gehörst zu den Menschen, die das große Privileg haben, bereits in ganz unterschiedlichen Gesellschaften gelebt und diese erlebt zu haben – vom Iran über die Türkei bis nach Deutschland und die USA. Und durch den Dreh an „Gangs of London“ hast Du auch eine gewisse Zeit in Großbritannien verbracht. Welche Aspekte dieser so verschiedenen Gesellschaften würdest Du wählen, wenn Du dir eine perfekte Community zusammenbauen könntest?

Narges Rashidi (lacht):
Ich würde mir in erster Linie von überall sehr viel Kulinarisches mitnehmen – ich esse unfassbar gerne. Aber Spaß beiseite. Wie würde ich mir eine perfekte Community zusammenbauen? Ich glaube, ich würde die Herzlichkeit und Wärme der Menschen aus dem Iran nehmen, gepaart mit der Höflichkeit der Engländer, dem Selbstbewusstsein der Amerikaner und der Ehrlichkeit der Deutschen.

MYP Magazine:
In einem Interview mit den Kollegen von Ajouré hast Du darüber gesprochen, dass Deine Eltern im Iran mit Euch Kindern immer viel gelacht hätten, um sich nichts von den Schrecken des Krieges anmerken zu lassen – dabei hatten sie selbst wahrscheinlich größte Angst um Euch. Gehst Du heute als erwachsener Mensch ähnlich mit Extremsituationen um?

Narges Rashidi:
Wenn es wirklich hart auf hart kommt, bleibe ich äußerst ruhig – ich glaube, das ist so ein gewisses Ur- oder Gottvertrauen, das ich von meinen Eltern habe.

»Ich war lange sehr damit beschäftigt, eine perfekte Deutsche zu werden.«

MYP Magazine:
Hast Du durch die intensive Vorbereitung auf „Under the Shadow“ erst in vollem Umfang realisiert, wovor deine Eltern Dich und Deine Brüder damals beschützt haben?

Narges Rashidi:
Ich würde sagen, ja. Als ich damals mit meinen Eltern aus dem Iran ausgewandert bin, war ich gerade einmal sieben Jahre alt. In Bad Hersfeld musste ich dann in relativ kurzer Zeit nicht nur eine neue Sprache lernen, sondern auch eine neue Kultur. Ich war lange sehr damit beschäftigt, eine perfekte Deutsche zu werden. Daher hat sich für mich als Jugendliche und junge Frau die Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit erst mal nicht ergeben. Ich war einfach zu sehr mit meinem Deutschwerden beschäftigt. Die iranische Seite von mir konnte ich da nicht wirklich leben. Mit „Under the Shadow“ habe ich mich aber tatsächlich wieder in diese Zeit zurückgesetzt gefühlt und ich musste mich mit den Ereignissen von damals auseinandersetzen. Durch diesen Film habe ich ein Stück weit zurück zu meinen Wurzeln gefunden, das war ein großes Geschenk – das letzten Endes auch einen überaus reinigenden Effekt hatte.

»Als erwachsener Mensch hat man sich hoffentlich soweit gefunden und geht mit den Dingen anders um.«

MYP Magazine:
Ist Dir so etwas später in Deinem Leben noch einmal passiert? Hast Du beispielsweise in den USA versucht, eine perfekte Amerikanerin zu werden?

Narges Rashidi:
Nee, als Kind ist das eine andere Sache, weil man mehr dazugehören will zu einer Gruppe oder Gemeinschaft. Als erwachsener Mensch hat man sich hoffentlich soweit gefunden und geht mit den Dingen anders um. Deshalb versuche ich nicht, die perfekte Amerikanerin zu sein. Ich versuche einfach, ich zu sein. Dennoch ist es natürlich so, dass man geprägt wird von all den Orten, an denen man lebt, und von den Menschen, denen man begegnet. Dazu gibt es den berühmten Satz von Motivationstrainer Jim Rohn: „You are the average of the five people you spend the most time with.“ Wenn man diese Theorie auf mein Leben bezieht, bedeutet das: Wenn man im Iran gelebt hat, in der Türkei, in Bad Hersfeld, in Berlin, in London und in L.A., mit all den Menschen, denen man im Laufe der Zeit dort begegnet ist, wird man am Ende so etwas wie ein Medley aus alledem.

»Heimat ist ein schönes Wort, ein wirklich schönes.«

MYP Magazine:
Kannst Du mit dem deutschen Begriff Heimat etwas anfangen?

Narges Rashidi:
Heimat ist ein schönes Wort, ein wirklich schönes.

MYP Magazine:
Ist Heimat für Dich ein bestimmter Ort?

Narges Rashidi:
Für mich ist Heimat eher ein Gefühl. Und dieses Gefühl begegnet mir immer wieder, wenn ich an die Orte zurückkehre, die besondere Stationen meines Lebens waren. Ich fühle mich beispielsweise hier in Berlin sehr zuhause, weil sich alles noch so vertraut anfühlt. Aber genauso fühle ich mich auch in L.A. zuhause, das merke ich immer, wenn ich wieder dort ankomme. Los Angeles hat für mich einen ganz bestimmten Geruch, es riecht sehr kalifornisch – ich weiß leider nicht, wie ich das anders beschreiben soll. Und ein ähnliches Gefühl habe ich auch immer noch, wenn ich nach Bad Hersfeld fahre.