Interview — Aaron Hilmer

»Ich hatte den Anspruch, in den richtigen Momenten messerscharf zu werden«

Mit der Serie »Luden« lässt Amazon die wilden und vor allem brutalen Achtziger auf der Reeperbahn wiederaufleben. Im Mittelpunkt des opulenten Sechsteilers steht der junge Zuhälter Klaus Barkowsky, der sich im Milieu Stück für Stück nach oben kämpft. Gespielt wird Lude Klaus vom 23-jährigen Aaron Hilmer, der gerade auch im vielfach ausgezeichneten Kriegsdrama »Im Westen nichts Neues« zu sehen ist. Ein Interview über seltsam charmante Zuhälter, Gewalt gegen Frauen und eine ehemalige Kiezgröße, die heute auf St. Pauli vor allem durch Volksverhetzung auffällt.

2. März 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Prostituierte, Koks und schnelle Autos, dazu viel Elend, Gewalt und Bling-Bling: Die sechsteilige Serie „Luden“, die ab dem 3. März beim Streamingdienst Amazon Prime Video zu sehen ist, hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als die 1980er Jahre auf der Reeperbahn wiederaufleben zu lassen – jenes Jahrzehnt, das zumindest für diejenigen ein goldenes war, deren Geschäftsmodell auf der sexuellen Ausbeutung von Frauen beruhte. Und auf allem, was man sonst noch so verkaufen konnte.

Mittendrin in diesem Mikrokosmos steht der anfangs unscheinbare Klaus Barkowsky. Der junge Mann ist es leid, sein Leben hinter der Theke einer schmuddeligen Kneipe auf St. Pauli zu fristen. Klaus träumt von einem Leben à la „erste Klasse Jumbojet“, dazu hat er ein ausgeprägtes Interesse am anderen Geschlecht – sexuell, versteht sich. Die Idee, ins Luden-Business einzusteigen und ein wenig bei den Etablierten mitzumischen, drängt sich daher geradezu auf.

Doch die Granden der Hamburger Zuhälterei geben nur ungern ein Stück ab von ihrem großen Kuchen. Und so muss sich Klaus seinen Weg nach oben boxen – oder besser gesagt: boxen lassen. Denn um ihn herum hat sich eine eingeschworene Crew aus Gleichaltrigen gebildet, die gerne mal die Fäuste schwingen. Auf diese Weise erkämpft sich die junge „Nutella-Bande“ peu à peu einen festen Platz am Ludentisch.

Auch wenn „Luden“ kein Biopic sein will, ist die Serie doch inspiriert von realen Personen, Ereignissen und Umständen. So gab es beispielsweise tatsächlich einen Zuhälter namens Klaus Barkowsky, dem seine langen blonden Haare und sein italienischer Supersportwagen die Spitznamen „der schöne Klaus“ und „Lamborghini-Klaus“ einbrachten. Zu seinen besten Zeiten machte er bis zu 10.000 Mark am Tag. Heute ist Barkowsky, Jahrgang 1953, im Ruhestand, versucht sich in abstrakter Malerei und lebt nach eigenen Angaben von einer Mini-Rente und Grundsicherung. Das jedenfalls gab er im Januar 2022 vor dem Hamburger Amtsgericht zu Protokoll, vor dem er sich verantworten musste, nachdem er auf St. Pauli zweimal den Hitlergruß gezeigt und dabei einmal „Sieg Heil!“ gerufen hatte.

Doch kommen wir zu Erbaulicherem, denn gespielt wird der fiktionale Klaus Barkowsky von Aaron Hilmer. Der 23-jährige, der in Hamburg lebt und aufgewachsen ist, bringt neben fundierten Orts- und einigen Dialektkenntnissen auch eine nicht unerhebliche Berufserfahrung mit. Bereits seit 2011 ist er im Geschäft, zu sehen war er etwa in den Kinofilmen „Einsamkeit und Sex und Mitleid“, „Schrotten!“ und „Das schönste Mädchen der Welt“, außerdem im ZDF-Dreiteiler „Preis der Freiheit“ und in der Netflix-Dramedy-Serie „Das letzte Wort“ mit Anke Engelke.

Und spätestens seit „Im Westen nichts Neues“ von Edward Berger auf Netflix und im Kino läuft, gehört Aarons Gesicht fest zur deutschen Film- und Fernsehlandschaft. In dem vielfach ausgezeichneten Kriegsdrama spielt er an der Seite von Hauptdarsteller Felix Kammerer den jungen Soldaten Albert Kropp: Nach anfänglicher Euphorie erleben die beiden Männer am eigenen Leib die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Im Studio unseres Fotografen Maximilian König, das nur wenige Meter entfernt von der Justizvollzugsanstalt Moabit liegt, haben wir Aaron Hilmer alias Lude Klaus zum Gespräch und Fotoshooting getroffen.

»Auf der Reeperbahn haben schon immer Menschen eine Zuflucht gesucht, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgestoßen wurden.«

MYP Magazine:
„Luden“ ist eine Serie, die die 1980er Jahre auf St. Pauli wiederaufleben lässt und von realen Personen und Ereignissen inspiriert ist. Was macht den Stoff aus Deiner Sicht für die heutige Zeit so erzählenswert?

Aaron Hilmer:
St. Pauli ist ein ganz besonderer Ort, der weitaus mehr Facetten hat als Rotlicht, Sexarbeit und Zuhälterei. Auf der Reeperbahn haben schon immer Menschen eine Zuflucht gesucht, die von der Mehrheitsgesellschaft ausgestoßen wurden. Aber man trifft dort nicht nur Misfits. Auf St. Pauli sind auch mindestens genauso viele Gutbürgerliche unterwegs, die sich einfach nur in der Kneipe einen an die Backe labern wollen. Das macht den Kiez in gewisser Weise klassenlos. Außerdem gibt es auf St. Pauli einen großen Lokalpatriotismus, die Leute unterstützen sich gegenseitig und halten zusammen. Unserer Serie ist es gelungen, dieses ganz besondere Gemisch aus abgedrehten Persönlichkeiten und tragischen Schicksalen authentisch einzufangen und spannend zu erzählen.

MYP Magazine:
Was hat Dich als Schauspieler daran gereizt, in die Haut des Zuhälters Klaus Barkowsky zu schlüpfen – eine Figur, die an den tatsächlichen „schönen Klaus“ angelehnt ist?

Aaron Hilmer:
Klaus Barkowsky sah in den Achtzigern wirklich eindrucksvoll aus, er wurde nicht ohne Grund „der schöne Klaus“ genannt. Dass man da beim Casting gerade auf mich kommen würde, hätte ich nicht erwartet. (lacht) Da dieser Charakter nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich maximal weit von mir entfernt ist, klang das für mich von Anfang an nach einer großen schauspielerischen Aufgabe. Das hat mich enorm gereizt. Davon abgesehen spielt die ganze Story quasi vor meiner Haustür.

»Mir war es wichtig, diesen Charakter so harmlos und verlockend wie möglich darzustellen.«

MYP Magazine:
In „Luden“ stellst Du deinen Klaus als eine Figur dar, der man als Zuschauer:in gerne folgt, weil sie durchaus sympathisch wirkt. Daneben gibt es immer wieder Situationen, in denen man mit diesem Charakter fremdelt und sich von ihm abwenden möchte. Denn im Leben von Zuhälter Klaus ist es völlig legitim, Frauen als Ware zu behandeln und sie für seine eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Das gelingt ihm nicht nur mit blumigen Worten und Geschenken, sondern auch mit Gewalt, wenn es sein muss. Wie bist Du mit dieser Ambivalenz der Figur umgegangen?

Aaron Hilmer:
Mir war es wichtig, diesen Charakter so harmlos und verlockend wie möglich darzustellen – mit all seiner Tollpatschigkeit und dem Charme, den er versprüht. Gleichzeitig hatte ich den Anspruch, in den richtigen Momenten messerscharf zu werden und die Abgründe seiner Persönlichkeit sichtbar zu machen. Hätte ich Klaus von Anfang an nur als bösen Mann verkörpert, könnten es die Zuschauer:innen überhaupt nicht nachvollziehen, warum ihm die Frauen in Scharen verfallen und für ihn anschaffen gehen. Diese Ambivalenz zu zeigen, war in meinem Spiel ein permanenter Seiltanz.

»Klaus ist ein Mann, der seinen eigenen Lügen glaubt.«

MYP Magazine:
In der Serie verhält sich so gut wie keine Figur moralisch vorbildlich. Dennoch ertappt man sich als Zuschauer:in immer wieder dabei, dass man für viele dieser Leute eine gewisse Empathie aufbaut, da sie wie Klaus auch über einige positive Charaktereigenschaften verfügen. Am Ende glaubt man sogar, den fiesen Zuhälter Beetle emotional zu verstehen…

Aaron Hilmer:
Und genau das ist das Gefährliche an diesen Menschen! Im einen Moment klopfen sie noch flotte Sprüche und wickeln die Frauen mit ihrem Charme um den Finger. Und im anderen Moment lassen sie die Maske fallen, zeigen ihre wahren Absichten und treten mit aller Härte und Verrohung auf. Dieses ständige Hin und Her hat es mir auch so schwer gemacht, meine eigene Figur wirklich greifen zu können. Klaus ist ein Mann, der seinen eigenen Lügen glaubt. Das macht ihn so unberechenbar und gefährlich.

»Man darf nichts beschönigen, wenn man eine authentische Geschichte über Zuhälterei erzählen will.«

MYP Magazine:
Einer der Momente, in denen Klaus‘ vordergründiger Charme demaskiert wird, ist eine Szene, in der er einer seiner Prostituierten mit Gewalt die Jacke vom Leib reißt – sie hatte sich erdreistet, das Stück von ihrem eigenen Lohn und ohne seine Erlaubnis zu kaufen. Ohnehin ist die Darstellung von Gewalt, vor allem gegen Frauen, in „Luden“ allgegenwärtig. Welche Gespräche habt Ihr Darsteller:innen dazu im Vorfeld mit Regie, Drehbuch und Produktion geführt? Warum ist es aus Deiner Sicht in der heutigen Zeit filmisch notwendig, die physische Gewalt so explizit darzustellen?

Aaron Hilmer:
Für uns alle – von der Regie bis zum Cast – war es konstant ein Thema, wie wir vor der Kamera mit diesen körperlichen Übergriffen umgehen. Denn selbstverständlich wollen wir die Gewalt gegen Frauen weder verharmlosen noch in irgendeiner Form legitimieren. Gleichzeitig darf man aber auch nichts beschönigen, wenn man eine authentische Geschichte über Zuhälterei erzählen will. Und die war vor allem in den 1980ern auf St. Pauli überaus dreckig, gewalttätig und komplex. Aus diesem Grund gab es im Vorfeld der Produktion ein sogenanntes Intimacy Coaching. Dort haben wir uns intensiv damit auseinandergesetzt, wie wir am Set für alle Schauspieler:innen einen sicheren Raum herstellen können, der uns ermöglicht, die entsprechenden Szenen verantwortungsvoll darzustellen.

»In den meisten Fällen ist es eine große Lüge, wenn Menschen behaupten, sie würden niemals so einen Ort betreten.«

MYP Magazine:
Rotlichtviertel wie das auf St. Pauli gelten für viele nach wie vor als Schmuddelecken, die man als anständige:r Bürger:in zu meiden hat. Dabei scheinen die zwischenmenschlichen Dynamiken auf dem Kiez keine anderen zu sein wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen.

Aaron Hilmer:
Ach, in den meisten Fällen ist es doch eine große Lüge, wenn Menschen behaupten, sie würden niemals so einen Ort betreten – vor allem die, die immer so anständig tun. Dieses Thema streifen wir inhaltlich auch in unserer Serie. Auf dem Kiez tummeln sich genauso viele Leute aus der Politik, Wirtschaft und feinen Gesellschaft wie die, die dort ihr Geld verdienen oder sogar leben. Beiden Welten bedingen sich gegenseitig und ziehen einen gewissen Nutzen voneinander. Und ich glaube, die Grenzen sind da fließend.

»Wenn man in den Achtzigern auf dem Kiez bestehen wollte, brauchte man viele schräge Sprüche.«

MYP Magazine:
Auch wenn sich Hamburg als Tor zur Welt versteht und die Menschen auf der Reeperbahn nicht diverser sein könnten, wirkt das Milieu, das Ihr in der Serie beschreibt, eher provinziell als international. Das liegt einerseits am teils dilettantischen Auftreten der einzelnen Figuren und dem Mikrokosmos, in dem sich alles abspielt, aber auch an dem breiten Hamburger Dialekt, den fast alle Figuren sprechen. War das für Dich als waschechten Hamburger auch sprachlich ein Heimspiel?

Aaron Hilmer:
Insgesamt hat es mir schon sehr geholfen, Hamburger zu sein. Dadurch war mir zum Beispiel von Anfang an klar, dass ich den Dialekt in der Figur unbedingt sprechen muss. Aus diesem Grund habe ich schon bei meinem allerersten Casting ein wenig Dialekt in mein Spiel einfließen lassen. Während der Dreharbeiten wurde dieser Dialekt dann in meiner Darstellung zum Selbstläufer. Klaus‘ Sprache ist sehr verspielt, dadurch konnte ich in der Rolle alle möglichen Wörter kombinieren und daraus viele schräge Sprüche formen. Die brauchte man nicht nur in den Achtzigern, wenn man auf dem Kiez bestehen wollte, sondern auch heute noch. Das erlebe ich selbst immer wieder, wenn ich mal in einer der urigen Kneipen auf St. Pauli bin.

»Ich hatte schon immer sehr starke Sensoren für Diskriminierungen aller Art.«

MYP Magazine:
Auf St. Pauli geht es immer wieder darum, „sich gerade zu machen“, was für Klaus bedeutet, sich seinen Platz auf dem Kiez zu erkämpfen und diesen zu verteidigen. Was bedeutet dieser Ausdruck für Dich persönlich?

Aaron Hilmer:
Ich hatte schon immer sehr starke Sensoren für Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen aller Art, insbesondere für Rassismus. Wenn ich sehe, dass in meiner Gegenwart ein Mensch falsch behandelt wird, heißt „gerade machen“ für mich, in die Situation einzugreifen und dem Opfer zu helfen.

MYP Magazine:
Auch in „Luden“ werden Themen wie Rassismus, Homophobie, Transfeindlichkeit oder Angst vor Aidskranken angeschnitten. Vieles davon wirkt heutzutage noch seltsam aktuell. Hättest Du dir gewünscht, dass diese Themen in der Serie ausführlicher behandelt werden, auch mit Blick auf die gesellschaftlichen Diskussionen der letzten Jahre in Bezug auf #MeToo oder #ActOut?

Aaron Hilmer:
Zuerst einmal bin ich froh, dass diese Themen überhaupt ihren Weg in eine Serie wie „Luden“ gefunden haben und dort sogar als inhaltliche Grundbausteine fungieren. Klar, rein persönlich freut es mich immer, wenn solchen Themen in einem fiktionalen Format mehr Raum gegeben wird – das beziehe ich nicht nur auf unsere Serie. Allerdings muss man aufpassen, dass man im Erzählstrang über sechs Episoden nicht zu viele Nebenbaustellen aufmacht. Aber so haben wir für eine eventuelle Fortsetzung der Serie noch ein paar inhaltliche Potenziale. (grinst)

»Wenn auf St. Pauli einer regelmäßig mit einem Lamborghini herumgefahren ist, kann man sich vorstellen, wie die Leute so einen Typ wahrgenommen haben müssen.«

MYP Magazine:
Der echte Klaus Barkowsky war mit 15 Jahren zum ersten Mal auf der Reeperbahn. Dort arbeitete er sich sukzessive nach oben, bis er in den 1980er Jahren zu einem der einflussreichsten Zuhälter auf St. Pauli wurde. Wie hat diese reale Persönlichkeit die Anlage Deiner Rolle beeinflusst? Bist Du ihm mal begegnet?

Aaron Hilmer:
Nein, wir haben uns nie persönlich getroffen, sondern nur mal kurz telefoniert. Unsere Serie ist ja auch kein Biopic des realen Klaus Barkowsky, es handelt sich hier um eine rein fiktive Figur. Trotzdem habe ich mich in meinem Spiel ein Stück weit an der realen Person orientiert und viele alte Bilder gesichtet, die das Aufgeblasene der damaligen Zeit wirklich greifbar machen. Es gibt zum Beispiel einen kleinen Videoausschnitt, in dem zu sehen ist, wie der echte Klaus Barkowsky auf dem Kiez in seinen Lamborghini steigt und einen kurzen Blick in die Kamera wirft. Das sind zwar nur fünf Sekunden, aber an solchen Elementen habe ich mich in der Vorbereitung immer wieder bedient.
Übrigens: St. Pauli war schon immer eine wahnsinnig arme Gegend. Wenn dort einer regelmäßig mit einem Lamborghini herumgefahren ist, kann man sich vorstellen, wie die Leute so einen Typ wahrgenommen haben müssen.

»Das tatsächliche Ausmaß der körperlichen Gewalt auf dem Kiez kannte ich bis dahin aus keiner anderen Quelle.«

MYP Magazine:
Gab es andere Zeitzeug:innen, mit denen Du dich über die damalige Zeit austauschen konntest?

Aaron Hilmer:
Ich habe mich unter anderem mit Waldemar Paulsen getroffen, einem pensionierten Polizist, der als Zivilfahnder „Rotfuchs“ zehn Jahre lang auf St. Pauli im Einsatz war. Herr Paulsen hatte mich im Sommer 2021 eingeladen, mit ihm einen Tag auf St. Pauli zu verbringen. Wie die meisten Menschen, die dort leben und arbeiten, liebt er diesen Kiez. Gleichzeitig hasst er die Gewalt an Sexarbeiter:innen, mit der er zu seiner aktiven Zeit als Polizist täglich konfrontiert war. Trotzdem betont er immer wieder, dass er im Dienst nicht gegen das Konzept der Sexarbeit per se gekämpft habe, sondern gegen die Kriminalität, die in diesem Umfeld stattgefunden habe. Zu unserem Treffen brachte er einen dicken Ordner mit, in dem er unzählige Fotos von physisch missbrauchten Frauen abgeheftet hatte. Zu jedem einzelnen Bild konnte Herr Paulsen eine Geschichte erzählen. Das war einerseits erschreckend, andererseits aber auch wichtig, denn das tatsächliche Ausmaß der körperlichen Gewalt auf dem Kiez, das er über all die Jahre in dem Ordner dokumentiert hatte, kannte ich bis dahin aus keiner anderen Quelle.

»Wer auf dem Kiez den Hitlergruß zeigt, hat wirklich einiges nicht verstanden.«

MYP Magazine:
Kommen wir ein letztes Mal zurück auf den realen Klaus Barkowsky. Im Januar 2022 wurde der „schöne Klaus“ vom Hamburger Amtsgericht zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er im Jahr zuvor mehrfach vor Passanten den Hitlergruß gezeigt und einmal sogar „Sieg Heil!“ gerufen hatte. Würdest Du Herrn Barkowsky empfehlen, sich mal „Im Westen nichts Neues“ anzuschauen?

Aaron Hilmer:
Das sollte er dringend. Und überhaupt: Wer auf dem Kiez den Hitlergruß zeigt, hat wirklich einiges nicht verstanden. Diese Ideologie könnte nicht weiter von St. Pauli entfernt sein. In was für einer komischen, verschobenen Welt muss dieser Mensch nur leben?

MYP Magazine:
„Im Westen nichts Neues“ hat gerade bei den BAFTA-Awards sieben Auszeichnungen abgeräumt und geht bei den Oscarverleihungen am 12. März mit neun Nominierungen an den Start. Hat der Film Dein Wertesystem in irgendeiner Weise beeinflusst?

Aaron Hilmer:
„Im Westen nichts Neues“ ist ein wahnsinnig wichtiger Film. Er zeigt mehr als deutlich, dass Krieg nicht die Antwort ist, weder vor hundert Jahren noch heute. Ich bezeichne mich selbst als Pazifist, daher hat der Film mein Wertesystem eher bestärkt als verändert.

»Wenn man mit einer fiktionalen Figur den Schrecken des Krieges durchlebt, ist es erschütternd, wenn die Fiktion plötzlich von der Realität überholt wird.«

MYP Magazine:
Die Dreharbeiten zu „Im Westen nichts Neues“ fanden zwischen März und Mai 2021 statt. Nur neun Monate später wurde mitten in Europa durch den Angriff Russlands auf die Ukraine ein brutaler und sinnloser Angriffskrieg entfesselt, für den unzählige junge Männer rekrutiert und an die Front geschickt werden – Männer wie Deine Figur Albert Kropp. Welche Gefühle haben diese realen Kriegsereignisse des Jahres 2022 in Dir ausgelöst?

Aaron Hilmer:
Die grausamen Ereignisse in der Ukraine haben mich tief getroffen. Im Film stelle ich den jungen Soldaten Albert auf seiner gesamten Reise dar – von der anfänglichen Kriegseuphorie über die Konfrontation mit der Realität im Schützengraben bis zu seinem grausamen Tod durch einem Flammenwerfer. Wenn man eine fiktionale Figur über eine so eine lange Zeit begleitet und mit ihr den Schrecken des Krieges durchlebt, ist es erschütternd, wenn die Fiktion plötzlich von der Realität überholt wird. Dabei ist das bei weitem nicht die einzige Krise, mit der wir konfrontiert sind – ich denke da zum Beispiel an die drohende Klimakatastrophe. Oder die Gefährdung der Demokratien auf der Welt. Ich habe oft das Gefühl, dass das alles ein bisschen viel zu ertragen ist für uns junge Menschen.

»Am Ende war ich nur noch Haut und Knochen, körperlich wie seelisch.«

MYP Magazine:
Im April 2021 – fast zeitgleich zur Produktion von „Im Westen nichts Neues“ – starteten auch die Dreharbeiten zur zweiten Staffel der ZDF-Katastrophenserie Sløborn, in der Du in der Rolle des Devid zu sehen bist. Nur wenige Monate später ging es mit dem Dreh von „Luden“ los. Wie bist Du in der Zeit mit diesem enormen schauspielerischen Pensum umgegangen?

Aaron Hilmer:
Das Jahr 2021 hat mich ziemlich mitgenommen – nicht nur wegen dieser drei kräftezehrenden Produktionen. Etwa vier Wochen nachdem „Luden“ abgedreht war, habe ich die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen erhalten. Das hat mir den Rest gegeben, am Ende war ich nur noch Haut und Knochen, körperlich wie seelisch.
Gleichzeitig ist es mir recht gut gelungen, die einzelnen Rollen nach den jeweiligen Drehs wieder abzulegen. Das lag insbesondere daran, dass ich Charaktere gespielt habe, die weit von dem entfernt sind, wie ich persönlich denke und fühle. Mein Klaus in „Luden“ zum Beispiel ist ein Typ, der in seiner Sprache, seiner Körperlichkeit, aber auch in seinen Wertvorstellungen der 1980er Jahre so gar nichts mit meinem eigenen Leben im Hier und Jetzt zu tun hat. Das macht es wesentlich einfacher, da schnell wieder herauszuschlüpfen. Außerdem hatte ich mit Frank Betzelt einen sehr guten Schauspielcoach an meiner Seite, der mir einige Übungen mit auf den Weg gegeben hat, wie ich nach so einem Drehtag als Zuhälter wieder einmal kurz zu mir selbst kommen kann.

»Dieses Pingpong-Spiel darf gerne so weitergehen.«

MYP Magazine:
„Luden“ startet am 3. März auf Amazon Prime Video, „Im Westen nichts Neues“ läuft bereits seit einigen Monaten auf Netflix und im Kino. Was sind Deine nächsten Rollen, in denen Du auf dem Bildschirm oder der Leinwand zu sehen sein wirst?

Aaron Hilmer:
In wenigen Wochen beginnt der Dreh zur dritten Staffel von Sløborn. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Ich hätte große Lust, wieder etwas komplett anderes zu spielen. Mein Albert Kropp in „Im Westen nichts Neues“ und mein Klaus Barkowsky in „Luden“ waren bereits zwei sehr gegensätzliche Figuren, dieses Pingpong-Spiel darf gerne so weitergehen.