Interview — Cristina do Rego

»Unsere Bewegungen sind oft viel kleiner, als sie sein könnten«

Im Dokudrama „Aracy – Der Engel von Hamburg“ spielt Cristina do Rego eine Brasilianerin, die in den 1930er Jahren mindestens 80 jüdischen Menschen zur Flucht aus Nazideutschland verholfen hat. Ein Gespräch über eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die Ambivalenz des Held*innenbegriffs und die nach wie vor schwierige Situation von Frauen und queeren Menschen in Brasilien.

8. Juni 2023 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Die Brasilianerin Aracy de Carvalho zieht 1934 mit ihrem Sohn nach Hamburg. Trotz der Nazi-Diktatur ist Deutschland für die geschiedene Mutter ein Zufluchtsort. Doch durch ihre Arbeit im brasilianischen Konsulat wird Aracy mit der Judenverfolgung im Dritten Reich konfrontiert: Wie viele andere Länder verweigert auch Brasilien den flüchtenden Asylbewerber*innen eine Aufenthaltserlaubnis.

Schicksale, die der Angestellten egal sein könnten. Doch die junge Frau setzt sich über die Gesetze ihres Landes hinweg: Sie hilft unzähligen Menschen, das Land zu verlassen. Später heiratet Aracy de Carvalho einen berühmten brasilianischen Schriftsteller und spricht nie über ihre Taten. Doch im Laufe der Jahre wird sie immer wieder Teil der Überlebensgeschichten von jüdischen Zeitzeug*innen, die ihr den Namen „Engel von Hamburg“ geben. 1982 verleiht ihr die Gedenkstätte Yad Vashem deshalb den Status einer „Gerechten unter den Völkern“.

In der neuen Arte-Dokumentation „Aracy – Der Engel von Hamburg“ wird Aracy de Carvalho von der deutsch-brasilianischen Darstellerin Cristina do Rego gespielt. Die 37-Jährige hat Erfahrung damit, markante Persönlichkeiten zu verkörpern, allerdings eher im komödiantischen Fach: Ihre Karriere begann Cristina do Rego an der Seite von Josefine Preuß in „Türkisch für Anfänger“, danach spielte sie unter anderem in den Serien „Über Weihnachten“, „Saubere Sache“ oder „Arthurs Gesetz“. Außerdem glänzte sie jahrelang als Tochter von Bastian Pastewka im gleichnamigen Serienhit „Pastewka“.

Zum Gespräch und Photoshoot in einer queeren Bar am Kottbusser Tor bringt die Kreuzbergerin frische Donuts für das Bar- und Magazinteam mit – eine Premiere der Nettigkeit beim MYP Magazine. Im Interview spricht die Schauspielerin über ihre ernsten Seiten und erklärt, warum man gute Taten nicht unbedingt mit dem Held*innen-Begriff vermischen sollte.

»Wir beide können es kaum ertragen, wenn große Ungerechtigkeiten geschehen.«

MYP Magazine:
Cristina, Du hast wie Aracy de Carvalho eine deutsche Mutter habt und wurdest in Brasilien geboren. Hast Du weitere Gemeinsamkeiten entdeckt, während Du dich mit ihrer Biografie beschäftigt hast?

Cristina do Rego:
Ein paar harte Fakten: zum Beispiel sprechen wir beide neben Portugiesisch und Deutsch auch Französisch und Spanisch. Als ich die Figur näher kennenlernte, konnte ich auch ihren Gerechtigkeitssinn sehr gut nachvollziehen – und nachempfinden. Ob ich genauso mutig gehandelt hätte wie Aracy de Carvalho, lässt sich nicht sagen. Was uns aber sehr verbindet, ist, dass wir beide es kaum ertragen können, wenn große Ungerechtigkeiten geschehen.

»Sie wusste: In Brasilien hat sie als Geschiedene mit Kind keine Chance mehr, in die Gesellschaft zurückzufinden.«

MYP Magazine:
Was hat Dich an Aracys Geschichte – abgesehen von ihren Heldinnentaten während des Nazi-Terrors – besonders inspiriert?

Cristina do Rego:
Dass sie für ihre Zeit eine wahnsinnig mutige, eigensinnige Frau war! Eine Frau, die Brasilien verlassen hat, weil sie wusste: Dort hat sie als Geschiedene mit Kind keine Chance mehr, in die Gesellschaft zurückzufinden. Trotzdem wollte sie ihr Leben genießen und hat sich deshalb auf diese Reise begeben. Allein dieser Schritt war sehr mutig. Und dann hat sie sich hier ein Leben aufgebaut, hat den Führerschein gemacht und ist arbeiten gegangen. All diese Dinge finde ich sehr bezeichnend für ihre Persönlichkeit. Mir gefällt auch, dass sie als sehr ruhig und gesetzt beschrieben wird und gleichzeitig sehr eitel war. Sie war bis ins hohe Alter eine feine Dame, immer gut gekleidet mit gemachten Haaren.

»In Brasilien ist es für Frauen immer noch schwieriger, alleinerziehend zu sein – oder überhaupt selbstständig zu sein.«

MYP Magazine:
Aracy de Carvalho kam 1934 nach Deutschland. Ihre Ehe war gerade gescheitert und als alleinerziehende Mutter wollte sie der konservativen Gesellschaft in Brasilien entfliehen, um mit ihrem Sohn in Europa ein neues Leben aufzubauen. Wenn Du aus heutiger Perspektive auf Deine brasilianische Heimat und die Diskurse in Deiner Wahlheimat Berlin blickst: Wo haben die beiden Gesellschaften aktuell die größten Schnittmengen – und wo unterscheiden sie sich deutlich voneinander?

Cristina do Rego:
Ich glaube, in Brasilien ist es für Frauen immer noch schwieriger, alleinerziehend zu sein – oder überhaupt selbstständig zu sein. So fortschrittlich Brasilien mittlerweile auch ist: Es ist ein riesiges Land und es gibt unglaublich große Unterschiede. Je ländlicher man reist, desto konservativer ist es immer noch. Die meisten jungen Leute ziehen zum Beispiel erst von zu Hause aus, wenn sie heiraten. Es gibt dort noch einen ganz anderen Umgang mit Freiheit und Unabhängigkeit. Als ich in Deutschland mit 18 zu Hause ausgezogen bin, war das für meine Familie und Freund*innen in Brasilien sehr außergewöhnlich. Sie konnten es gar nicht glauben und fragten: „Bist du schon verheiratet?“

»Ich habe gemerkt, dass es mich freier macht, über meine Queerness zu sprechen.«

MYP Magazine:
Hast Du schon einmal eine radikale Veränderung vorgenommen, um Dich aus einer Situation zu befreien, in der Du dich von Vorurteilen unterdrückt gefühlt hast?

Cristina do Rego:
Wahrscheinlich durch mein öffentliches Outing. Ich habe meine sexuelle Orientierung nie wirklich versteckt, aber auch nie bewusst darüber gesprochen. Doch irgendwann habe ich gemerkt, dass es mich freier macht, über meine Queerness zu sprechen.

MYP Magazine:
Wie würdest Du die aktuelle Situation der queeren Community in Brasilien beschreiben?

Cristina do Rego:
Viele Jahre lang habe ich Fragen zu meinem Privatleben sehr zurückhaltend beantwortet. Inzwischen bin ich älter, reifer und stärker geworden – und auch die brasilianische Gesellschaft hat sich sehr verändert. Queerfeindlichkeit gibt es überall auf der Welt. Man kann leider nicht von der Hand weisen, dass gewaltvolle Übergriffe auf schwule Männer und trans Menschen im internationalen Vergleich in Brasilien extrem häufig vorkommen. Homophobie und Machismo sind nach wie vor ein sehr prägendes Problem.

»Für mich war schon vor dem Dokumentarfilm klar: Jedes Menschenleben muss gerettet werden.«

MYP Magazine:
Ein zentrales Thema der Arte-Dokumentation sind Grenzregime und Einwanderungsfragen. Denn auch Brasilien ist in den 1930er Jahren längst kein Land mehr, das unbegrenzte Einwanderung zulässt – wie es noch wenige Jahrzehnte zuvor der Fall war, als europäische und japanische Einwander*innen als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft gebraucht wurden. Aracy de Carvalho verstößt also gegen die Visabestimmungen ihres eigenen Landes, um jüdischen Menschen das Leben zu retten. Wie blickst Du mit deinem binationalen Hintergrund auf die Grenzregime im Jahr 2023?

Cristina do Rego:
Ich finde es erschreckend, dass diese Themen immer noch so aktuell sind. Auch Deutschland ist wieder genau an diesem Punkt – mit Syrien, der Ukraine und so weiter. Wenn man in den letzten Jahren politisch auch nur ein Auge offen hatte, konnte man sich der Situation nicht entziehen, darüber nachzudenken, was ein Menschenleben wert ist. Für mich war schon vor dem Dokumentarfilm klar: Jedes Menschenleben muss gerettet werden und jede*r hat es verdient, in Freiheit und Sicherheit aufzuwachsen. Das ganze Lernmaterial rund um den Dokumentarfilm hat meinen Blick auf das Thema noch einmal geschärft.

»In unserer Branche ist man schnell in einer Schublade gefangen.«

MYP Magazine:
Aracy de Carvalho ist ein eher schwerer Stoff – Deine Stärke liegt sonst im komödiantischen Fach. Legendär ist zum Beispiel Deine Rolle als rebellische Tochter in der Serie „Pastewka“. 2020 lief die letzte Staffel. Wie hat sich Dein Leben seither verändert?

Cristina do Rego:
Wenn man ein Kapitel gut und stimmig abschließt, ist es ein schönes Gefühl, sich von einem Projekt zu verabschieden – auch wenn ich immer sehr froh war, all die Jahre mit der Wahlfamilie im Sommer drehen zu können. Ich glaube, dass ich jetzt noch einmal die Chance bekomme, mich aus dieser Komödienschublade zu befreien – denn in unserer Branche ist man schnell in einer Schublade gefangen. Es würde mich zum Beispiel sehr reizen, noch einmal eine reale Person darzustellen. Es ist grundsätzlich eine große Herausforderung, jemanden zu spielen, den es wirklich gegeben hat.

»Ich musste jeden Tag einen vier Kilo schweren Schwangerschaftsbauch plus drei Kilo Brust vor mir herschieben.«

MYP Magazine:
Im Herbst kommt der Film „Trauzeugen“ in die deutschen Kinos. Darin geht es um eine Braut, die kurz davorsteht, ihre eigene Hochzeit abzusagen. Ihre Trauzeug*innen – gespielt unter anderem von Edin Hasanović und Almila Bağrıaçık – versuchen das noch zu verhindern. Gab es am Set auch viel zu lachen?

Cristina do Rego:
Klar, schon allein deshalb, weil ich jeden Tag einen vier Kilo schweren Schwangerschaftsbauch plus drei Kilo Brust vor mir herschieben musste. Außerdem haben wir eine Komödie gedreht, da ist es am Set im Idealfall so lustig, wie man sich das vorstellt.

MYP Magazine:
Dass es am Filmset oft nicht viel zu lachen gibt, war jahrelang ein offenes Geheimnis. Jetzt ist das Thema mit den Schlagzeilen um Til Schweiger wieder hochgekommen. Hat das bei Dir alte Wunden aufgerissen?

Cristina do Rego:
Nein, ich bin sehr froh, dass die Dinge benannt werden, weil ich denke, dass man den Leuten zuhören muss. Es ist wichtig, über die Arbeitsbedingungen und die Sicherheit am Set zu sprechen. Es war endlich an der Zeit, dass genau diese Transparenz entsteht. Ich bin gespannt, wie es weitergeht, wenn wir alle anfangen, einander zuzuhören. Und vor allem mit denen zu sprechen, die an den Schaltstellen der Macht sitzen.

»Muss man unbedingt eine Heldin sein? Oder geht es viel eher darum, dass wir alle das tun, was in unserer Macht steht, um anderen Menschen zu helfen?«

MYP Magazine:
Auch Aracy de Carvalho nahm Missstände wahr – und umging heimlich Machtstrukturen. Eine wichtige Frage der historischen Erzählung: War Aracy de Carvalho eine Heldin, weil sie bei der Visavergabe geschummelt hat, obwohl sie sonst nicht als politische Aktivistin in Erscheinung getreten ist?

Cristina do Rego:
Muss man unbedingt eine Heldin sein? Oder geht es viel eher darum, dass wir alle das tun, was in unserer Macht steht, um anderen Menschen zu helfen? Das ist für mich eine grundsätzliche Frage. Vielleicht würde es schon reichen, wenn jede*r an den kleinen Stellschrauben drehen würde, an denen sie*er drehen kann. Dann sähe die Welt schon ganz anders aus. Aracy de Carvalho hat sich auch in späteren Jahren nie mit ihren Taten geschmückt. Es gab viele Menschen, die ihr Schmuck oder Geld schenken wollten. Das hat sie nie angenommen, weil sie immer gesagt hat: „Ich habe nur das Richtige getan.“ Nur darum ging es ihr. In der Dokumentation ist von 80 Menschen die Rede, denen sie das Leben gerettet hat, weil es dafür sichere wissenschaftliche Beweise gibt. Aber es gibt unzählige Hinweise darauf, dass es viel, viel mehr waren, die sie auch außerhalb ihrer konsularischen Arbeit auf die Schiffe gebracht hat. Sie war ein „ganz normaler Mensch“, der für Gerechtigkeit eingetreten ist und sich dadurch in Gefahr gebracht hat. Wenn man den Begriff Heldin beiseitelässt, kann man auch einfach sagen: Sie war und ist ein Vorbild.

»Der Held*innenbegriff vermittelt immer das Gefühl, man müsse dafür etwas ganz Großes tun.«

MYP Magazine:
Wenn jemandem der Held*innenstatus zuerkannt wird, rückt das, was diese Person getan hat, weit weg von der Normalität. Es wird suggeriert, dass die Person etwas Übermenschliches geleistet hat. Das wiederum kann bei uns „normalen“ Menschen zur Überlegung führen: Ich selbst brauche das nicht zu tun, weil ich es nicht kann. Das wäre in dem Fall ein Mechanismus, der es uns erleichtert, uns aus schwierigen Entscheidungen herauszureden.

Cristina do Rego:
Genau, das hält uns am Ende vielleicht davon ab, darüber nachzudenken, was wir in unserem Alltag „held*innenhaft“ tun können: zum Beispiel aufs Auto zu verzichten, um das Klima zu schonen. Oder beim Einkauf auf umstrittene Inhaltsstoffe zu achten. Da der Held*innenbegriff immer das Gefühl vermittelt, man müsse dafür etwas ganz Großes tun, sind unsere Bewegungen oft viel kleiner, als sie sein könnten.