Interview — Jonas Nay

Gespielte Geschichte

In »Deutschland 89«, der dritten Staffel der beliebten deutsch-deutschen Spionageserie, schlüpft Jonas Nay wieder in die Rolle des DDR-Agenten Martin Rauch – diesmal zu Zeiten des Mauerfalls. Im Interview erklärt der Schauspieler, warum die Hauptfigur nicht immer so handelt, wie man das aus der eigenen Moralvorstellung heraus vermuten würde. Und er beschreibt, was er durch die Serie über unsere Gesellschaft gelernt hat.

9. Oktober 2020 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Die Karl-Marx-Allee im Osten Berlins hat schon viel erlebt. Die kilometerlange Trasse zwischen Alexanderplatz und Frankfurter Tor, die einst Große Frankfurter Straße hieß, ist nicht nur eine der ältesten Verkehrsadern der Stadt. Sondern auch eine ihrer ältesten Zeitzeuginnen.

Anfang des 18. Jahrhunderts als sogenannter Heerweg errichtet, war sie über die letzten 300 Jahre immer wieder Schauplatz dramatischer Ereignisse. Wie etwa in den Revolutionsjahren 1848 und 1919, als auf und neben ihr erbitterte Barrikadenkämpfe tobten. Oder am 16. Juni 1953, als die Beschäftigten der umliegenden Großbaustellen ihre Arbeit niederlegten und über die mittlerweile Stalinallee genannte Straße in Richtung Stadtzentrum marschierten. Sie protestierten gegen eine zuvor vom SED-Regime angeordnete Erhöhung der Arbeitsnormen. Die Bewegung entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem Volksaufstand in der gesamten DDR, der bereits wenige Stunden später, am 17. Juni, von sowjetischen Panzern gewaltsam niedergeschlagen wurde.

Acht Jahre später, da stand bereits die Berliner Mauer, wurde der westliche Teil der repräsentativen Stalinallee in Karl-Marx-Allee umbenannt, der östliche Teil hieß ab sofort Frankfurter Allee – man wollte den Namen „entstalinisieren“. Knapp drei Jahrzehnte blieb es danach still. Doch dann trugen die Bürger der DDR ihren Unmut erneut auf die Straßen, auch auf diese. Am Ende stand der Fall der Mauer am 9. November 1989.

Mit diesem historischen Ereignis startet nun, dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, „Deutschland 89“, der dritte und vorerst letzte Teil der preisgekrönten Erfolgsserie, den man seit dem 25. September auf Amazon Prime anschauen kann. Wie „Deutschland 83“ und „Deutschland 86“ erzählt auch Staffel 3 die fiktionale Story um einen DDR-Agenten, deren inhaltlicher Rahmen von realen Ereignissen der deutsch-deutschen Geschichte und des Kalten Krieges gesetzt werden.

Im Mittelpunkt steht der Charakter Martin Rauch, der in der ersten Staffel als Spion in die Bundeswehr eingeschleust wird und nicht weniger als einen Atomkrieg verhindert. Eine Staffel später findet er sich inmitten eines afrikanischen Stellvertreterkonflikts wieder und avanciert im Laufe der Episoden zum Doppelagenten. In seiner ostdeutschen Heimat am anderen Ende der Welt wächst derweil das Chaos. Die DDR steht kurz vor dem finanziellen Kollaps und man versucht krampfhaft, an dringend benötigte Devisen zu kommen.

Wieder eine Staffel später, wir schreiben mittlerweile das Jahr 1989, geht es um den Zusammenbruch der DDR und ihres Gesellschaftssystems nach dem Fall der Mauer. Die Hauptverwaltung Aufklärung, der Auslandsnachrichtendienst der DDR, steht dabei ebenfalls vor der Auflösung. In dieser Gemengelage gerät Martin Rauch zwischen die Fronten sich fundamental verschiebender Machtverhältnisse – und droht sich dabei selbst zu verlieren.

Gespielt wird die Figur von Jonas Nay, der vor wenigen Tagen 30 Jahre alt geworden ist. Für seine Rolle in „Deutschland 83“ wurde der Schauspieler 2016 mit dem Deutschen Fernsehpreis sowie dem Grimme-Preis ausgezeichnet.

Wir treffen den gebürtigen Lübecker vor einem Café in der Karl-Marx-Allee, nur wenige Meter entfernt vom Rosengarten – jenem Ort, an dem am 16. Juni 1953 die Proteste der Ostberliner Bauarbeiter begannen. Ihre Losung damals: „Kollegen reiht Euch ein, wir wollen freie Menschen sein!“

»In der dritten Staffel erleben wir Martin Rauch als einen Charakter, der deutlich traumatisiert ist.«

MYP Magazine:
Martin Rauch ist seit mittlerweile sechs Jahren Teil Deines Lebens. Wie hat sich diese Figur über die drei Staffeln entwickelt?

Jonas Nay:
Martin hat sich im Laufe der Zeit extrem verändert, alleine weil die Geschichten, die wir erzählen, so viele menschliche Abgründe und Extremsituationen beinhalten. Daneben ist er permanent einem extrem hohen Stress ausgesetzt, unter anderem, weil er mit allen Mitteln versucht, nicht als Spion aufzufliegen. Oder im Bürgerkriegsgeschehen in Afrika in irgendeiner Form überleben will. All das formt seinen Charakter sehr.
In der ersten Staffel starten wir mit einem Martin, den wir als eher entspannten Menschen kennenlernen. Er ist noch sehr jung, unschuldig und naiv – ein junger DDR-Grenzsoldat, der sein Leben in Kleinmachnow lebt, ein liebevolles Verhältnis zu seiner alleinerziehenden Mutter pflegt, eine Freundin hat und in seiner Freizeit nackt baden geht. Oder kurz gesagt: Die Figur befindet sich am Anfang der Serie noch in einer relativ stabilen, unspektakulären Lebenssituation.
Der Horror geht erst richtig los, als er gegen seinen Willen zu einem Spion im Westen gemacht wird. Das verändert Martin sehr schnell und er wird zu einer Person, die weiß, dass sie niemandem mehr trauen darf – und sich dementsprechend nicht mehr öffnet. Im nächsten Schritt entwickelt sich Martin zu jemandem, der nicht mehr nur eine, sondern eine Doppelrolle spielt, um seine Identität zu wahren. In der dritten Staffel schließlich erleben wir ihn als einen Charakter, der deutlich traumatisiert ist.

»Mir persönlich hat es sehr wehgetan, was diesem Charakter im Laufe der Zeit passiert ist.«

MYP Magazine:
Welche Beziehung hast Du selbst zu der Figur Martin Rauch entwickelt?

Jonas Nay:
Grundsätzlich bedeutet jede Staffel für mich ungefähr ein halbes Jahr Vorbereitung und Drehzeit, wenn nicht sogar mehr. Das heißt, ich habe bisher in meinem Leben fast zwei Jahre nur mit diesem Charakter verbracht. Ich bin gerade 30 geworden, da fühlen sich diese zwei Jahre meines Lebens nach einer sehr langen und intensiven Zeit an.
Insgesamt ist mir Martin schon früh ans Herz gewachsen. Ich mag seine trockene Art und Weise, seinen Humor, seinen Pragmatismus. Auch wenn er immer wieder in die absurdesten, schlimmsten Situationen geschmissen wird, findet er irgendwie stets einen Weg. Er lässt sich nicht unterbuttern, sondern hat die Einstellung, aus allem das Beste zu machen.
Martin Rauch ist mir immer ein extremer Sympath gewesen, daher hat es mir persönlich auch sehr wehgetan, was diesem Charakter im Laufe der Zeit passiert ist. Außerdem hat er in den drei Staffeln durchaus ambivalente Entscheidungen getroffen, die ich zwar inhaltlich nachvollziehen konnte, bei denen ich aber gerne persönlich interveniert hätte und ihm zugerufen hätte: Martin, lass mal!

»Im Jahr 1989 lebt Martin auf einmal das einfache Leben in der DDR.«

MYP Magazine:
Die einzelnen Staffeln der Serie schließen inhaltlich nicht nahtlos aneinander an, sondern weisen in der Erzählung immer eine zeitliche Lücke von drei Jahren auf. Spielt Ihr ein bisschen mit dem geschichtlichen Wissen der Zuschauer, die durch die Erzählform gezwungen sind, diese nichterzählte Zeit mit ihren persönlichen Erinnerungen zu füllen?

Jonas Nay:
Ein wenig schon. Nur kann ja keiner der Zuschauer wissen, was mit den Charakteren der Serie in ihren fiktionalen Strängen in der Zwischenzeit geschehen ist. Für mich als Schauspieler ist es daher immer eine große Herausforderung, diese zeitlichen Gaps für die Figur zu füllen. Mit jeder Staffel stellt sich erneut die Frage: Wo wollen wir starten und wohin entwickelt sich der Charakter?
Grundsätzlich bedeuten diese drei Jahre für Martins Leben immer einen großen Umbruch. Wenn ich etwa daran denke, dass er zu Beginn der zweiten Staffel plötzlich im Exil ist, in einem Waisenheim in Angola hängt, dort Deutschunterricht gibt und dabei seinen dreijährigen Sohn Max noch nie gesehen hat – da musste ich mir selbst auch erst mal im Kopf eine mögliche Story zusammenbauen, wie es dazu gekommen sein könnte.
Eine Staffel später, im Jahr 1989, lebt Martin auf einmal das einfache Leben in der DDR, arbeitet bei Robotron und ist alleinerziehender Vater seines mittlerweile sechsjährigen Sohnes. Max‘ Mutter, die sich bis dahin um das Kind gekümmert hatte, ist nun plötzlich in Moskau für den KGB tätig.

»Ich bin mit Martin mehr oder weniger in Echtzeit mitgewachsen.«

MYP Magazine:
Inwiefern hat die Figur Martin Rauch Deine eigene Entwicklung der letzten sechs Jahre geprägt und beeinflusst?

Jonas Nay:
Ich bin mit Martin mehr oder weniger in Echtzeit mitgewachsen. Wie bei ihm ist auch in meinem persönlichen Leben in all den Jahren wahnsinnig viel passiert – zwar nichts so Traumatisierendes wie das, was die Figur erlebt hat. Aber alleine die Veränderung meines eigenen Lebens hat mir als Inspirationsbasis geholfen, um das glaubhaft zu erzählen, was in Martins Vita passiert.

MYP Magazine:
Bist Du wie Martin auch misstrauischer geworden?

Jonas Nay:
Ja, das bin ich tatsächlich – leider. Aber ich befürchte, dass wird jeder Mensch irgendwann im Laufe seines Lebens, je mehr Vertrauensbrüche er erlebt und je mehr Leute er kennenlernt. Ich bin in den letzten Jahren nicht per se zum Menschenfeind geworden, aber es dauert lange, bis ich jemandem vertraue. Das war zwar schon immer so, aber hat sich mit der Zeit deutlich verstärkt.

»Es ist nicht der Plan einer solchen Serie, einen Charakter immer nur so handeln zu lassen, wie man das mit seiner persönlichen Moralvorstellung vermuten würde.«

MYP Magazine:
In Rumänien ermordet Martin ohne Not einen Securitate-Agenten. Wie blickst Du auf dieses Ereignis?

Jonas Nay:
Dieser Moment ist wahrscheinlich der größte Bruch in seiner Persönlichkeit. Hatte er vorher immer nur aus Notwehr getötet, ist das nun sein erster Mord. Für dieses Situation hätte es sicherlich auch andere Lösungsmöglichkeiten gegeben.

MYP Magazine:
Inwiefern?

Jonas Nay:
Tatsächlich war das eine Szene, über die wir lange diskutiert haben im Kreis der Autoren und Regisseure. Das war ein absoluter Entfremdungsmoment für mich – aber das war auch gut so. Es ist nicht der Plan einer solchen Serie, einen Charakter immer nur so handeln zu lassen, wie man das als Außenstehender mit seiner persönlichen Moralvorstellung vermuten würde.

MYP Magazine:
War diese Mordszene der einzige Entfremdungsmoment, den Du erlebt hast?

Jonas Nay:
Ich würde es anders ausdrücken: Ich hatte mit Martin immer wieder Reibungspunkte, im Großen wie im Kleinen. Ich weiß noch, dass ich mit Samira Radsi, der Regisseurin der drei letzten Episoden von Staffel 1, sehr lange diskutiert habe, ob Martin wirklich vor dem Haus des Bundeswehrgenerals dessen Tochter küssen soll – übrigens sein erster Seitensprung. Für mich persönlich war das ein Riesenthema. Aber Samira sagte einfach nur: „Jonas, solche Dinge passieren einfach. Hör mal auf zu diskutieren.“

»So ganz loswerden werde ich meinen Martin nie.«

MYP Magazine:
Sind solche Entfremdungsmomente wie der Mord in Rumänien wichtig, um eine Rolle irgendwann wieder loszuwerden?

Jonas Nay:
Ich glaube, so ganz loswerden werde ich meinen Martin nie. Ich würde eher sagen, dass solche Momente der Entfremdung eher hinderlich sind, um an der Rolle dranzubleiben. Martin erschießt den Securitate-Agenten im zweiten Drittel der neuen Staffel. Das bedeutet, dass ich von da an noch einen ganz schön weiten Weg mit ihm gehen werde. Von daher verstehe ich den Mord eher als eine Sollbruchstelle, an der ich mich beim Dreh gefragt habe: Wenn mein Charakter so einen Knacks bekommt und ich eine so deutliche Entfremdung spüre, wie kann es mir gelingen, daran wieder anzudocken und die Figur für mich weiterzuführen? Wie kann ich erzählen, dass sich die Figur in dem Moment von sich selbst entfremdet und es für sie dennoch einen Weg geben kann, wieder zu sich selbst zu finden?

»Jonas, Du kennst Martin viel besser als ich – erzähl mir von ihm!«

MYP Magazine:
Immerhin hat Martin das große Glück, dass ihm seine Freundin, die Grundschullehrerin, am Ende vergibt.

Jonas Nay (lächelt):
Tja. Auch darüber gab es viele Diskussionen. Aber das ist auch das Schöne an der Serie. Wir sind da als Schauspielerinnen und Schauspieler sehr involviert in die Art und Weise, wie sich die Charaktere entwickeln und wie die Szenen gestaltet werden. Anna und Jörg Winger, die die Serie geschrieben und produziert haben, legen sehr viel Wert darauf, dass wir unseren persönlichen Input einbringen. Bereits lange bevor die Drehbücher geschrieben werden, sind wir im engen Austausch mit den beiden und sitzen immer wieder zusammen, um die Dinge durchzuarbeiten. Es macht die Serie wirklich besonders, dass es keine so absolutistische Haltung gibt und sich vieles eher – im positiven Sinne – nach Projektarbeit anfühlt.

MYP Magazine:
Das klingt sehr demokratisch.

Jonas Nay:
Nein, am Ende liegt die finale Entscheidung natürlich immer noch bei Anna und Jörg – und am Set hat für mich als Schauspieler die Regie das letzte Wort. Aber dass sich die beiden überhaupt so öffnen und diesen Input von uns einfordern, ist bemerkenswert. Schon während der ersten Staffel hat Anna immer zu mir gesagt: „Jonas, Du kennst Martin viel besser als ich – erzähl mir von ihm!“
Ich schreibe gerade zusammen mit Nikola Kastner an einer Serie und kann aus eigener Erfahrung sagen, wie schwer es ist, sich Kritik von außen zu öffnen, wenn man seinen eigenen Stoff entwickelt. Man hat sich bei allem ja irgendwas gedacht. Von daher sind Anna und Jörg zwei absolute Positivbeispiele für mich, weil sie mit dem eigenen geschriebenen Plot sehr flexibel sind. Das ist eine Qualität, die ich als Schauspieler sehr genießen durfte. Und es hat dazu geführt, dass – selbst wenn es so einen Entfremdungsmoment wie den Mord gab – ich nie meinen Charakter verloren oder zu ihm zu viel Distanz aufgebaut habe.

»Die Macher der Serie wollten nicht nur den deutsch-deutschen Mikrokosmos als Spielfeld des Ost-West-Konflikts erzählen.«

MYP Magazine:
Während Staffel 1 in Ost- und Westdeutschland spielt und sich auf Ereignisse und Thematiken bezieht, die man als Otto Normalzuschauer geschichtlich noch halbwegs präsent hat, erzählt die zweite Staffel einen Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West am anderen Ende der Welt – ein Stoff, der vielen Deutschen wahrscheinlich eher unbekannt ist…

Jonas Nay:
Ja, tatsächlich sind das Konfliktszenarien, über die man in unserem Dunstkreis wohl eher seltener gestolpert ist. Aber soweit ich weiß, war genau das auch eine bewusste Entscheidung von den Machern der Serie. Ihre Idee war, die zweite Staffel zu nutzen, um das Big Picture des Kalten Krieges zu erzählen – und nicht nur den deutsch-deutschen Mikrokosmos als Spielfeld des Ost-West-Konflikts.

MYP Magazine:
Dafür geht es in Staffel 3 zurück nach Deutschland – und nach Rumänien…

Jonas Nay:
Ich persönlich finde es sehr spannend, dass Martin 1989 wieder hauptsächlich in Deutschland agiert – und zwar deshalb, weil diese dritte Staffel inhaltlich nicht auf den Fall der Mauer zusteuert, wie man vielleicht vermutet hätte. Ganz im Gegenteil: Sie startet mit diesem Ereignis und zieht ihren Plot aus dem Umstand, dass sich alle Charaktere ab dem Moment des Mauerfalls in einem Vakuum befinden. Alle versuchen, in irgendeiner Form ihre eigene Haut zu retten, ihren Platz zu suchen und sich in irgendeiner Form neu zu erfinden.

»Ich kenne die Achtziger, in denen ich gar nicht gelebt habe, besser als die Neunziger, das Jahrzehnt meiner Kindheit.«

MYP Magazine:
Würdest Du sagen, dass Du heute einen anderen Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte hast als vor Beginn der Dreharbeiten im Jahr 2014?

Jonas Nay:
Auf jeden Fall! In der Serie ploppen ja immer wieder reale Daten und Ereignisse auf, an denen sich der fiktionale Strang entlanghangelt. Daran habe ich mich enorm festgebissen. Beim Lesen der Drehbücher ist es mir ständig passiert, dass ich an einem bestimmten Sachverhalt hängen geblieben bin und gedacht habe: Moment mal, war das wirklich so? Was steckt da denn dahinter? Ich konnte in dem Moment nicht weiterlesen und musste erst mal anfangen zu recherchieren. Dadurch habe ich sehr viel gelernt, was ich ohne die Serie vielleicht nie erfahren hätte. Ich würde zwar nicht behaupten, dass ich dadurch zum wandelnden Lexikon geworden bin, aber ich habe mich wirklich sehr intensiv mit den 1980er Jahren in Ost- und Westdeutschland auseinandergesetzt – und das auf verschiedensten Ebenen: von Politik bis Popkultur, von Terrorismus bis Friedensbewegung, von Maueröffnung bis Wiedervereinigung. Ich würde sogar behaupten, dass ich die Achtziger, in denen ich gar nicht gelebt habe, besser kenne als die Neunziger, das Jahrzehnt meiner Kindheit.

MYP Magazine:
Hättest Du den Fall der Mauer gerne persönlich miterlebt?

Jonas Nay:
Na, selbstverständlich! Die Tatsache, dass es einer friedlichen Bürgerbewegung gelungen ist, ein autoritäres Regime zu stürzen und die Öffnung einer Mauer zu erzwingen, ist so einzigartig und beispiellos in der Geschichte der Menschheit, dass ich diesen Moment natürlich gerne miterlebt hätte.

»Wer in unserer Serie einen pädagogischen Ansatz sucht, muss sich mit anderen Formaten befassen.«

MYP Magazine:
Die Serie erzählt immer wieder Themen, deren Tragik und Dimension man heute kaum mehr Beachtung schenkt. So wird zum Beispiel der AIDS-Krise und den damit verbundenen Schicksalen ein großer erzählerischer Raum gegeben. Oder es wird gezeigt, dass es in der DDR durchaus üblich war, regimeuntreuen Eltern ihre Kinder zu entziehen und sie zur Adoption freizugeben. Oder es geht darum, wie durch das Militärmanöver „Able Archer 83“ aus Versehen ein Atomkrieg hätte entfacht werden können. Welche Verantwortung hat die Serie gegenüber ihren Zuschauern? Oder anders gefragt: Siehst Du in ihr einen pädagogischen Auftrag?

Jonas Nay:
Mit Pädagogik tue ich mich an dieser Stelle eher schwer, da die Serie in erster Linie einen unterhaltenden Anspruch hat. Sie arbeitet mit popkulturellen Elementen, ist sehr schnell erzählt und besitzt eine ganz eigene Form von Ironie. Der Humor, den sie in sich trägt, ist eher schwarz und wirkt stellenweise fast kafaesk, wie ich finde. Das alles strebt einem pädagogischen Ansatz entgegen. Wer den sucht, muss sich mit anderen Formaten befassen, etwa von den Öffentlich-Rechtlichen.
Nichtsdestotrotz ist unsere Erzählweise kein Hindernis dafür, dass die Serie dazu anstoßen kann, sich generell mit der Politik und gesellschaftlichen Themen von damals zu beschäftigen. Klar, ich selbst, der die Rolle darzustellen hat, bin wahrscheinlich viel interessierter als jemand, der die Serie nur schaut, um sich unterhalten zu lassen. Aber wenn ich meinen eigenen Medienkonsum als Beispiel nehme, finde ich schon, dass Filme und Serien, die sich mit realen Ereignissen, Personen oder Zeiten beschäftigen, immer den Effekt haben können, dass man sich mit der Thematik noch weitergehend auseinandersetzt. Oder dass man vielleicht sogar einen Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen herstellt. Wenn unsere Serie alleine das leistet, haben wir viel erreicht.

»Auf dem Weg zur Wiedervereinigung gab es keine gleichberechtigte Verschmelzung.«

MYP Magazine:
Welche Themen von heute könnten das sein?

Jonas Nay:
Etwa der wieder aufflammende Ost-West-Konflikt zwischen den NATO-Staaten und Russland. Oder die Lage in Belarus, wo es seit Wochen Massenproteste gegen ein autoritäres Regime gibt. Oder die strukturellen Unterschiede, die man in Deutschland nach wie vor zwischen Ost und West identifizieren kann. Oder die Tatsache, dass auf dem Weg zur Wiedervereinigung im Wesentlichen der Osten in den Westen eingegliedert wurde und es keine gleichberechtigte Verschmelzung gab.
Wenn man sich alleine bei diesem Thema bewusst macht, was das Ende der DDR für die Menschen und ihre dort funktionierenden Leben bedeutet hat, kann man sehr viel für sich selbst mitnehmen. Ob „Deutschland 89“ es schafft, das wirklich im Detail zu erklären, weiß ich nicht. Aber ich glaube, wenn einen etwas emotional erreicht – und das tut unsere Serie meiner Meinung nach auf jeden Fall –, bleibt am Ende inhaltlich immer etwas hängen.

»Ein Youtuber hat sich mal darüber echauffiert, dass in der Serie eine Tapete zu sehen sei, die nicht in den Achtzigern produziert wurde, sondern in den Siebzigern.«

MYP Magazine:
In der neuen Staffel wird gezeigt, wie die HVA-Mitarbeiter den Mauerfall live im TV miterleben. Als Generalmajor Schweppenstette sieht, wie der Schlagbaum an der Grenze hochgeht, schreit er voller Schrecken: „Oh Gott!“ Das Ganze wirkt fast wie eine Slapstick-Nummer, da der Mauerfall in unserer kollektiven Wahrnehmung als etwas überaus Positives wahrgenommen wird. Sind Dir persönlich mal Zeitzeugen begegnet, die diesen „anderen“ Blick auf den Mauerfall haben?

Jonas Nay:
Nein, noch nie. Zumindest haben sich diese Stimmen mir gegenüber noch nicht zu erkennen gegeben… (schweigt einen kurzen Moment) Ich wurde immer eher für Details kritisiert. Ich werde beispielsweise nie vergessen, wie ich mal einem Youtuber ein Interview geben sollte, der – wie sich herausstellte – aus der ehemaligen DDR stammt. Vor dem Gespräch hat er sich erst mal ausführlich darüber echauffiert, dass in der Serie an einer Stelle eine Tapete zu sehen sei, die scheinbar nicht in den Achtzigern produziert wurde, sondern in den Siebzigern. Seiner Meinung nach es sei es total untypisch gewesen, in jener Zeit im Plattenbau noch so eine Tapete an der Wand zu haben. Das mitzuteilen war ihm ein dringendes Anliegen.

»Martins moralischer Kompass ist etwas, woran ich mich immer wieder gut festhalten kann.«

MYP Magazine:
Am Ende der dritten Staffel wirft Lenora, Martins Tante, ihrem Neffen vor, er wisse einfach nicht, wie die Welt funktioniert. Würdest Du ihr da zustimmen? Immerhin sagt Martin ja kurz nach dem Mauerfall: „Die Ära der Autokraten ist ein für alle Mal vorbei.“ Und wie wir wissen, stimmt das nicht so ganz. In vielen Ländern der Welt haben Autokraten gerade ziemlich Konjunktur.

Jonas Nay:
Das ist leider wahr. Was die Serie betrifft, kann ich die Aussage vor allem aus Lenoras Perspektive verstehen. Martin ist in dieser festgefahrenen Spionage-Welt zwar jemand, der auf beiden Seiten der Mauer eine ziemlich ungefärbte Sicht auf die Dinge entwickelt hat. Aber aus Lenoras Sicht handelt er zu wenig aus einer sozialistischen Ideologie heraus, sondern ist vielmehr von seinem Egoismus und seiner persönlichen Moral getrieben. Und das trifft auch definitiv zu.
Anna und Jörg Winger betonen immer wieder, dass sie den Charakter Martin Rauch als eine Heldenfigur angelegt haben, die auf ihren ganz eigenen moralischen Kompass hört. Auch wenn alle versuchen, ihn in verschiedene Richtungen zu ziehen, verfolgt er stoisch seine eigene Agenda und vertraut auf diesen ihm gegebenen moralischen Kompass – was für ein schönes Wort übrigens.
Dieser Kompass ist etwas, woran ich mich bei Martin immer wieder gut festhalten kann. Selbst wenn es diese Entfremdungsmomente gibt, über die wir eben gesprochen haben, versuche ich, ihn immer wieder auf den rechten Weg zu bringen und ihm seinen moralischen Kompass zurückzugeben – und zwar so, dass man ihm als Zuschauer wieder folgen mag.

»Es erstaunt mich immer wieder, wie oft sich die Menschen in Deutschland alleine im 20. Jahrhundert neu erfinden mussten.«

MYP Magazine:
Lenora ist eine Person, der es um höhere Ideale geht – das jedenfalls sagt sie von sich selbst. Diese Ideale spricht sie dem Westen ab. Würdest Du ihr da ein Stück weit zustimmen? Glaubst Du auch, dass uns in unserer modernen westlichen Welt ein höheres, gemeinsames Ziel fehlt?

Jonas Nay:
Für mich persönlich ist dieses gesellschaftliche Ziel ganz klar formuliert: das Streben nach einer sozialen Demokratie. Natürlich weiß ich, dass noch ein weiter Weg vor uns liegt. Gerade im Moment erleben wir ja zunehmende Entzweiung, Demokratiefeindlichkeit und diverse autokratische Bestrebungen – und das nicht nur bei uns, sondern auch in anderen europäischen Staaten oder in den USA. Für mich ist immer noch das Ziel, an dieser Demokratie zu arbeiten, weil ich glaube, dass dies das beste System ist, um Chancengleichheit unter den Menschen anzustreben. Zwar sind wir noch weit entfernt von einem wirklich sozialen System, in dem niemand durchs Raster fällt. Aber wir sollten es auf jeden Fall immer weiter versuchen. Ein Umsturz der Systeme, wie ihn einige fordern, wäre da ganz sicher nicht der richtige Weg.

MYP Magazine:
Wenn man auf Deine Rollen der letzten fünf Jahre schaut, scheint es, als wärst Du inhaltlich in fast jedes Jahrzehnt der jüngeren deutschen Geschichte eingetaucht. Hast Du das Gefühl, dadurch ein besonderes Gespür für unsere Gesellschaft entwickelt zu haben?

Jonas Nay:
Ich würde schon sagen, dass ich heute wesentlich sensibilisierter für die letzten Jahrzehnte deutscher Geschichte bin, als ich es vorher war. Und wenn ich mich mit Ausschnitten dieser Geschichte befasse, erstaunt es mich immer wieder, wie oft sich die Menschen in Deutschland alleine im 20. Jahrhundert neu erfinden mussten. Ich denke da beispielsweise auch an die Großmutter von Martin, die sagt, sie habe in ihrem Leben vier Systeme erlebt: die Kaiserzeit, die Weimarer Republik, die Nazi-Diktatur und schließlich die DDR. Diese Biografie ist total bezeichnend für unzählige andere Menschen – und da ist das wiedervereinigte Deutschland noch gar nicht mitgerechnet. Es ist doch sehr spannend, wieviel es in dieser jüngeren deutschen Geschichte zu entdecken und lernen gibt. Das ist wirklich einzigartig und ich befasse mich ausgesprochen gerne damit. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich so viele historische Stoffe gedreht habe.

»Vielleicht würde Martin Rauch ja mit Honecker in der chilenischen Botschaft sitzen.«

MYP Magazine:
Wenn man die Geschichte Eurer Serie weiterspinnt, hätte Staffel 4 den Titel „Deutschland 92“. Was könnte darin inhaltlich passieren? Welche Aufgabe könnte Martin Rauch zufallen? Immerhin ist in dem Jahr ja einiges passiert, zum Beispiel: Das Gesetz über die Stasi-Unterlagen trat in Kraft. Auf dem Balkan tobten zwei Kriege. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde die EU gegründet. Erich Honecker, der in die chilenische Botschaft in Moskau geflogen war, wurde nach Berlin ausgeflogen und festgenommen. Petra Kelly, Gründungsmitglied der Partei Die Grünen, starb zuhause unter mysteriösen Umständen.

Jonas Nay:
Oha! Da war ja wirklich was los… (überlegt kurz) Vielleicht würde Martin Rauch ja mit Honecker in der chilenischen Botschaft sitzen.

MYP Magazine:
Und für wen würde er arbeiten?

Jonas Nay:
1989 wird Martin mit drei Optionen konfrontiert: Entweder er wechselt die Seiten und wird Spion für einen anderen Geheimdienst, etwa den BND oder die CIA. Oder er wird verhaftet. Oder umgebracht. Auch wenn er in der dritten Staffel nach einer vierten Option sucht, sprich Flucht und eine neue Identität, glaube ich, dass er irgendwann wieder als Geheimdienstler tätig würde. Er hat einfach den inneren Drang, in Aktion zu treten oder an irgendwelchen Stellschrauben zu drehen, wenn er die Möglichkeit dazu hat. Insofern könnte ich mir vorstellen, dass er für die CIA weiterarbeitet. Aber das ist nur so ein Bauchgefühl. Vielleicht sitzt er aber auch irgendwo am Strand und trinkt Daiquiris.

»Die frühen Neunziger waren eine Zeit, in der ein extrem steigender Fremdenhass um sich schlug.«

MYP Magazine:
Mit dem Jahr 1992 hast Du dich in Deiner Karriere schon einmal auseinandergesetzt, und zwar im Film „Wir sind jung, wir sind stark“, der die entsetzlichen Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen aufgreift. An einer Stelle in „Deutschland 89“ heißt es: „Das dunkle Deutschland erwacht.“ Hat Dich der Satz an Deine Arbeit an „Wir sind jung, wir sind stark“ erinnert?

Jonas Nay:
Jörg Winger hat mir erzählt, dass es wohl schon bei der Kohl-Rede 1990 in Leipzig zu rechten Hetzjagden am Rande dieser Veranstaltung gekommen sein muss. Diese Thematik sollte ursprünglich auch in der dritten Staffel aufgegriffen werden, wurde dann aber wieder verworfen.
Die frühen Neunziger waren eine Zeit, in der ein extrem steigender Fremdenhass um sich schlug. Das ging damals schon los – und heute haben wir es wieder. Dass sich immer wieder Gruppierungen in unserer Gesellschaft dem Rechtsradikalismus zuwenden, hört scheinbar nie auf. Gerade in unserem Land mit unserer Geschichte ist das sehr beschämend.

»Ich bin voller Sorge um das, was gerade auf der Welt passiert.«

MYP Magazine:
Am Ende der dritten Staffel ertönt der Song „It’s The End Of The world As We Know It”, hinterlegt mit Bildern der Treuhand-Gesellschaft, Schlangen von Arbeitslosen, aber auch von Donald Trump und einer Grafik zur EU-Flüchtlingspolitik. Ist Dein persönlicher Blick in die Zukunft ein zuversichtlicher oder eher ein skeptischer?

Jonas Nay:
Ich versuche immer, optimistisch zu bleiben, auch weil ich mir wirklich wünsche, dass wir noch Jahrzehnte in Frieden leben können – hier in unserer Europäischen Union. Insbesondere dafür ist sie ja 1992 gegründet worden. Es ging bei dieser Gründung darum, ein friedliches Beieinander auf diesem Kontinent zu ermöglichen. Ziel war es nicht, sich abzuschotten oder eine Dritte Welt zu erschaffen, die wir jahrzehntelang ausbeuten. Ich hoffe, dass wir uns alle auf die Grundwerte der Europäischen Union zurückbesinnen können, weil es so eine große Errungenschaft ist, in Europa friedlich miteinander zu leben, mit offenen Grenzen, in Freiheit und geschützt von Menschenrechten. Ich hoffe sehr, dass bald wieder mehr europäische Flaggen geschwungen werden und die Menschen öfter den Mund aufmachen, um das alles nicht zu gefährden.
Nichtsdestotrotz bin ich auch voller Sorge um das, was gerade auf der Welt passiert. Gerade habe ich ein flaues Gefühl im Magen, wenn ich etwa auf den 3. November schaue, der Tag, an dem der US-Präsident gewählt wird – hoffentlich ein election day und kein re-election day. Dieser Tag wird wohl den Grundpfeiler für die weltweite Diplomatie der nächsten Jahre setzen. Aber ganz egal, wie es ausgeht: Ich wünsche mir, dass die Staaten der EU näher zusammenrücken und Menschen nicht mehr zu Tausenden auf Inseln horten, sondern versuchen, die wirklichen Fluchtursachen zu bekämpfen. Das wäre dringend notwendig, damit wir alle irgendwann wieder in den Spiegel schauen können.