Interview — Erik Lemke

»Ich weigere mich, aus meinen Protagonisten Opfer zu machen«

Mit seinen Dokumentarfilmen eröffnet Erik Lemke seinem Publikum einen unverstellten, nahbaren und nicht selten humorvollen Blick auf die Lebenswirklichkeit von Menschen, die unsere Nachbarn sein könnten – und über die wir doch so wenig wissen. Als feinsinniger Beobachter stellt er stets die individuellen Perspektiven seiner Protagonisten dar, aber diese niemals bloß – auch nicht bei seinem jüngsten Film, dem Diskursstück »Homöopathie unwiderlegt?«. Darin dokumentiert er eine Parallelwelt zur Schulmedizin, die als Relikt vorwissenschaftlicher Zeiten bis heute fortbesteht. Im Interview erzählt er, wie er als Kind Veronica Ferres begegnet ist, was er auf der Filmschule in Sankt Petersburg gelernt hat und warum es mal sein größtes Glück war, dass das gesamte Material eines Films im Kopierwerk verloren ging.

15. September 2022 — Interview: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

MYP Magazine:
„Zuschauer sind Fremde, die man mit allen Mitteln cineastischer Verführungskunst in Freunde verwandeln möchte“, schrieb der bekannte deutsche Filmproduzent Günter Rohrbach vor einigen Jahren in einem Artikel für den Spiegel. Teilst Du diese Einschätzung, Erik?

Erik:
Was mir an dem Satz gefällt, ist das Selbstverständnis, für die Zuschauer zu arbeiten. Außerdem klingt die Formulierung „mit allen Mitteln cineastischer Verführungskunst“ ein bisschen nach Blockbuster-Filmen. In solchen Produktionen ist für jeden was dabei, da man versucht, mit einem möglichst breiten Publikum die hohen Investitionen wieder reinzubekommen. In diesem Bereich bewege ich mich nicht. Gerade bei meinem Homöopathie-Film habe ich mich nur sparsam aus dem filmischen Werkzeugkasten bedient.

»So schön lebten in der Gegend fast nur NVA- und Stasi-Offiziere, auch mein Opa gehörte zu dieser Nomenklatura.«

MYP Magazine:
Du bist in Dresden geboren und aufgewachsen. Welche Erinnerungen hast Du an Deine Kindheit?

Erik:
Meine Träume finden bis heute im Haus meiner Kindheit statt, einer Villa mit großem Garten, die im Dresdener Waldschlösschenviertel liegt. Dort haben meine Eltern und ich in den Achtzigern bei meinen Großeltern gewohnt. Der Ort war so ziemlich das Gegenteil vom Zentrum Berlins, ich konnte im Garten stundenlang den Pflanzen beim Wachsen zuschauen. Sogar aus dem Mauerwerk wuchsen Bäume und ich stellte mir vor, wie die Natur uns Menschen langsam verdrängt und sich ihren Lebensraum zurückholt. Die Zeit schien stillzustehen.

MYP Magazine:
Dieser Eindruck hat sich wahrscheinlich irgendwann korrigiert.

Erik:
Ja. Ich habe begriffen, dass es nicht üblich ist, so zu wohnen. So schön lebten in der Gegend fast nur NVA- und Stasi-Offiziere, auch mein Opa gehörte zu dieser Nomenklatura. Und Putin hatte sein KGB-Büro drei Häuser weiter. Nach der Wende hielten dann große Mercedes mit Münchner Kennzeichen in der Straße und die Villen wurden verkauft. Unser Haus ging an einen Chemiefabrikanten. Mittlerweile wohnen dort Kinder und Jugendliche in einem Wohnprojekt zusammen, was für mich eine schöne Vorstellung ist.

»Neulich wurde ich gefragt, wann ich mal einen ›richtigen‹ Film mache.«

MYP Magazine:
Wann hast Du dich erstmals mit Film auseinandergesetzt?

Erik:
Als Mitglied der Kinderjury auf dem Geraer Filmfestival „Goldener Spatz“ im Jahr 1995. Da habe ich gelernt, wie man über Filme spricht und sie bewertet. Alles stand unter dem Motto „100 Jahre Kino“. Die abstrakte Filmwelt wurde für mich fassbar und ich begriff, dass man in diesem Bereich auch arbeiten kann. Besonders gut verstand ich mich mit einer Frau aus der Erwachsenenjury, die sich als Schauspielerin vorstellte. Ihr Name: Veronica Ferres.
Langspielfilme waren für uns in der Kinderjury die Königskategorie. Darauf haben wir uns besonders gefreut. Diese Hierarchisierung von Filmgattungen erlebe ich übrigens immer noch. Neulich wurde ich gefragt, wann ich mal einen „richtigen“ Film mache.

MYP Magazine:
Warum hast Du dich in Deiner Arbeit auf den Dokumentarfilm fokussiert?

Erik:
Diesen Fokus hatte ich zunächst gar nicht. Nach dem Wehrersatzdienst in Russland stand ich irgendwann im Staatlichen Institut für Film und Fernsehen in Sankt Petersburg vor Wiktor Semenjuk, dem Leiter des Fachbereichs Regie. Der sagte, dass sie schon Spielfilm-Interessenten wie Sand am Meer hätten. Wenn ich durch die Aufnahmeprüfung käme, könnte ich aber bei seinem Kollegen Wiktor Kosakowski Dokumentarfilm lernen.
Kosakowski erinnerte sich, dass er mal beim Leipziger Dokumentarfilmfestival von meinem Vater interviewt worden war, was sich möglicherweise günstig auf meine Bewerbung ausgewirkt hat. Er suchte sich acht Studenten aus – und ward danach nie mehr gesehen. So wurde der damals noch relativ junge Dmitri Iwanowitsch Sidorow unser Dozent.

»Eine wichtige Lehre war, niemals einen Film zu machen, wenn man nicht eine unbedingte Notwendigkeit dafür spürt.«

MYP Magazine:
Du hast ihm Deinen ersten Langfilm „Berlin Excelsior“ gewidmet. Was hast Du von ihm gelernt?

Erik:
Sidorows Witwe meinte zu mir, er habe geflucht, dass wir nie seine Monologe mitstenografiert hätten. Eine ganze Filmtheorie hätten wir herausbringen können. Ich habe ihn geliebt.
Schwerpunktmäßig hat er uns mit der Arbeitsweise der „Leningrader Schule“ am früheren Leningrader Studio für Dokumentarfilm bekannt gemacht. Interviews und Monologe waren darin verpönt. Diese und andere Beschränkungen haben mein Co-Autor André Krummel und ich uns auch für „Berlin Excelsior“ auferlegt. Deshalb die Verbeugung vor meinem Lehrer im Abspann.

MYP Magazine:
Was würdest Du als essenziell in der Ausbildung an einer Filmschule bezeichnen?

Erik:
Ich kenne nicht genug Filmschulen, um das zu beantworten. Ich weiß nicht, ob mich eine andere Filmschule besser vorbereitet hätte. Eine wichtige Lehre war, niemals einen Film zu machen, wenn man nicht eine unbedingte Notwendigkeit dafür spürt. Und wer dieses dringende Bedürfnis spürt, kann auch quereinsteigen ins Filmgeschäft.

»Meine Botschaft an Russland wäre, die Ukraine zu verlassen.«

MYP Magazine:
Entschuldige, aber diese Frage drängt sich jetzt auf: Wie wirkt sich der russische Überfall auf die Ukraine auf Deine Russophilie aus, die ich Dir mal unterstelle.

Erik:
Es schockt mich. Ich kann es nicht mit dem zusammenbringen, was ich selbst erlebt habe. Ich war von 2003 bis 2007 in Russland und habe eine kontinuierliche Annäherung an Europa erlebt. Ich habe überhaupt kein Verständnis für die russischen Invasoren, würde aber auch selbst nicht die Waffe in die Hand nehmen zur Verteidigung. Ich scheue keine Auseinandersetzungen, aber bei körperlicher Gewalt steige ich aus.

MYP Magazine:
Wenn Du eine Botschaft an die Kriegsparteien übermitteln könntest, was würdest Du sagen?

Erik:
Meine Botschaft an Russland wäre, die Ukraine zu verlassen. An die Ukrainer hätte ich keine Botschaft, weil jede Entscheidung zu folgenschwer ist. Ich persönlich würde die weiße Fahne raushängen, emigrieren, in die innere Emigration gehen im Falle einer Diktatur – alles wäre mir lieber als Gewalt. Das hat noch nicht mal was mit Pazifismus zu tun, sondern einfach mit dem Wissen, dass ich vieles ertragen könnte, auch Unfreiheit. Kaum etwas ist so wichtig im Leben, dass ich den Tod vorziehen würde. Aber das ist keine Botschaft. Das ist nur, wie ich selbst handeln würde.

»Das Filmmaterial ging im Kopierwerk verloren – ich konnte mein Glück kaum fassen.«

MYP Magazine:
Du bist 2008 nach Toulouse gegangen und hast an der dortigen Filmschule ESAV Dein Studium abgeschlossen. Macht man sowas nicht mit einem Diplomfilm?

Erik:
Oh je, können wir das Kapitel bitte überspringen?

MYP Magazine:
Nein.

Erik:
Ich habe 2008 mit einem Szenenbildner einen Auszug aus Boris Vians „Der Schaum der Tage“ verfilmt. Es war ein reiner Atelierfilm und das Szenenbild war großartig. Nur mit meiner Inszenierung bin ich gescheitert. Dann passierte etwas Einmaliges: Das Filmmaterial ging im Kopierwerk verloren – ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich würde immer sagen können, dass der Film ein Meisterwerk war, weil es sich nicht mehr nachprüfen ließ. Leider tauchte das Material nach ein paar Monaten wieder auf. Da hatte ich schon ersatzweise einen dreiminütigen Trashfilm als Diplomarbeit abgeliefert.

MYP Magazine:
Das wurde akzeptiert?

Erik:
Sie mussten es akzeptieren. Höhere Gewalt und so. Es war trotzdem ein Desaster. Der Film hieß auf Deutsch „Keine halben Sachen“. Der Schuldirektor Guy Chapouillé sagte dazu, das seien keine halben Sachen, das sei die Hälfte von nichts. Es war ein Western-Klamauk, ebenfalls mit tollem Szenenbild, verlebten Gesichtern und einem relativ großen Stab umgesetzt. Der Lehrer, der mich dazu ermutigt hatte, hieß Helmut-Ulrich Weiss. Er sah aus wie Obelix. Während alle im Kinosaal sich aufregten, wie man nur so einen schlechten Film machen kann, habe ich überlegt, wie ich aus der Situation wieder rauskomme. Endlich erhoben sich die Zuschauer und gingen. Da kam der liebe Obelix zu mir vor und ich dachte: „Nein, bitte nicht. Nicht jetzt trösten kommen. Nicht mit den Armen…“ Aber da legte er schon seine dicken Arme um mich und sagte, dass er den Film gut fand. Und da habe ich geweint.

MYP Magazine:
So schlimm war das für dich?

Erik:
Damals ja.

»Ob man Akademiker ist oder nicht, interessiert doch in meinem Metier keinen.«

MYP Magazine:
Auf diese Weise auf Deinen Beruf vorbereitet bist Du dann nach Deutschland zurückgekommen.

Erik:
Ja, ich bin meiner Liebe nach Köln gefolgt, kannte dort aber weiter niemanden. Ich wusste nicht, wie man als Regisseur Arbeit findet. Kleiner Spoiler: Das weiß ich auch heute noch nicht. Also habe ich erst mal Hartz IV beantragt und dann bei Studentendrehs mitgemacht. Nach einem Jahr war ich so lange arbeitslos, dass besondere Förderprogramme griffen und ich als Animator eine Festanstellung in einem Trickfilmstudio in Dresden bekam.

MYP Magazine:
Warte mal, versucht man Lücken im Lebenslauf nicht zu kaschieren?

Erik:
Mache ich sonst auch. Aber spielt es eine Rolle? Auch, ob man Akademiker ist oder nicht, interessiert doch in meinem Metier keinen. Außer einmal in der Jugendarbeit. Da haben sie darauf Wert gelegt.

MYP Magazine:
Wie war es damals für Dich, Angestellter zu sein?

Erik:
Ich habe mich zum ersten Mal als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gefühlt und denke gerne daran zurück – denn wenn ich wie jetzt freiberuflich arbeite, wird das von vielen nicht ernstgenommen. In deren Augen ist das so: Entweder man faulenzt, wenn lange nichts geschieht, oder man hat durch Talent und Glück plötzlich unverdienten Erfolg. Dass beide Phasen zusammenhängen, ist weniger offensichtlich.

»Film ist für mich destilliertes, auf das Wesentliche reduziertes und in Form gebrachtes Leben.«

MYP Magazine:
Warst und bist Du immer informiert über aktuelle Tendenzen im Dokumentarfilm?

Erik:
Kennt man die Filmgeschichte und aktuelle Tendenzen, kann man bekannte Fehler vermeiden. Man läuft nicht Gefahr, filmische Gestaltungsmittel zu verwenden, die bereits abgenutzt sind. Ansonsten gehe ich ohne besondere Recherche-Interessen ins Kino. Natürlich gibt es Filme, die mich besonders inspirieren…

MYP Magazine:
… die da wären?

Erik:
Das sind meistens Filme mit einer überschaubaren Anzahl an Charakteren, die in einem nachvollziehbaren Setting angesiedelt sind. Die Spielregeln müssen klar sein. Aus der Beschränkung heraus entstehen bei mir die besten Ideen. Das Gegenteil dazu sind beispielsweise Filmepen wie „Vom Winde verweht“. Da ist der Name Programm und ich kann meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten.
Film ist für mich destilliertes, auf das Wesentliche reduziertes und in Form gebrachtes Leben. Unser menschliches Talent, Chaos und Zufall mit einem Sinn und einer Dramaturgie zu versehen, ist beim Dokumentarfilm zugleich Vorteil und Gefahr.

MYP Magazine:
Wie meinst du das?

Erik:
Wenn ich mir aus Menschen und ihren Geschichten einen Dokumentarfilm forme, riskiere ich immer, ihnen nicht gerecht zu werden. Das muss man als Zuschauer wissen. Ein Dokumentarfilm kann nicht die Funktion einer soziologischen Studie erfüllen.

»Niemand von ihnen will für immer in einem kleinen Apartment ohne Balkon ausharren.«

MYP Magazine:
Lass uns als Beispiel Deinen Dokumentarfilm „Berlin Excelsior“ nehmen. Darin hast Du die Menschen im sogenannten Excelsiorhaus im Berliner Stadtteil Kreuzberg portraitiert. Das ist ein etwas in die Jahre gekommenes Hochhaus, das wenige hundert Meter südlich des Potsdamer Platzes liegt – und in dem Du selbst wohnst. Wie bist Du da vorgegangen?

Erik:
Mein Co-Autor André Krummel und ich haben uns gefragt, unter welchem Leitmotiv man das Leben in diesem Gebäude zusammenfassen könnte. Schon das ist gewissermaßen Manipulation am Objekt und an den Menschen, man nennt es auch „die Autorensicht“. Ausgehend von den Menschen, mit denen ich am meisten Kontakt hatte, und sicher auch von meiner eigenen Situation wurde das dominante Thema „Leben in der Warteschleife“: Alle im Film haben Pläne, die sie verfolgen, niemand von ihnen will für immer in einem kleinen Apartment ohne Balkon ausharren.

MYP Magazine:
Ich kann mir in der Tat vorstellen, dass sich viele Bewohner des Excelsiorhauses nicht mit diesem Lebensgefühl identifizieren.

Erik:
So ein Leitfaden oder eine Botschaft wird nicht direkt kommuniziert im Film. Uns hat es geholfen, in der Vielseitigkeit der Biografien und Ereignisse nicht den Überblick zu verlieren. Es gibt dem Film, der ganz viele Menschen zeigt und vier davon eine Zeit lang durchs Leben begleitet, eine innere Geschlossenheit. Außerdem verhandelt man damit auch ein gesamtgesellschaftliches Thema. Den Zuschauern, die tiefer in die Analyse einsteigen wollen, muss der Film genug Material liefern. Wer keine Lust auf eine tiefere Beschäftigung hat, sollte wenigstens gut unterhalten werden. Deshalb ist mir der Unterhaltungswert wichtig.

»Ich weigere mich, aus meinen Protagonisten Opfer zu machen. Das käme einer Entmündigung gleich.«

MYP Magazine:
Ich habe mich bei jedem Deiner Dokumentarfilme sehr amüsieren können, sogar bei „Mich vermisst keiner!“, einem Halbstünder, den Du 2016 auf dem Festival „DOK Leipzig“ vorgestellt hast. Wie gelingt es, selbst in den traurigsten Lebensgeschichten noch diese humoristischen Momente einzufangen?

Erik:
Zuerst einmal, weil ich mich weigere, aus meinen Protagonisten Opfer zu machen. Das käme einer Entmündigung gleich. Dann auch, weil Menschen nicht permanent nur belastet und leidend sind, sondern stellenweise über sich stehen und die eigene Situation ironisch kommentieren können. Diese Gabe zeichnet etwa Rentnerin Evelin in „Mich vermisst keiner!“ aus. Ohne Beine lebt sie seit Jahren eingesperrt in ihrer Neubauwohnung ohne Fahrstuhl. Wenn ich ein solches Schicksal erzähle, muss ich darunter nicht noch einfühlsame Musik legen oder sie von oben herab einen „ganz besonderen Menschen“ nennen. Der Humor entsteht einfach durch die Situationskomik. Deshalb markiere ich während der Filmmontage komische Momente und versuche sie um jeden Preis zu bewahren.

MYP Magazine:
Und das machen andere Dokumentarfilmregisseure nicht so?

Erik:
Viele organisieren ihr Material rein inhaltlich. In unserem Berufsverband „AG DOK“ tauscht man sich ständig darüber aus, welche Spracherkennungssoftware denn nun die beste wäre zur Transkription von Interviews. Die entsprechenden Dokus entstehen zuerst am Schreibtisch und nicht am Schnittplatz. Das Ergebnis ist auf der Informationsebene makellos. Ich will aber unterhalten! Und viele Zwischentöne, feiner Witz, auch nonverbal, entgehen der Spracherkennungssoftware.

»Man kann die Homöopathie jahrzehntelang praktizieren und nicht mitbekommen, wie man sich in die eigene Tasche lügt.«

MYP Magazine:
Auch Dein Film „Homöopathie unwiderlegt?“ wirkt recht kurzweilig, obwohl dort 86 Minuten lang nur gesprochen wird. Damit erzählst Du aber erstmals keine (Lebens-)Geschichte, sondern behandelst ein konkretes Thema. Das passt doch nicht zu Dir.

Erik:
Jein! Auch in diesem Film nehme ich mir ein exakt umrissenes Stück der Realität vor und dokumentiere es akribisch. Nämlich die Homöopathie in den Köpfen derer, die damit Geld machen. Es handelt sich dabei um eine 200 Jahre alte Pseudolehre, die auf geniale Weise natürliche Genesungsprozesse als eigene Erfolge ausgibt. Man kann sie jahrzehntelang praktizieren und nicht mitbekommen, wie man sich in die eigene Tasche lügt. Um das verstehbar zu machen, exploriert der Film weniger auf der bildlichen, sondern mehr auf der Wortebene.

MYP Magazine:
Du hättest in „Homöopathie unwiderlegt?“ auch Patienten beobachtend dokumentieren können…

Erik:
Klar. Ich hätte mir sogar diejenigen rausfischen können, die scheinbar von der Methode profitieren. Es gibt aber keinen validen Hinweis auf eine arzneiliche Wirksamkeit der Homöopathie, das bestätigen in meinem Film sogar jene Fürsprecher der Behandlungsmethode, die die Studienlage kennen.

»In der Homöopathie gibt es diesen Willen zur Fehlerkorrektur nicht.«

MYP Magazine:
Glaubst du, dass Dein Homöopathie-Film etwas gesellschaftlich verändern kann?

Erik:
Ich glaube nicht daran, dass jemand als glühender Verfechter der Homöopathie ins Kino geht und durch meinen Film ernsthaft ins Zweifeln kommt. Ich erlebe aber positive Entwicklungen, was unsere Fehlerkultur angeht, auch im Zuge der Corona-Pandemie. Da wurde transparent erlebbar gemacht, wie Wissenschaft funktioniert. Mit dem Zuwachs an Erkenntnissen mussten Entscheidungen angepasst werden, Zulassungen für Impfstoffe wurden teilweise zurückgenommen und all das war gut nachvollziehbar und wurde offen kommuniziert. In der Homöopathie gibt es diesen Willen zur Fehlerkorrektur nicht. Noch nie wurde ein Homöopathikum wieder aus dem Arzneischatz entfernt, negative Studienergebnisse bleiben ohne Konsequenz. Ein unaufgeregter Umgang mit Irrtümern und kontinuierliche Aufklärung sind auf lange Sicht fruchtbar.

MYP Magazine:
Gab es Reaktionen auf den Film, die in die von Dir erhoffte Richtung gehen?

Erik:
Gefreut habe ich mich über einige Homöopathie-Patienten, die durch den Film neugierig geworden sind, was denn am Ende gewirkt haben könnte, wenn es die homöopathischen Mittelchen definitiv nicht sein können. Diese Frage darf auch erst mal offenbleiben. Wenn sich die ideologische Versteifung auf die Dogmen der Homöopathie wenigstens etwas lockern würde, wäre das bereits sehr positiv.

»Don’t be a director! Be an audience!«

MYP Magazine:
Hast Du konkrete Pläne für die Zukunft?

Erik:
Auf jeden Fall. Aber wenn Du einen neuen Langfilm meinst, spüre ich im Moment noch nicht die Dringlichkeit. Es fehlt nicht an guten Filmen, es fehlt an Zuschauern. „Don’t be a director! Be an audience!“ Ich stelle mich als Zuschauer zur Verfügung und wenn ein notwendiger Film partout nicht gemacht wird, dann mach‘ ich ihn.

Streaming:

„Homöopathie unwiderlegt?“ von Erik Lemke kann aktuell auf Vimeo angesehen werden, die Filme „Berlin Excelsior“ und „Mich vermisst keiner“ gibt’s beim Streamingdienst Sooner.

Kinovorführungen im ACUD Berlin:

03.11.22, 19:00 Uhr: „Homöopathie unwiderlegt?“
in Anwesenheit von Erik Lemke

Kinovorführung im B-Movie Hamburg:

08.11.22 Homöopathie unwiderlegt?
in Anwesenheit von Erik Lemke