Interview — Jannik Schümann

Kunst in kürzester Zeit

Mit dem Film »Deine Farbe« veröffentlicht Amazon Prime eines der ungewöhnlichsten Projekte, an dem Schauspieler Jannik Schümann je mitgewirkt hat. Warum dem so ist, erzählt uns der 28-Jährige im exklusiven MYP-Interview. Ein Gespräch über permanentes Improvisieren, gesellschaftlichen Aktivismus und einen mysteriösen Bart.

14. Februar 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Interview: Katharina Weiß, Fotografie: Maximilian König

Der Film „Deine Farbe“, der ab dem 22. Februar auf Amazon Prime zu sehen sein wird, ist so ungewöhnlich wie seine Entstehungsgeschichte. Geschrieben wurde er von Maria Diane Ventura, einer philippinischen Regisseurin, die in ihren Zwanzigern in die Vereinigten Staaten immigrierte und dort eine Story über Freundschaft im Kontext jugendlicher Träume und gesellschaftlicher Limitationen verfasste.

In „Deine Farbe“ hat sie diese Geschichte nun zum Leben erweckt – und zwar auf besondere Art und Weise. Die Mittdreißigerin versetzt in ihrem Debütfilm nicht nur ihre persönlichen Migrationserfahrungen in ein völlig neues Setting. Sie gießt auch ihre philippinisch-US-amerikanische Perspektive in den Plot zweier deutscher Jungs, die nach ihrem Schulabschluss aus der deutschen Provinz in die spanische Partymetropole Barcelona ziehen.

Karl und Albert, gespielt von Jannik Schümann und Nyamandi Adrian, stammen zwar aus unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Doch sie verbindet der Wunsch, ihrem Heimatland zu entfliehen und auf der Suche nach einem glücklicheren Leben nach Spanien zu ziehen. Mit ihrem gemeinsamen Sinn für Humor und provokanten Ideen beschließen sie, ihre jugendlichen Abenteuer, privaten Gespräche und Gefühle zu dokumentieren – mit dem Traum, eines Tages in der Lage zu sein, ihre Leidenschaften öffentlich zu teilen und möglicherweise die Stimme ihrer Generation zu sein.

Die innige Beziehung der beiden ist mit der Bindung von Zwillingen zueinander vergleichbar. Doch es gibt einen Unterschied: Der eine Zwilling ist weiß, der andere Schwarz. Die damit verbundene Diskrepanz ihrer gesellschaftlichen Privilegien bestimmt den Weg der jungen Männer durch die fremde Großstadt.

Der Reiz von Sonne, Sex und Drogen wird bald von pragmatischeren Herausforderungen des Alltags abgelöst. Während sich der ambitionierte Karl schnell an die vorgegebenen Umstände anpasst, kämpft Freigeist Albert mit dem Druck, den die neugewonnene Selbständigkeit mit sich bringt – und schlägt einen gefährlichen Weg ein. Unbemerkt von Karl kämpft er zunehmend mit persönlichen Problemen, doch der Stolz und die Angst, seine Geheimnisse vor seinem engsten Freund zu verraten, treiben ihn in die Enge. Was ursprünglich als harmlose Idee gedacht war, wird zu einem Instrument der Selbstzerstörung, als Albert sein eigenes tragisches Exposé dokumentiert.

„Es geht darum, Teile meiner eigenen Geschichte zu erzählen“, sagt Ventura über ihren Debütfilm. Diese Geschichte spiegele sich in den fiktiven Figuren und Umständen wider, die sie geschaffen habe. „Ich habe keine Autorität über die Moral“, erklärt sie. „Ich bin selbst ein komplexer, fehlerhafter Mensch, der nur versucht, sich selbst und die Welt zu verstehen, und dabei hoffentlich den zivilisierten Diskurs fördert.

Da die Regisseurin zurzeit in den USA weilt, um dort ihr nächstes Spielfilmprojekt „Luz Oscura (Dark Light)“ zu realisieren, hat sich Schauspieler Jannik Schümann spontan zu einem persönlichen Gespräch bereit erklärt – in einer farblosen, coronakalten Landschaft zwar. Aber dafür nicht minder ausführlich.

»Die Casterin findet mich, ich finde zu Diane – und das Abenteuer beginnt.«

Katharina Weiß:
„Deine Farbe“ ist ein sehr spezieller Film – die Erzählweise der Regisseurin ist für das europäische Auge zunächst etwas ungewöhnlich. Wie war es, sich auf so ein unkonventionelles Projekt einzulassen?

Jannik Schümann:
Das Unkonventionelle zog sich durch alle Bereiche – angefangen bei dem verrückten Mut, mit dem Diane das Projekt angeschoben hat: Eine Frau kommt nach Europa und hat ihre beste Freundin als Produzentin sowie ein Drehbuch im Gepäck. Sie kennt den deutschen Markt nicht ansatzweise, vertraut sich hier aber einer Casterin an, die ihr in diesem fremden Land die richtigen Schauspieler für ihr Herzensprojekt suchen soll. Diese Casterin findet mich, ich finde zu Diane – und das Abenteuer beginnt.

»Bei den Dreharbeiten wurden wir jeden Tag aufs Neue ins kalte Wasser geschmissen.«

Katharina Weiß:
Was genau war so anders an diesem Dreh?

Jannik Schümann:
Ich wusste, dass „Deine Farbe“ eine kleine, aber internationale Produktion wird. In der Regel bedeutet das: ausbrechen aus dem üblichen Konstrukt, bei dem von der Maske über die Mittagspause bis zum Szenenplan alles durchgetaktet ist. Hier war es völlig anders: Bei den Dreharbeiten wurden wir jeden Tag aufs Neue ins kalte Wasser geschmissen. Es herrschte ein kreatives Chaos, da man jeden einzelnen Tag mit der Herausforderung konfrontiert war, so viel wie möglich in den Kasten zu bekommen und je nach Wetterlage und Teamstärke zu improvisieren. Bis auf die Außenaufnahmen haben wir alles in einem Berliner Reihenhaus gedreht, das Diane für 14 Tage gemietet hatte. Zum Vergleich: Eine hochprofessionalisierte Produktion wie beispielsweise der ARD-Tatort ist mit etwa 21 Drehtagen angesetzt – und das ist erfahrungsgemäß schon viel zu wenig.

»Wie zur Hölle wollen die es schaffen, dass es hier morgen so aussieht, als hätte da 18 Jahre lang jemand gelebt?«

Katharina Weiß:
Wie verwandelt man ein Haus innerhalb so kurzer Zeit in etwa ein Dutzend verschiedene Kulissen?

Jannik Schümann:
Ich habe keine Ahnung. Manchmal stand ich am Tag davor in einem leeren Raum und habe mich gefragt: Wie zur Hölle wollen es Diane und Co-Produzentin Chloe schaffen, dass es hier morgen so aussieht, als hätte da 18 Jahre lang jemand gelebt – und das mit den einfachsten Mitteln, von Ikea und Bauhaus?
Konkret sah das dann manchmal so aus: Oben im Dachgeschoss befand sich an einem Drehtag Karls Zimmer in seinem deutschen Zuhause. Im ersten Stock wiederum war Alberts Kinderzimmer angelegt. Kam man ins Erdgeschoss, fand man ein Loft im Barcelona-Stil vor, und im Keller waren ein Schießstand und ein Club aufgebaut. Im Garten wurde eine große Outdoor-Party mit spanischem Flair inszeniert. Daran nahmen übrigens auch einige Bekannte von mir teil, die ich vorher per Facebook mit Freibier angelockt hatte. Neben meiner besten Freundin Zoë, mit der ich auch den Adventschallenger betreibe, war unter anderem Maria Dragus mit an Bord, die für „Das weiße Band“ schon mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. In „Deine Farbe“ ist sie als Gastgeberin der Party zu sehen.

»Innerhalb kürzester Zeit Kunst zu machen, das war der experimentelle Geist dieses Projekts.«

Katharina Weiß:
Wenn es schon in der Umgebung von Berlin so spannend für Dich war, wie hast Du dann den Dreh in Barcelona empfunden?

Jannik Schümann:
Da erlebten wir ein fantastisches Freiheitsgefühl. Drehgenehmigung? Was ist das! Wenn wir durch die Straßen gefahren sind und einen schönen Ort gefunden haben, sind wir immer wieder spontan aus dem Auto gesprungen, weil Diane rief: „Hier können wir nochmal drehen!“ Gerade jetzt, im Corona-Winter, habe ich richtig Fernweh im Gedanken an Sonne und Sangria.
Aber ganz abgesehen davon muss ich noch eine generelle Feststellung loswerden: Das Schöne an diesem kurzen Projekt war, dass ich mich wieder wie ein kleiner Junge fühlen durfte, der mit seinen Freunden ein Theaterstück erarbeitet und es am Ende des Tages den Eltern vorführt. Innerhalb kürzester Zeit Kunst zu machen, das war der experimentelle Geist dieses Projekts – und das fasziniert mich immer noch.

»Wenn man Diane in eine Bar schleppt, geht sie mit jeder Menge neuer Handynummern nach Hause.«

Katharina Weiß:
Maria Diane Ventura scheint eine herausragende Persönlichkeit zu sein, die dieses verrückte Selfmade-Projekt mit ihrer Visionskraft zusammenhielt. Welche Rolle spielte Freundschaft, das Hauptmotiv des Films, bei der Realisation des Films?

Jannik Schümann:
Das größte Geschenk dieses Projekts ist die ungewöhnlich enge Freundschaft, die dort zwischen mir und Diane begann. Sie zog im Anschluss für über ein Jahr nach Berlin und gehört wirklich zu meinem inner circle. Ihre positive Verrücktheit zeigt sich auch dadurch, dass sie alles für ihre Freunde tun würde. Als ich einmal Kummer hatte und in New York strandete, flog sie – ohne viele Fragen zu stellen – für fünf Tage von Los Angeles an die Ostküste, nur für mich.
Obwohl ich es genieße, so eine besondere Beziehung zu ihr zu haben, finde ich es großartig, dass ihr Bekanntenkreis so divers ist. Das kommt daher, dass sie sich mit jeder Person, die sie trifft, ein zweites Mal verabredet. Wenn man Diane in eine Bar schleppt und sie Menschen vorstellt, dann geht sie mit jeder Menge neuer Handynummern nach Hause. Egal, wie irrwitzig es in ihrem eigenen Nomadenleben manchmal zugeht: Sie hat eine immense therapeutische Wirkung auf andere. Und eine enorme Kraft.

»Mit einem Fernsehabend auf der Couch kann man Kino nicht ersetzen.«

Katharina Weiß:
Aufgrund von Corona läuft der Film nun nicht im Kino, sondern auf der Prime-Plattform des Streaming-Giganten Amazon an. Siehst Du das als Chance oder Herausforderung?

Jannik Schümann:
Grundsätzlich finde ich es schade, dass man den Film nicht zusammen mit anderen im Kino ansehen kann. Ich liebe und vermisse das Kino! Der Gedanke, dass ich fast ein Jahr lang nicht im Kino war, macht mich gerade wirklich traurig. Kino ist Treffpunkt mit Eventcharakter und Herzklopfen – das kann man mit einem Fernsehabend auf der Couch nicht ersetzen. Trotzdem ist es genial, dass wir in einer Zeit, in der wenig los ist, weiterhin neuen geistigen Input und Kultur über solche Streamingplattformen erhalten. Auch dass „Deine Farbe“ nun am 22. Februar einen weltweiten Start hat, finde ich schön. So etwas kann das Kino aktuell nicht leisten.

»Zum Glück kommt man nicht mehr darum herum, sich selbst zu hinterfragen.«

Katharina Weiß:
„Deine Farbe“ nähert sich auch dem Thema Rassismus. Wie hast Du dich als weißer Schauspieler in diesem Kontext hinterfragt?

Jannik Schümann:
Zum Glück kommt man nicht mehr darum herum, sich selbst zu hinterfragen. Da bin ich selbst keine Ausnahme. Die letzten Jahre haben mir viele Denkanstöße gegeben und zu vielen weiteren Gedanken geführt. In Buchhandlungen gehe ich zurzeit immer zuerst zum Stapel von aktivistischen Autor*innen. Das Buch „Americanah“ der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie etwa oder „The Hate U Give“ von Angie Thomas haben mich sehr beeindruckt. Und gerade liegt „Der Wassertänzer“ von Ta-Nehisi Coates auf meinem Nachttisch.
Als ich kürzlich nochmal die finale Fassung von „Deine Farbe“ gesehen habe, fiel mir auf, wie subtil und komplex darin das Thema Rassismus angeschnitten wird. Zudem wurde mir bewusst, dass ich persönlich viel sensibler geworden bin. Als wir den Film vor drei Jahren gedreht haben, war beispielsweise das diskriminierende Wort „M*kopf“, das in der ersten Szene fällt, noch nicht so wuchtig, wie es mir heute erscheint. (Warum dieses Wort nicht mehr verwendet werden sollte, könnt Ihr hier nachlesen.)

»In den letzten Jahrzehnten sind Menschen dafür auf die Straße gegangen, dass ich mein Leben so leben kann, wie ich es jetzt gerade tue.«

Katharina Weiß:
Unsere Generation scheint ohnehin eine Aufbruchsstimmung in Diskriminierungsfragen zu verspüren. Erst vor Kurzem machte die Süddeutsche Zeitung international Schlagzeilen mit dem Titelblatt „Wir sind schon da“. Darin hieß es: „185 lesbische, schwule, bisexuelle, queere, nicht-binäre und trans* Schauspieler*innen outen sich – und fordern mehr Anerkennung in Theater, Film und Fernsehen. Mit der Initiative #actout und einem gemeinsamen Manifest wollen sie eine Debatte anstoßen.“ Du warst ebenfalls auf dem Cover zu sehen – allerdings hattest Du bereits ein paar Wochen zuvor einen Instagram-Post abgesetzt, auf dem Dein Freund dich küsst. Wie beurteilst Du die politische Komponente dieser Bewegung?

Jannik Schümann:
Ich bin dankbar, als Aktivist diese Möglichkeit zu bekommen. In den letzten Jahrzehnten sind Menschen dafür auf die Straße gegangen, dass ich mein Leben so leben kann, wie ich es jetzt gerade tue. Davor habe ich einen unglaublichen Respekt, denn die Zeiten waren oft gefährlicher als unsere. Doch leider sind wir 2021 immer noch nicht so weit, dass für alle verständlich ist, wie divers die Liebe ist. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich aktiv voranschreiten und etwas bewegen kann, damit nachfolgende Generationen vielleicht gar nicht mehr um dieses Thema kämpfen müssen.

»Meine Rolle ist genderfluid angelegt – es hat Spaß gemacht, eine Figur zu spielen, die so frei ist.«

Katharina Weiß:
Du wirst dieses Jahr zusammen mit Deinem Spielpartner Nyamandi Adrian aus „Deine Farbe“ auch in der Netflix-Produktion „Tribes of Europa“ zu sehen sein. Was erwartet uns da?

Jannik Schümann:
Die Story spielt in der Zukunft, genauer gesagt im Jahr 2074, und es geht darum, dass die verschiedensten Stämme miteinander kämpfen. Ich bin der Lieblings-Sexsklave von Lord Varvara, doch Emilio Sakraya, ein neuer Verschleppter, will mir die Gunst der Herrscherin streitig machen. Meine Rolle ist übrigens genderfluid angelegt – es hat Spaß gemacht, eine Figur zu spielen, die so frei ist.

Katharina Weiß:
Willst du uns verraten, für welches Projekt Du diesen schicken Bart wachsen lässt?

Jannik Schümann (grinst):
Nur soviel: Der Bart dient einem royalen Zweck.

Katharina Weiß:
Lieber Jannik, vielen Dank für das Gespräch!