Interview — Michelangelo Fortuzzi

»Der Druck, der breiten Masse zu gefallen, ist riesengroß«

In der neuen ZDFneo-Serie »WatchMe – Sex sells« spielt Michelangelo Fortuzzi einen jungen Mann, der in einer toxischen Beziehung steckt und sein Geld damit verdient, die Videos vom Sex mit seinem Freund auf einer Bezahl-Plattform à la OnlyFans anzubieten. Ein Gespräch über moderne Sexarbeit, Intimität am Filmset und den Umgang mit schwierigen Publikumsreaktionen.

27. Mai 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederike van der Straeten

Sex sells – diese einfache Logik gilt nicht nur in der Werbung. Das Geschäft mit Pornografie ist ein Milliarden-Business, vor allem im Internet. Schon vor zehn Jahren drehten sich rund ein Viertel aller Online-Suchanfragen um pornografische Inhalte, kostenlose wie kostenpflichtige. Ganz vorne mit dabei: die Deutschen.

Dabei galt bereits zu Zeiten der VHS-Kassette das Prinzip, dass den Produzent*innen von solchen Inhalten das größte Stück vom Kuchen zufällt und den sich körperlich Einbringenden – wenn überhaupt – nur eine verhältnismäßig kleine Gage zugestanden wird. Hier reden wir nur vom seriösen Teil des Pornoangebots, der eine unendlich große Zahl von Inhalten steht, in denen Menschen zum Sex vor der Kamera gezwungen, in ihrer prekäre Situation ausgenutzt oder in sonst einer Form missbraucht wurden, etwa im Bereich Kinderpornografie.

Doch in dieses eherne Geschäftsprinzip ist seit einiger Zeit Bewegung gekommen. Denn die Idee sozialer Netzwerke, in denen Individuen ihre eigenen Inhalte kreieren und mit der Welt teilen können, hat sich mittlerweile auch auf die Pornobranche übertragen. Auf etlichen Plattformen, die Namen wie OnlyFans, BestFans oder AdmireMe tragen, können User*innen seit einigen Jahren und gegen Gebühr in selbst gewählter Höhe ihre sexuellen Fotos und Videos posten – scheinbar selbstbestimmt und ohne jeden Mittelsmann oder klassischen Produzenten (die in den allermeisten Fällen tatsächlich männlich sind, wer hätte es gedacht).

Und wie auch in klassischen sozialen Netzwerken wie TikTok, Instagram oder Facebook (die Älteren erinnern sich) gilt auch hier: Je höher die Followerschaft, desto höher das Einkommen. Wer einen Eindruck vom Leben und der täglichen Arbeit solcher digitaler Sexarbeiter*innen werfen möchte, dem sei die vierteilige Dokumentation „OnlyFans Uncovered“ von RTL+ empfohlen, in der zwölf dieser Menschen einen Blick hinter die Kulissen gewähren – mit allen Licht- und Schattenseiten.

Von einer ganz anderen Seite, der fiktionalen, nähert sich dem Thema dagegen die neue Serie „WatchMe – Sex sells“ von Regisseurin Alison Kuhn, die seit dem 12. Mai in der ZDF-Mediathek abrufbar ist und ab dem 3. Juni auch im linearen TV läuft. Sie erzählt die Geschichte von den drei Protagonist*innen Malaika, Toni und Tim, die aus ganz unterschiedlichen Beweggründen auf dem pornografischen Social Network „WatchMe“ aktiv sind. Während Malaika sich online als sex- und körperpositive Aktivistin präsentieren will, braucht die alleinerziehende Mutter Toni dringend Geld und genießt es, auf „WatchMe“ die Lust an ihrer Weiblichkeit und ihrem Körper wieder zu entdecken.

Tim dagegen macht gerade sein Abi nach und steckt in einer toxischen Beziehung mit dem wesentlich älteren Josh, für dessen „WatchMe“-Account der junge Tim das wirtschaftliche Zugpferd ist. Gespielt wird er vom 22-jährigen Michelangelo Fortuzzi, der bereits seit dem Kindesalter vor der Kamera steht und zuletzt in Formaten wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (Amazon) oder „Preis der Freiheit“ brilliert hat.

Übrigens: Dass das Zweite Deutsche Fernsehen die Serie auf einen Sendeplatz in seinen Spartensender ZDFneo schiebt, und das noch um 23:50 Uhr am Samstagabend, erweckt den Eindruck, als schäme man sich auf dem Mainzer Lerchenberg ein wenig für den Sechsteiler. Umso überraschter dürfte man daher dort gewesen sein, dass „WatchMe“ eine so große und positive mediale Resonanz erzeugt hat.

»Ich hatte Angst, die Leute könnten sagen, dass unsere Story nichts mit der Realität zu tun hätte.«

MYP Magazine:
Michelangelo, seit wenigen Tagen ist „WatchMe“ in der ZDF-Mediathek abrufbar. Wie hast Du den Start der Serie erlebt?

Michelangelo Fortuzzi:
Ich war ganz schön aufgeregt, denn so viel Nacktheit hatte ich bisher in keinem anderen Projekt. Davon abgesehen war es meine größte Sorge, dass es Menschen geben könnte, die sich durch unsere Serie persönlich angegriffen fühlen – etwa durch die Art und Weise, wie wir das Thema angegangen sind. Oder wie wir die Welt erzählen, in der die drei Geschichten stattfinden, insbesondere die meiner Figur. Ich hatte Angst, die Leute könnten sagen, dass unsere Story nichts mit der Realität zu tun hätte. Ich hatte Angst, man könnte uns vorwerfen, dass wir mit der Serie abschätzig und verurteilend auf Menschen blicken, die sich vor der Kamera ausziehen und damit ihr Geld verdienen. Selbstverständlich war und ist das überhaupt nicht unsere Intention, aber man weiß ja nie, was die Leute dazu sagen…

»Sex und vor allem Sexarbeit sind für viele Menschen immer noch Tabuthemen.«

MYP Magazine:
Was hat Dich grundsätzlich daran gereizt, bei einem Format wie „WatchMe“ mitzuspielen?

Michelangelo Fortuzzi:
Schlicht und einfach das Thema. Ich habe das Gefühl, dass Sex und vor allem Sexarbeit für viele Menschen immer noch Tabuthemen sind. Daher wird auch kaum oder zu wenig darüber gesprochen, inwiefern man diese Branche – vor allem die Sexarbeit im Internet – regulieren kann, sodass die Leute dort nicht ausgenutzt werden und für alle Beteiligten maximale Transparenz herrscht. Meine Hoffnung ist, dass „WatchMe“ einen grundsätzlichen Diskurs anregt und die Menschen geradezu dazu zwingt, sich mit dieser Welt auseinanderzusetzen und darüber ins Gespräch zu kommen.

»Ich will, dass es den schwarzen Schafen in der Branche wesentlich schwerer gemacht wird, andere auszunutzen.«

MYP Magazine:
Welche Debatte wünschst Du dir konkret?

Michelangelo Fortuzzi:
Unsere Serie zeigt – und das deckt sich auch mit meinen eigenen Recherchen im Vorfeld –, dass im Bereich Sexarbeit im Internet immer noch sehr viel Ausbeutung stattfindet. Es gibt beispielsweise Agenturen, die über die Hälfte des Einkommens von Online-Sexarbeiter*innen als Provision oder Gebühren einbehalten. Das ist wirklich krass, hier fehlt jede Form von Regulierung. Ich finde es wichtig, auf dieses Problem hinzuweisen und damit im besten Fall einen gesellschaftlichen Diskurs zu starten. Wenn die richtigen Leute darüber reden, kann das vielleicht zu einer positiven Veränderung führen. Bitte nicht falsch verstehen: Ich will kein Verbot, denn das würde aus meiner Sicht alles noch viel schlimmer machen. Ich will einfach nur, dass es den schwarzen Schafen in der Branche wesentlich schwerer gemacht wird, andere auszunutzen.

MYP Magazine:
Auf RTL+ wurde vor etwa einem halben Jahr die Dokuserie „OnlyFans Uncovered“ veröffentlicht, die einen tiefen Einblick in das Leben echter Kreator*innen von Adult Content gewährt – mit all den Vor- und Nachteilen, die so ein Job mit sich bringt. Was ist Deiner Meinung nach der Mehrwert einer fiktionalen Serie wie „WatchMe“?

Michelangelo Fortuzzi:
Bei Dokus habe ich als Zuschauer oft das Gefühl, dass man von den vielen Informationen relativ einfach Abstand nehmen kann. Bei Fiktion dagegen passiert es im besten Fall, dass man sich einer Person so verbunden fühlt, dass man in ihre Situation und Lebenswelt geradezu reingezogen wird – etwa, wenn sie das Ganze nicht freiwillig macht und von anderen dazu gedrängt wird, sich vor der Kamera auszuziehen. Soweit ich weiß, stellt „OnlyFans Uncovered“ nur Menschen vor, die sich bewusst und aus freien Stücken dafür entschieden haben, sich selbst auf dieser Plattform anzubieten.

»Ich habe mir Tim immer als jemanden vorgestellt, der es als schwuler Teenager nie so wirklich leicht hatte.«

MYP Magazine:
In „WatchMe“ spielst Du den 20-jährigen Tim, der von seinem wesentlich älteren Freund Josh dazu animiert wird, den gemeinsam Sex zu filmen und ins Netz zu stellen. Wie hast Du diesen Charakter angelegt? Was ist Tims Geschichte, was ist er für ein Mensch?

Michelangelo Fortuzzi:
Ich habe mir Tim immer als jemanden vorgestellt, der in einem kleinen Ort im Berliner Umland aufgewachsen ist, wo er es als schwuler Teenager nie so wirklich leicht hatte. Mit seinem Umzug in eine Großstadt wie Berlin hat sich für ihn auf einmal eine Welt eröffnet, in der er kein Außenseiter oder Exot mehr ist, sondern ein Teil einer großen bunten Community. Plötzlich war in seinem Leben alles aufregend. In Berlin hat er auch recht schnell Josh kennengelernt – und so gab es nun auch jemanden, der sich um ihn kümmert. Aus diesem Grund ist er auch spontan bei Josh eingezogen und Teil von dessen „WatchMe“-Content geworden, ohne sich groß darüber Gedanken zu machen, was da überhaupt passiert und wie viel Aufwand es bedeutet. Doch durch die Geborgenheit, die Josh ihm gibt, gewinnt Tim mit der Zeit auch immer mehr an Selbstbewusstsein. Er hat sogar den Mut, sein Abi nachzuholen, und macht sich Gedanken darüber, worauf er in seinem Leben eigentlich Lust hat. Im Laufe der Serie geht es für Tim immer stärker darum, sich komplett unabhängig zu machen, vor allem von Josh. Und das führt natürlich zu Konflikten.

»Wir beide sind Menschen, die mit ihren Handlungen niemanden verletzen wollen.«

MYP Magazine:
Gibt es Überschneidungen, die Du zwischen der fiktionalen Persönlichkeit von Tim und Deiner eigenen entdeckt hast?

Michelangelo Fortuzzi:
Tim und ich sind uns auf der emotionalen Ebene sehr ähnlich. Wir beide sind Menschen, die mit ihren Handlungen niemanden verletzen wollen, und wir haben den großen Wunsch, dass es allen Leuten um uns herum immer gut geht. Aus diesem Grund verzichten wir auch gerne mal darauf, uns um uns selbst zu kümmern. Viel wichtiger ist es uns, dass die Menschen, die wir lieb haben, okay mit uns sind.

MYP Magazine:
Tim ist zwar wesentlich jünger als Josh, dennoch scheint er eine viel höhere emotionale Intelligenz zu besitzen. Wie würdest Du die Beziehung der beiden Männer beschreiben?

Michelangelo Fortuzzi:
Zu Beginn der Serie geben sich die beiden noch sehr viel, sie pushen sich gegenseitig hoch und helfen einander. Während Josh ein Macher ist und mit einer „Let’s do it“-Attitüde am Erfolg des gemeinsamen Sexbusiness arbeitet, bringt der gefühlvolle Tim eine gewisse Herzenswärme mit in die Beziehung. Doch bald merkt er, dass er sich in einer emotionalen und finanziellen Abhängigkeit von Josh befindet, die überaus toxisch und ungesund ist.

MYP Magazine:
Josh setzt Tim enorm unter Druck, indem er etwa sagt: „Es wäre schön, wenn Du auch mal was für uns machen könntest.“ Damit wünscht er sich von Tim mehr Engagement vor der Kamera statt für die bevorstehende Abiturprüfung. Außerdem reibt er Tim immer wieder unter die Nase, wie finanziell abhängig dieser von ihm ist. Welches Druckmittel hat Tim in der Hand?

Michelangelo Fortuzzi:
Ohne Tim funktioniert das Business nicht. Josh könnte sich zwar einen neuen Partner suchen, aber das wäre mit einem ziemlichen Zeitaufwand verbunden und er würde bis dahin kein Geld verdienen. Aus der Business-Perspektive ist Josh also total abhängig von Tim.

»Im Workshop haben wir gelernt, wie und wo wir unser Gegenüber vor der Kamera berühren dürfen.«

MYP Magazine:
Josh wird gespielt von Simon Mantei. Wie hast Du dich mit ihm, aber auch mit der Regisseurin Alison Kuhn auf die Serie vorbereitet? Welche Gespräche hattet Ihr im Vorfeld zu den Charakteren, der Beziehungsdynamik oder auch zu den einzelnen Szenen geführt?

Michelangelo Fortuzzi:
Als die Besetzung für Josh gesucht wurde, war ich bei jedem Casting dabei. Am Ende gab es zwei Favoriten und ich wurde gefragt, mit wem ich mich wohler fühlen würde – und meine Wahl fiel auf Simon. Während unserer Vorbereitung auf die Serie wurde uns mit Marit Östberg eine Intimitäts-Koordinatorin zur Seite gestellt, die auch später beim Dreh die ganze Zeit vor Ort war.
In einem gemeinsamen Workshop haben wir gelernt, wie und wo wir unser Gegenüber vor der Kamera berühren dürfen. Dafür gab es unter anderem folgende Übung: Man steht sich gegenüber und zeigt mit seiner Hand nacheinander auf diverse Zonen des eigenen Körpers. Dabei sagt man laut „grün“, „gelb“ oder „rot“. Grün bedeutet: Hier kannst du mich immer problemlos und ohne Nachfrage berühren. Gelb heißt: Anfassen ist okay, wenn es vorher abgesprochen wird. Und rot ist die No-Go-Zone. Im zweiten Schritt nimmt man die Hand des Gegenübers und geht damit erneut die Zonen des eigenen Körpers ab. Dabei kann sich die Farbe auch mal ändern, da nun der Faktor dazugekommen ist, dass nicht mehr die eigene Hand den Körper berührt, sondern die eines anderen.
Darüber hinaus haben wir auch mit Alison viel über die Situation gesprochen und nacheinander alle Intimszenen durchstrukturiert – erst theoretisch auf Papier, dann in einer Probe. Dabei haben wir ganz trocken die einzelnen Positionen nachgestellt und geschaut, dass es für die Kamera gut aussieht und für Simon und mich angenehm ist.

»Sich in so einer Situation zu entblößen war wirklich gewöhnungsbedürftig.«

MYP Magazine:
In der Pressemappe zur Serie sagst Du in einem Kurzinterview: „Bei dem Projekt musste ich über viele Schatten springen.“ Welche Schatten waren das konkret?

Michelangelo Fortuzzi:
Die beiden größten Schatten waren das Nacktsein und die Intimität. Beides habe ich zwar per se nicht als unangenehm empfunden. Doch auch wenn das Set für die Sexszenen viel kleiner gehalten wurde als bei „normalen“ Szenen, hatte man auch hier immer etwa 20 Leute um sich herum, die man erst seit ein paar Tagen kannte. Sich in so einer Situation zu entblößen war wirklich gewöhnungsbedürftig. Zwar wurde mir nach jedem Take sofort ein Handtuch oder ein Bademantel gereicht. Aber am Ende ist es trotzdem weird, da den halben Tag nackt herumzustehen, während alle anderen angezogen sind und ihr Ding machen.
So gab es auch immer wieder Momente, in denen ich gemerkt habe, dass ich mich gerade sehr zusammenreißen muss, um nicht aus einem Schutzreflex heraus plötzlich grantig zu werden. Etwa wenn die Maske noch mal kurz ins Bild musste, um einen Pickel abzudecken. Solche Momente habe ich als sehr unangenehm empfunden, aber nicht im Sinne von: Ich werde hier zu etwas gedrängt, was ich nicht machen will. Denn ich wusste ja genau, worauf ich mich einlasse. Sondern eher in Bezug auf: Ich muss gerade lernen, damit umzugehen. Am Ende hat aber alles ganz gut geklappt, denke ich.

»Ich finde, so ein Intimacy Coach gehört in Deutschland grundsätzlich an jedes Set.«

MYP Magazine:
Wie konnte Dich die Intimitäts-Koordinatorin in diesen Situationen am Set unterstützen?

Michelangelo Fortuzzi:
Für mich war „WatchMe“ das allererste Projekt, bei dem am Set permanent ein Intimacy Coach dabei war – und das war mega! Man hatte auf einmal so eine Art Anwalt – oder in Marits Fall Anwältin – an seiner Seite, zu der man jederzeit sagen konnte: Du, ich fühle mich gerade doch nicht so wohl, obwohl wir die Szene vorhin besprochen haben. Der Intimacy Coach hat in solchen Fällen die Macht, den Dreh so lange zu unterbrechen, bis eine Situation gefunden wird, in der es allen wieder gutgeht. Ich finde, so jemand gehört in Deutschland grundsätzlich an jedes Set. In England zum Beispiel ist meines Wissens immer ein Intimacy Coach dabei, auch wenn es sich „nur“ um Kuss-Szenen handelt. Aber in Deutschland braucht man halt für alles ein bisschen länger.

»Es ist immer hilfreich, wenn man selbst einen ähnlichen Druck verspürt wie der Charakter.«

MYP Magazine:
Es gibt eine interessante Parallele zwischen Euch Schauspieler*innen und den fiktionalen Figuren, die Ihr darstellt: Alle müssen für sich entscheiden, ob sie sich in einem öffentlich zugänglichen Medium nackt zeigen wollen. Hat Dir diese Parallele geholfen, in Deine Rolle zu finden?

Michelangelo Fortuzzi:
Auf jeden Fall. Es ist immer hilfreich, wenn man selbst einen ähnlichen Druck verspürt wie der Charakter. Oder wenn es im eigenen Leben gerade eine Situation gibt, die vergleichbar ist mit dem, was man da spielt. Wenn man das erkennt und benutzen kann, ist das für das eigene Spiel goldwert – denn das, was bereits existiert, muss man nicht mehr erzeugen.

»Prostitution ist eines der ältesten Geschäftsmodelle der Welt.«

MYP Magazine:
Malaika, eine der Hauptfiguren der Serie, die von Maddy Forst gespielt wird, bezeichnet sich selbst als Sexworkerin und Aktivistin. Ist Tim in Deinen Augen ebenfalls ein Sexarbeiter?

Michelangelo Fortuzzi:
Ja, ganz eindeutig. Nur dass es eben moderne Sexarbeit. Prostitution ist eines der ältesten Geschäftsmodelle der Welt, das gab es schon immer – und hat sich auch schon immer weiterentwickelt. Mittlerweile sind wir im Jahr 2023 angekommen und haben das Internet, wo Sexarbeit genauso stattfindet wie in der analogen Welt. Trotzdem verbinden die Leute mit dem Wort immer noch etwas Negatives, obwohl es per se ein neutraler Begriff ist. Und ich bin ganz ehrlich: Ich selbst ertappe mich ab und zu auch noch dabei.

»Wenn man am Ende nur noch miteinander schläft, um Content für die Community zu kreieren, geht schnell jeder Aspekt von Liebe verloren.«

MYP Magazine:
Wenn Tim und Josh vor der „WatchMe“-Kamera aktiv sind, gibt es immer wieder Momente, in denen ihnen die Situation zu entgleiten scheint und sie nicht mehr sicher wissen, ob sie gerade als Privatmenschen agieren oder in ihren Online-Rollen. Hast Du nach Deiner ausführlichen Recherche das Gefühl, dass dieser Kontrollverlust, der mit so einem Job einhergehen kann, auch eine der größten Gefahren in der echten Welt der digitalen Sexarbeit darstellt?

Michelangelo Fortuzzi:
Dieses Gefühl habe ich sehr stark. Wenn man in einer Beziehung wie der von Josh und Tim am Ende nur noch miteinander schläft, um Content für die Community zu kreieren, geht schnell jeder Aspekt von Liebe verloren. Die körperliche Zuneigung wird da zu einem reinen Job.
Es gibt in der Serie eine Szene, in der Josh für ein Video einen Dritten eingeladen hat, ohne dass Tim davon wusste. Die Dynamik, die in dem Moment entsteht, finde ich absolut bezeichnend für das Dilemma. Denn plötzlich kommt bei Josh so etwas wie Eifersucht auf, womit er gar nicht gerechnet hätte. Ich glaube, solche unvorhersehbaren Entwicklungen können für die Psyche vieler Menschen ganz schon gefährlich werden.

»Das Thema sexuelle Orientierung scheint für viele immer noch ein größeres Ding zu sein, als es eigentlich sollte.«

MYP Magazine:
In der ersten Folge sagt Malaika in einer Podcast-Aufzeichnung: „Wir haben gelernt, dass wir uns für unsere Sexualität zu schämen haben.“ Nimmst Du das in unserer Gesellschaft genauso wahr?

Michelangelo Fortuzzi:
Ja. Ich habe in den letzten Jahren öfter queere Charaktere gespielt und dazu immer wieder Kommentare erhalten wie: „Respekt, aber ich selbst würde so etwas auf keinen Fall wollen.“ Oder: „Bei dieser Szene musste ich ganz dolle lachen.“ Wenn ich nach dem Grund gefragt habe, war die Antwort in der Regel: „Weil du auf einmal schwul bist.“ Solche Sätze kamen auch von Leuten, denen ich eigentlich ein etwas wokeres Weltbild zuschreiben würde. Auch wenn ihre Kommentare in den seltensten Fällen böse gemeint waren, fällt es auf, dass das Thema sexuelle Orientierung für viele immer noch ein größeres Ding zu sein scheint, als es eigentlich sollte.

»Für mich als Schauspieler macht es am meisten Spaß, jemanden zu spielen, der ganz weit weg von der eigenen Person ist.«

MYP Magazine:
Seit einigen Jahren gibt es – angeregt unter anderem durch Initiativen wie #ActOut – eine lebhafte Debatte darüber, was die Sichtbarkeit und Chancengleichheit queerer Menschen in Film und Fernsehen angeht. Dabei gibt es auch Stimmen, die fordern, dass queere Rollen bevorzugt von Schauspieler*innen besetzt werden, die sich selbst auch mit dieser Sexualität identifizieren. Wie erlebst Du die Debatte der letzten zwei Jahre? Und welche Haltung hast Du dazu?

Michelangelo Fortuzzi:
Die Debatte ist wichtig, keine Frage. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass hier und da ein bisschen zu viel darüber nachgedacht wird. Für mich als Schauspieler macht es am meisten Spaß, jemanden zu spielen, der ganz weit weg von meiner eigenen Person ist – charakterlich, sozial, politisch oder sexuell. Ich empfinde es immer wieder als eine spannende Herausforderung, wenn ich mich in einen völlig neuen Kopf hineindenken muss. Zwar passiert das leider immer seltener, da heutzutage sehr charakternah gecastet wird, aber ich finde, die Sexualität von Schauspielenden sollte da grundsätzlich keine Rolle spielen – in alle Richtungen. Ich habe zum Beispiel einen Transgender-Kollegen, der meistens nur für trans Rollen gecastet wird. So etwas nervt total, weil er natürlich klassische Cis-Mann-Rollen spielen will und das auch könnte. Trotzdem hat er nach wie vor sehr große Schwierigkeiten, zu den entsprechenden Castings eingeladen zu werden.

»Letztendlich hat man eh keinen Einfluss darauf, ob die Leute einen mögen oder nicht.«

MYP Magazine:
Eure Serie wird aus drei sehr unterschiedlichen Perspektiven erzählt, und zwar entlang der individuellen Lebenswelten der Figuren Malaika, Toni und dem Paar Tim und Josh. Bei allen Protagonist*innen geht es am Ende darum, ob das Publikum goutiert, was sie tun, wie sie sich geben und wie sie aussehen. Sie bemessen den Wert ihrer Person an der Zahl der Follower*innen und deren Urteil. Dabei kann die Gunst der Fans schnell umschlagen und sich zu Spott und Hass entwickeln. Gibt es hier Parallelen zu Deinem eigenen Beruf? Wie gehst Du persönlich mit Kritik und Selbstzweifeln um?

Michelangelo Fortuzzi:
Als vor zwei Jahren „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ rauskam, hatte ich echte Schwierigkeiten mit den Reaktionen der Leute. Fast jede*r in Deutschland hatte ja irgendwann mal im Leben das Buch gelesen oder den Film gesehen. Was unsere Serie angeht, gab es zwei Lager: Die einen mochten die Adaption total, die anderen überhaupt nicht – und haben das auch geäußert.
Da musste ich echt stark sein und mich dazu zwingen, nicht ständig die vielen negativen Kommentare durchzulesen. Denn natürlich macht man sich bei so einem massiven Feedback irgendwann Gedanken und fragt sich: Haben die Leute vielleicht recht? Ich persönlich gerate da schnell in eine ungesunde Spirale, vor allem wenn ich versuche, die negative Kommentare zu entkräften oder zu widerlegen. Als mich das immer mehr belastet hat, habe ich das Gespräch mit meinem Vater gesucht, der immer ein guter Ratgeber ist. Er sagte: „Schalt‘ dein Handy aus und versuch‘, das alles so weit wie möglich von dir wegzuschieben.“ Das klingt zwar ziemlich simpel, aber allein das hat geholfen, es ging mir sofort wieder besser.
Heute weiß ich: Das Wichtigste ist, sich in solchen Situationen nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen. Es ist völlig egal, wie viele Menschen einem auf Instagram folgen oder wie viele Likes ein Foto erhält. Das zu lernen war extrem wichtig für mich. Letztendlich hat man eh keinen Einfluss darauf, ob die Leute einen mögen oder nicht. Dennoch fällt es den meisten Leuten sehr schwer, sich davon freizumachen – egal, ob sie jetzt online Sexarbeit betreiben, als Influencer arbeiten oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind. Der Druck, der breiten Masse zu gefallen, ist riesengroß.

»Wenn ich nicht weiß, wie ich mit einem Thema aus der Branche umgehen soll, ist mein Vater der Erste, den ich um Rat frage.«

MYP Magazine:
Dein Papa Alberto arbeitet als Film- und Theaterschauspieler, ebenso Dein älterer Bruder Valentino. Verspürst Du innerhalb der Familie einen besonderen Erfolgsdruck? Oder spielt die Schauspielerei bei Euch zuhause kaum eine Rolle?

Michelangelo Fortuzzi: (lacht)
Oh, es ist kompliziert! Mein Vater war für mich schon immer eine Mischung aus Schauspiel-Coach und Berater. Wenn ich nicht weiß, wie ich mit einem Thema aus der Branche umgehen soll, ist er der Erste, den ich um Rat frage. Valentino dagegen nehme ich manchmal fast als Konkurrenten wahr. Klar, natürlich versuchen wir, uns gegenseitig zu helfen, aber durch den gleichen Job ist es nicht immer einfach zwischen uns. (überlegt einen Moment) Brüder halt!
Mein Bruder ist ein fantastischer Schauspieler, der vor allem fürs Theater lebt. So stark wie er werde ich auf der Bühne wahrscheinlich nie sein. Wir beide haben ganz unterschiedliche Qualitäten, trotzdem vergleicht man sich permanent, auch wenn man das gar nicht will.

»Vieles bekommt man als Schauspieler gar nicht mit, etwa wenn der Regieassistent seine Leute übers Funkgerät anpampt.«

MYP Magazine:
Vor Kurzem wurden in einem Spiegel-Artikel Vorwürfe von über 50 Filmschaffenden gegenüber Constantin Film und Til Schweiger in Bezug auf die Zustände am Filmset öffentlich. Deine Kollegin Nora Tschirner erklärte einige Tage später in einem Video, dass die beschriebenen Missstände an deutschen Filmsets auch allgemein keine Seltenheit seien. Wie hast Du selbst die Branche bisher erlebt?

Michelangelo Fortuzzi:
Ich habe in meinem Leben zum Glück fast immer mit Menschen gearbeitet, die sehr ruhig und nett waren. Dennoch ist es auch für mich kein Geheimnis, dass es in der Branche auch viele Leute gibt, die „sehr temperamentvoll“ sind, um es mal so auszudrücken. Vieles bekommt man als Schauspieler aber gar nicht mit, etwa wenn es um teaminterne Angelegenheiten geht und der Regieassistent seine Leute übers Funkgerät anpampt.
Ich glaube, das größte Problem ist nach wie vor, dass es vor allem für die Crew keinen ausreichenden Arbeitsschutz gibt. Als Schauspieler wird man am Set eigentlich immer auf Händen getragen und vom internen Stress weitestgehend isoliert. Aber für die Menschen aus der Crew gilt das nicht. Die kommen vor uns ans Set, gehen nach uns nach Hause und werden manchmal – auch von uns Schauspieler*innen – angemeckert, wenn sie mal Sprudelwasser gebracht haben, obwohl stilles gewünscht war. Ich finde, diese Menschen verdienen den größten Respekt und die gleichen Schutzstandards wie alle anderen.