Reportage — Ann Sidorenko

»Manchmal möchte ich vor Machtlosigkeit schreien«

Ann Sidorenko harrte mit ihrer Mutter zwei Wochen lang in der südukrainischen Stadt Mykolajiw aus, dann flohen die beiden vor den russischen Bomben nach Berlin. Im persönlichen Gespräch berichtet die 21-jährige Studentin von den traumatischen Erlebnissen der letzten Wochen – und von der großen Hoffnung, die alle eint, die aus der Ukraine geflohen sind: möglichst bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

5. April 2022 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Steven Lüdtke

»Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, in einem Keller zu schlafen.«

„Ich wünsche euch Deutschen, dass sich jeder von euch daran erfreuen kann, dass ihr in einem Land lebt, in dem es keinen Krieg gibt. Ich bin froh, dass eure Kinder den Krieg nicht gesehen haben. Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, in einem Keller zu schlafen. Ich bin froh, dass ihr nicht wisst, wie es ist, eine Sirene zu hören und in den Keller zu rennen, um dort zu sitzen und zu beten.“

Die 21-jährige Studentin Ann Sidorenko ist immer noch traumatisiert. Gut zwei Wochen hatte die junge Frau in der Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine ausgeharrt, obwohl diese von schweren Luftangriffen erschüttert und die Versorgungslage immer dramatischer wurde. Der russische Angriffskrieg sprengte alles auseinander, was Anns Leben bis dahin ausgemacht hatte: das Wirtschaftsstudium in Kiew, die Stadtspaziergänge mit ihrem Freund Sergej, die Perlensticker-Nachmittage, die Abende im nahegelegenen Fitnessstudio oder in der Karaoke-Bar.

»Wir waren davon überzeugt, dass sich das Ganze höchstens ein paar Tage hinziehen würde.«

Ann erzählt, wie sie am frühen Morgen des 24. Februar von der Attacke auf ihr Land erfuhr: „Ich wachte vom Geräusch der Flugzeuge auf, die über unser Haus flogen. Es war so ohrenbetäubend, dass ich nicht mehr einschlafen konnte. Ich griff nach meinem Handy und sah die vielen Nachrichten meiner Freunde, die alle nur eines sagten: Kyiv bombed.“

In diesem Moment habe es ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, berichtet sie. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und war schrecklich verwirrt. Meine Mutter machte sich gerade für die Arbeit fertig, als ich ihr erzählt habe, dass die Ukraine bombardiert wird. Genau wie ich hatte sie nicht sofort verstanden, was los war. Zuerst waren wir davon überzeugt, dass sich das Ganze höchstens ein paar Tage hinziehen würde und dann alles wieder normal würde.“

»Das Flugzeug flog so tief, dass die Sirene nicht funktionierte.«

Ann und ihre Mutter Hanna beschlossen, vorsorglich Lebensmittel für ein bis zwei Wochen zu besorgen. „Wir wollten vorbereitet sein, falls die Versorgung mit dem Nötigsten zusammenbricht“, erzählt sie. Als am Freitag, den 25. Februar, auch die ersten Luftangriffe auf Mykolajiw begannen, wollten die beiden Frauen ihre Heimatstadt erst mal nicht verlassen und entschieden, in ihrer Wohnung zu bleiben. Doch als am 15. März morgens um acht ein Flugzeug direkt über ihr Haus donnerte und ein paar Sekunden später eine starke Explosion zu hören war, änderte sich die Situation schlagartig: „Das Flugzeug flog so tief, dass die Sirene nicht funktionierte. Sie schlägt nur ab einer bestimmten Höhe Alarm“, sagt Ann. „In diesem Moment wurde uns klar, dass wir jederzeit angegriffen werden können – ohne die Zeit zu haben, schnell aus dem Haus zu fliehen.“

Die Studentin erklärt, dass man in der Not schnell herausfinde, welche Informationen man brauche: „Wir mussten feststellen, dass es in der Nähe unseres Hauses keinen Luftschutzbunker gab. Der nächste Keller, den man als Unterschlupf nutzen konnte, lag 500 Meter entfernt. Da sind wir hingerannt. Auf einmal gab es keinen Alltag mehr.“

»In dem Brief stand, welche Bäckerei hier leckere Brötchen backt.«

In den folgenden Stunden recherchierte Ann, wie sie sich und ihre Mutter aus der Kriegssituation befreien könnte. Auf einer Vermittlungsplattform für Unterkünfte fand sie die Anzeige von Samuel und seiner Frau Debora. Das Paar lebt aktuell in der Schweiz, verfügt aber auch über eine Wohnung in Berlin-Friedenau. Diese stellten sie den beiden ukrainischen Frauen gerne zur Verfügung. „Samuel und Debora sind wunderbare Menschen, die uns bei unserer Ankunft einen Brief hinterlassen haben“, sagt Ann. „Darin stand, wo man hier man am besten einkaufen kann oder welche Bäckerei leckere Brötchen backt.“

Auch wenn sie sich in Deutschland sicher fühle und etwas ruhiger geworden sei, habe sie immer noch Angst, sagt Ann: „Das Grauen ist nicht ganz verschwunden. Es schmerzt mich jedes Mal, die Nachrichten zu sehen. Es bricht mir das Herz, dass Stand jetzt fast zweihundert Kinder ermordet wurden. Es tut mir weh zu erkennen, dass mein Land zerstört ist.“

»Das Leben einer jeden Ukrainerin und eines jeden Ukrainers hat sich durch den russischen Angriff für immer verändert.«

Ann schweigt für einen Moment, dann schiebt sie hinterher: „Das Leben einer jeden Ukrainerin und eines jeden Ukrainers hat sich durch den russischen Angriff für immer verändert. Aber das Leben geht weiter. Bevor ich in Deutschland ankam, musste ich jeden Tag weinen. Ich hatte Angst, dass ich oder meine Lieben jeden Moment sterben könnten. Ich hatte Angst, dass ich meinen Freund niemals wiedersehen würde, genauso wenig wie meine Freundinnen und Kommilitonen.“ Doch gerade bleibe ihr nichts anderes übrig, als einfach abzuwarten und daran zu glauben, dass der Krieg schnell enden werde. Sie glaube an einen Sieg der Ukraine, an Wolodymyr Selenskyj und an Vitali Kim, den Gouverneur des Gebiets von Mykolajiw.

Mit ihrer Flucht hat Ann nicht nur ihre Heimat hinter sich gelassen, sondern auch ihren Vater, der getrennt von ihrer Mutter lebt. Außerdem die 75-jährige Großmutter, die ihr Land nicht verlassen will. Dazu ihren Freund Sergej, der sie am Telefon immer zum Lachen bringe, wie sie sagt. Und der sich nicht erlaube, vor ihr irgendeine Form von Angst oder Verunsicherung zu zeigen. Darüber hinaus ihre vielen Freundinnen und Bekannte.

»Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, entfernen wir uns weiter voneinander.«

„Die Hälfte von ihnen ist in der Ukraine geblieben – zum Glück leben alle noch. Die andere Hälfte ist mittlerweile über ganz Europa verteilt, in Polen oder Italien. Von ihnen bin ich die einzige hier in Berlin. Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, entfernen wir uns weiter voneinander. Deshalb spreche ich mit Journalistinnen und Journalisten: um zu erklären, wie sich mein Leben verändert hat und wie sich meine Generation fühlt. Ich hoffe, wir werden gehört.“

Kurz nachdem Ann in Berlin ankam, postete sie ein Bild von sich vor dem Brandenburger Tor. Darunter notierte sie: „Manchmal möchte ich vor Machtlosigkeit weinen und schreien. Während der Reise von der Ukraine nach Deutschland habe ich viele Geschichten gehört, aber ich möchte euch von einem Gespräch im Zug mit einer Familie aus Kharkov erzählen.“ Und dann berichtet sie von Menschen, deren Heimatstadt von den Russen in Schutt und Asche gelegt wurde. Von Krankheit, Furcht und Ungewissheit. Und von der Hoffnung, die alle Ukrainerinnen und Ukrainer in diesen Zeiten eint: bald wieder nach Hause zurückkehren zu können, zurück in ihr altes Leben.

Hinweis:

Über die Erlebnisse von Ann Sidorenko und ihrer Mutter Hanna berichtet unsere Chefredakteurin Katharina Weiß auch in einem Artikel auf t-online.