Interview — Christian Ruess

»Ich akzeptiere den Status quo nicht«

Mit seiner Plattform »Container Love« kämpft Christian Ruess seit 2013 für mehr Akzeptanz und Sichtbarkeit queeren Lebens. Zum zehnjährigen Jubiläum treffen wir den Creative Director in seinem Berliner Studio. Ein Gespräch über Pinkwashing, Selbstfürsorge und schwierige Millennials; über die Popkultur der DDR und queere Menschen in Uganda; und über eine rührende Geschichte von einer Hamburger Mami und dem Nagellack ihres Sohnes.

10. November 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Sven Serkis (Portraits) & Milena Zara (Event)

Tausendvierhundertzweiundzwanzig. So viele Straftaten zählt der Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Deutschland für das Jahr 2022, wenn es um Hassdelikte im Zusammenhang mit den Themenfeldern „Sexuelle Orientierung“ und „Geschlechtsbezogene Diversität“ geht.

1.422 Gewalttaten, Beleidigungen, Volksverhetzungen und andere Abscheulichkeiten gegenüber Personen, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* und/oder queer bezeichnen. 1.422 Menschen, die im letzten Jahr allein deshalb angegriffen wurden, weil sie irgendwie von einer vermeintlichen Norm abweichen.

Dabei gehen Expert*innen davon aus, dass etwa 90 Prozent der Vorfälle in Deutschland nicht gemeldet werden.

Die Situation ist auch deshalb alarmierend, weil sich die Zahlen der erfassten Straftaten seit 2018 um fast 200 Prozent erhöht haben. Allein in Berlin erreichte die Menge queerfeindlicher Fälle bereits Ende August 2023 das Niveau des Vorjahres.

Was also tun?

Leider gibt es nicht die eine große Antwort oder die eine große Strategie, um das Leben queerer Menschen erträglicher zu machen und sie vor Hass zu schützen, weder in Deutschland noch anderswo.

Umso wichtiger ist es, dass man sich für queere Menschen engagiert. So wie Christian Ruess. Der Berliner Creative Director hat es sich mit seiner Plattform „Container Love“ zur Aufgabe gemacht, queeres Leben sichtbarer zu machen – in all seinen Facetten, mit all seinen Themen und auch mit all seinen Widersprüchen. Und das seit vielen Jahren.

„Wissen bedeutet weniger Angst – und keine Angst bedeutet Freiheit“, sagt Christian auf der Website von „Container Love“. Dieses Wissen vermitteln er und sein Team dort mit Hilfe sorgfältig kuratierter Arbeiten, darunter Fotostrecken, Filme, Texte und andere Werke spannender Künstler*innen: ein digitaler safe space für queere Kultur.

Eines der aktuellen Highlights zum Beispiel ist der Kurzfilm „The Hidden Dimension“, ein Portrait des queeren polnischen Fotografen Leo Maki. Der gut vierminütige Streifen, den Christian im letzten Jahr mit seiner Crew produziert hatte, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter etwa den „Silver Screen“ beim „Young Director Award 2023“ in Cannes.

Doch „Container Love“ findet nicht nur im digitalen Raum statt, sondern einmal im Jahr auch im analogen – wie zum Beispiel im August am Berliner Kurfürstendamm. Unter dem Titel „Visible Love“ waren dort diverse Foto- und Videoarbeiten zu bewundern, die queeres Leben in all seiner Schönheit und Vielfalt zeigen. Daneben gab es Liveshows, Podiumsdiskussionen und Artist Talks – kostenlos und zugänglich für alle. Diese Chance ergriffen am Ende über 2.500 Besucher*innen.

Bei dieser Gelegenheit wurde auch das zehnjährige Bestehen der „Container Love“ gefeiert: Im Sommer 2013 hatte Christian seine erste Fotoausstellung auf dem „MS Dockville“ in Hamburg – das beliebte Kunst- und Musikfestival hatte er zehn Jahre lang mitgestaltet. Als Ausstellungsraum diente damals, man ahnt es, ein alter Schiffscontainer.

Neben seiner karitativen Tätigkeit berät Christian seit vielen Jahren große Marken und hilft ihnen dabei, in ihrer Kommunikation diverser zu werden – und auch damit mehr Sichtbarkeit queeren Lebens in der Öffentlichkeit herzustellen. Dabei zieht es ihn persönlich eher in die zweite Reihe statt ins Rampenlicht, wie er uns vor dem Interview verrät.

Bei Kaffee und Donuts treffen wir ihn in seinem gemütlichen Studio in der Neuköllner Hobrechtstraße.

»Wir öffnen unsere Tür für alle. Ob man durch sie hindurchgehen will oder nicht, muss man ganz allein entscheiden.«

MYP Magazine:
Die „Visible Love 2023“ liegt bereits einige Wochen zurück. Wie blickst Du mit etwas Abstand auf die Ausstellung?

Christian Ruess:
Bei unseren Veranstaltungen treffen sich immer viele interessante Leute, die Lust haben, etwas zu bewegen und zu verändern. Das war auch diesmal so. Aus diesem Grund bin ich nach wie vor unendlich dankbar für das, was dort stattgefunden hat. Das gibt mir das Gefühl, dass wir mit unserer Arbeit etwas Richtiges tun. Und dass es wichtig ist, dass wir da sind.
Da die „Visible Love“ diesmal am Ku’damm stattfand – also einem Ort, der touristisch etwas überladen ist – haben sich auch immer wieder Leute in unsere Ausstellung verirrt, die nach 30 Sekunden wieder draußen waren. Ohne ein Hallo, ohne ein Tschüss. Dabei würde ich mir wünschen, dass gerade diese Menschen viel neugieriger und offener sind für die Geschichten, die wir präsentieren. Aber ihre Reaktionen zeigen mir, dass es noch viel zu tun gibt, wenn es um die Sichtbarkeit und Akzeptanz queeren Lebens geht. Gleichzeitig möchte ich aber niemanden zwingen. Wir öffnen unsere Tür für alle. Ob man durch sie hindurchgehen will oder nicht, muss man ganz allein entscheiden.

»Wenn euer Sohn das Gefühl hat, sich mit Nagellack äußern zu wollen, dann ist das toll. Damit könnt ihr arbeiten.«

MYP Magazine:
Welche Reaktionen von Besucher*innen sind Dir in besonderer Erinnerung geblieben?

Christian Ruess: (überlegt)
Es gibt aus den letzten Jahren zwei Geschichten, die ich gerne erzählen möchte. Die erste geht so: Bei unserer letzten großen Ausstellung vor Corona – das war während des Reeperbahn-Festivals in Hamburg – kam eines Nachmittags eine dreiköpfige Familie herein und schaute sich die vielen Bilder an, die wie immer sehr viel zu zeigen hatten. Da gab es keinen Raum für Interpretation. Wir stehen auf dem Standpunkt: Die Vielfalt ist nun mal da, queer heißt viel, also schaut gefälligst hin!
Diese Familie jedenfalls schaute sich erst die Bilder und dann mich völlig ratlos an. Plötzlich erzählte mir die Mutter etwas besorgt von ihrem Sohn, der gerade 14 geworden war und angefangen hate, sich die Nägel zu lackieren. Ich versuchte, ihr die Angst zu nehmen, dass irgendetwas mit dem Sohn nicht stimmen könnte, und sagte: Schaut euch doch um, das alles hier ist wunderschön! Und wenn euer Sohn das Gefühl hat, sich mit Nagellack äußern zu wollen, dann ist das toll. Damit könnt ihr arbeiten, das ist ein Zeichen, geht damit um!
Das Lustige war: Normalerweise trage ich selbst auf all meinen Veranstaltungen Nagellack, nur diesmal hatte ich es vor lauter Stress vergessen. Zwei Stunden nach unserem Gespräch kam die Mutter zurück und brachte mir den Nagellack ihres Sohnes. Zu Hause hatte sie ihm von uns erzählt, er kannte „Container Love“ bereits und sagte zu seiner Mami: „Schenk dem Typen mal meinen Nagellack.“ Das hat mich an dem Abend zu Tränen gerührt.

MYP Magazine:
Und die zweite Geschichte?

Christian Ruess:
Bei unserer diesjährigen „Visible Love“ im Pop Ku’damm gab es eine ähnliche Situation. In unsere Ausstellung schlich eine bayerische Familie, bei der man auf den ersten Blick erkennen konnte, wer sie an diesen Ort gelockt hatte: der Sohn. Nachdem alle schweigend durch den Raum gelaufen waren, warf mir der Sohn beim Gehen ein Lächeln zu. Ich dachte mir nur: Du musst nichts sagen, wir haben es alle verstanden. Und mir war klar: Für solche Momente mache ich das alles.

»Queere Menschen haben unendlich viel zu erzählen.«

MYP Magazine:
Wissen die Menschen, die auf den Fotos zu sehen sind, um ihre Mut machende Wirkung? Ist ihnen bewusst, dass sie nicht nur Models, sondern vor allem role models sind?

Christian Ruess:
Ja, weil unser gesamtes Magazin so konzipiert ist. Ich wollte immer ein Format schaffen, das einerseits queeren Lifestyle zeigt und sich andererseits auch tatsächlich mit den Menschen dahinter auseinandersetzt. Die meisten Hochglanzmagazine, die man seit 100 Jahren auf der Couch liegen hat, können und wollen das gar nicht leisten. Dabei haben queere Menschen unendlich viel zu erzählen, jede*r von uns hat eine Geschichte. Und diesen Geschichten wollte ich eine Plattform geben – eine, die auch außerhalb des pride month, außerhalb queerer Kampagnen und außerhalb der bekannten Social-Media-Kanäle funktioniert. Eine Plattform in Form eines Magazins, die leicht ist, Spaß macht und dabei trotzdem Themen wie Diversität oder body positivity behandelt. Und die trotzdem nicht mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Gegend läuft.

»Ich bin kein großer Fan davon, immer alles gleich zu labeln.«

MYP Magazine:
Die „Visible Love 2023“ war in einem luftigen, modernen Gebäude beheimatet, das so wirkte, als hätte es sich zwischen zwei alte Betonklötze geschoben und dort seinen Platz beansprucht – ein schönes Symbolbild, das man auch auf die queere Community übertragen könnte. Muss man sich manchmal mit Nachdruck irgendwo dazwischen quetschen, um ein Teil des etablierten Straßenbilds zu werden?

Christian Ruess:
Ja, allerdings gilt das nicht nur für die queere Community, sondern für alle Menschen, die in irgendeiner Form marginalisiert werden. Und da ich kein großer Fan davon bin, immer alles gleich zu labeln, daher sage ich es etwas allgemeiner: Wenn man ein Anliegen hat, ist es wichtig, sich Gehör zu verschaffen und einen Platz zu erarbeiten. Es bringt in unserer Gesellschaft nichts, sich wegzuducken.

»Der Einzige, vor dem man sich outen muss, ist man selbst.«

MYP Magazine:
Einer der ausgestellten Fotokünstler, AdeY, sagt im Zusammenhang mit seinen Arbeiten Folgendes: „Sichtbarkeit heißt, sich um seine Mitmenschen zu kümmern – weil man weiß, dass diese Menschen einen genauso sehen, wie man ist, und sie sich in demselben Maße auch um einen selbst kümmern.“ Ist queere Sichtbarkeit für Dich ebenfalls ein Akt von Achtsamkeit? Und gibt es vielleicht sogar eine moralische Pflicht zum Aktivismus und zur Sichtbarmachung des eigenen Queerseins?

Christian Ruess:
Jein. Ich halte nichts von Outing. Ich persönlich habe mich in meinem Leben auch nie geoutet. Warum auch? Aus welchem Grund sollte ich mich vor irgendjemandem aufbauen und sagen, dass ich dieses oder jenes bin? Äh, nein, fickt euch! Das geht niemanden etwas an, das ist ganz allein meins. Der Einzige, vor dem man sich outen muss, ist man selbst. Man muss sich selbst erkennen und lernen, das mit Stolz nach außen zu tragen – ohne sich dafür zu erklären oder zu entschuldigen. Das ist das Allerwichtigste.

»In der Popkultur der DDR gab es niemanden, der mich hätte inspirieren können.«

MYP Magazine:
Wie ist Dir das in Deiner eigenen Kindheit und Jugend gelungen?

Christian Ruess:
Ich bin in den Achtzigern und Neunzigern in einem kleinen Kaff in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. An diesem Ort hätte ich gar nicht die Möglichkeit gehabt, mich zu outen oder zu erklären – weil es dort weder die Worte gab für jemanden wie mich noch irgendwelche role models, zu denen ich hätte aufschauen können. In der Popkultur der DDR gab es niemanden, der mich hätte inspirieren können – nicht im Entferntesten! Meine einzige Inspiration war Madonna.
Von daher war es für mich immer schwierig, mich irgendwo einzusortieren und zu mir selbst zu finden. Als Teenager war ich erst Raver, dann Punk, dann habe ich Hip-Hop-Klamotten getragen und zum Schluss hatte ich bunte Haare. Ich habe geschneidert, Musik gemacht, Geschichten geschrieben. Ich wusste nicht, wohin mit dieser Kreativität. Und ebenso wenig wusste ich, wo all das herkam und was das sollte. Ich war immer auf der Suche nach einer Antwort, nach einer Erfüllung. Und diese Suche wurde schnell zu einem „ich gegen die anderen“. Erst als ich schon lange erwachsen war, habe ich herausgefunden, dass dieses Getriebensein seinen Ursprung darin hat, dass mir als Kind niemand sagen konnte, dass es okay ist, wie ich bin. Und dass es dafür einen Begriff gibt: queer.

»Die Millennials sind eine schwierige Generation.«

MYP Magazine:
Viele queere Millennials – also Menschen, die im Zeitraum der frühen 1980er bis zu den späten 1990er Jahren geboren wurden – haben Schwierigkeiten, ihre persönlichen Outing-Erfahrungen oder Diskriminierungserlebnisse mit anderen zu teilen. Die Generation Z zum Beispiel scheint da ganz anders zu ticken. Wie kann man queere Menschen dieser Altersgruppe dazu bringen, sich mehr zu öffnen und ihre wichtigen Geschichten zu teilen?

Christian Ruess:
Ich habe da ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Millennials sind eine schwierige Generation. Viele haben einen Schlussstrich unter ihre oft schwierige Vergangenheit gezogen, haben sich ein solides Leben aufgebaut und sind irgendwo angekommen. Und ganz ehrlich: Auch das ist vollkommen okay.

MYP Magazine:
Hast Du eine Erklärung, warum das so ist?

Christian Ruess:
Ich glaube, das liegt an der deutschen Kultur. Wir sind in unserem Land sehr angstgetrieben und fragen uns immer: Findet mich die Nachbarschaft gut? Findet mich die Familie gut? Finden mich die Arbeitskolleg*innen gut? Und wie muss ich mich verhalten, dass mich alle gut finden? Das macht einen doch wahnsinnig! Ich persönlich denke: Solange man nett ist und ein Herz hat, kannt man machen, was man will, und rumlaufen, wie man will. Doch in einer Kultur, in der es vor allem darum geht, nicht aufzufallen, ist das schwierig.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass viel mehr Leute ihre Erfahrungen teilen und diese nach außen tragen. Ich zumindest versuche das mit „Container Love“, aber auch in meiner Arbeit als Creative Director. Agenturen geht es doch immer darum, eine Emotion zu verkaufen oder eine Geschichte zu erzählen. Dabei denke ich mir immer: Dann erzählt doch die Geschichten! Sie liegen auf der Straße, man muss nur hinschauen, zuhören und den Mut haben, sie weiterzutragen.

»Bitte genießt weiter eure Freiheit – aber schottet euch nicht ab!«

MYP Magazine:
Dazu gehören zum Beispiel die Geschichten queerer Menschen aus der Babyboomer-Generation, die in der AIDS-Krise der Achtziger und Neunziger fast ihren gesamten Freundeskreis verloren haben. Eine Katastrophe, von der viele jüngere Queers noch nie etwas gehört haben. Was können die Jungen tun, um das Leid der Alten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen?

Christian Ruess:
Auch da komme ich wieder nur zu der Lösung, einander zuzuhören. Selbstverständlich müssen solche Geschichten erzählt werden. Es ist wichtig, dass man darum weiß. Aber ganz ehrlich: Auch hier kann ich niemanden zwingen, sich dafür zu interessieren. Wenn ich etwa auf die queere Community in Berlin schaue, machen die Jungen im Prinzip auch nur das, was ich mit 18 gemacht habe. Sie schneidern sich ihre eigenen Klamotten zusammen, färben sich die Haare und kümmern sich einen Scheißdreck darum, was andere von ihnen halten. Ich finde das super und genau richtig. Bitte genießt weiter eure Freiheit! Ich habe dabei nur ein Anliegen: Schottet euch nicht ab!

»Es geht darum, unsere Unterschiedlichkeiten zu feiern – und nicht unsere Gemeinsamkeiten.«

MYP Magazine:
Wie meinst Du das?

Christian Ruess:
Wenn ich auf das queere Leben in Berlin blicke, habe ich das Gefühl, dass sich die Community eher aufsplittert als zusammenzuwachsen. Es gibt immer mehr Nischen-Communitys, in der alle ihren ganz eigenen safe space finden. Das führt dazu, dass die Leute außerhalb ihrer eigenen Bubble kaum mehr etwas miteinander zu tun haben. Ich weiß nicht, ob ich diese Entwicklung so gut finde. Am Ende sind wir doch eine Community, in der es darum geht, unsere Unterschiedlichkeiten zu feiern – und nicht unsere Gemeinsamkeiten. Wäre es nicht toll, wenn sich all diese kleinen Gruppen untereinander solidarisieren und ihre geschützten Räume zusammenlegen würden, um ihre Meinungen und Visionen miteinander zu teilen? Genau das ist übrigens der Anspruch und Nukleus von „Container Love“.

»Wir haben keine Ahnung, ob sie überhaupt noch leben.«

MYP Magazine:
In vielen Ländern der Welt ist es immer noch lebensgefährlich, sich als queerer Mensch sichtbar zu machen. Zum Beispiel wurde in Uganda vor Kurzem ein 20-Jähriger wegen „schwerer Homosexualität“ angeklagt. Nach dem neuen Anti-LGBTQ-Gesetz, das dort im Mai in Kraft getreten war, droht dem jungen Mann die Todesstrafe. Ist queere Sichtbarkeit ein westliches Privileg?

Christian Ruess:
Das Privileg ist vor allem ein demokratisches. Wir Queers hier in Deutschland sind es gewohnt, unsere Stimmen hörbar zu machen – auch wenn das lange genug gedauert hat. Doch viele andere Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Es ist auch nicht absehbar, dass sich ihre Situation in naher Zeit wirklich verbessert. Ganz im Gegenteil: In vielen Ländern wird es immer schlimmer.
Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum „Container Love“ existiert: um den Leuten klarzumachen, dass wir in einer seligen Blase leben. Zwar ist auch hierzulande nicht alles rosig. Aber als queerer Mensch in Deutschland zu leben, ist in den allermeisten Fällen immer noch ein Privileg. Anderswo dagegen ist es oft ein Albtraum. Da spreche ich leider aus Erfahrung…

MYP Magazine:
Inwiefern?

Christian Ruess:
Vor einigen Jahren wollte uns eine Künstlergruppe aus Uganda eine Fotostrecke für unsere Plattform zur Verfügung stellen. Doch kurz nachdem die Gruppe per Mail an uns herangetreten war, brach der Kontakt ab. Erst Monate später hörten wir wieder etwas von ihnen. Die Künstler*innen baten uns, sofort alles zu löschen, was online war. Sie fürchteten um ihre Sicherheit. Wir wissen bis heute nicht, ob es ernsthafte Konsequenzen für sie gab. Wir haben keine Ahnung, ob es ihnen gut geht oder sie überhaupt noch leben.

»Die queere Community ist nicht dumm und sie ist nicht blind.«

MYP Magazine:
Wie Du gerade angemerkt hast, ist auch in Deutschland noch nicht alles rosig, wenn es um queere Sichtbarkeit und Akzeptanz geht. So wäre es noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, dass ein DAX-Konzern sein Logo in Regenbogenfarben taucht. Mittlerweile ist das mehr oder weniger Standard, zumindest im Juni, dem pride month.

Christian Ruess:
Ja, aber auch nur hier im westlichen Teil der Welt. In Dubai zum Beispiel passiert das nicht. Dort findet man queere Menschen scheiße. Warum sollten man also mit ihnen Werbung machen? Das kann man gut finden oder nicht, aber Dubai ist da zumindest ehrlich – was man von vielen Konzernen nicht unbedingt behaupten kann.

MYP Magazine:
In Deinem Job als Creative Director hilfst Du großen Marken dabei, in ihrer Kommunikation diverser zu werden. Hast du nicht Sorge, dass Deine Arbeit am Ende nur dem Pinkwashing-Bestreben eines Unternehmens dient?

Christian Ruess:
Die queere Community ist nicht dumm und sie ist nicht blind. Queere Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, wer da draußen Pinkwashing betreibt. And let’s face it: Die meisten Unternehmen benutzen queere Sichtbarkeit hauptsächlich für ihre Werbe- und Marketingzwecke. Das tatsächliche gesellschaftliche Engagement kommt entweder lange danach oder gar nicht. Aus diesem Grund geht hier immer noch wahnsinnig viel in die falsche Richtung, das ist sehr schade.
Ich persönlich mache Marken da ein ganz klares Angebot. Ich sage: Redet mit uns, wir können helfen. Wir können euch sagen, wo ihr anfangen müsst, aus welchen Gründen ihr das machen müsst und wohin ihr damit wollt. Wir geben euch das alles an die Hand. Es gibt so viele queere Konsument*innen, die es gut finden würden, wenn Marken ihre Geschichten richtig und ausführlich erzählten; wenn die richtigen Pronomen benutzt würden; wenn richtig gegendert würde. Es gibt so viele Möglichkeiten, uns zu repräsentieren und uns in die Markenwelt mitzunehmen.

»In mir steckt ein kleiner Aktivist, der die Welt verändern will.«

MYP Magazine:
Wie bist Du überhaupt dazu gekommen, Marken in Sachen Diversität zu beraten?

Christian Ruess:
Ich piesacke gerne Leute und akzeptiere den Status quo nicht. Außerdem steckt in mir ein kleiner Aktivist, der die Welt verändern will – und der es gleichzeitig liebt, kreativ zu arbeiten, Menschen vor die Kamera zu bringen und gute Geschichten zu erzählen.
Darüber hinaus habe ich im Laufe meines Berufslebens genug Mist erlebt. Ich hatte zum Beispiel mal einen Kunden aus dem Automobilsektor, für den ich Photoshoots für den asiatischen Markt konzipieren sollte. Mir wurde verboten, für die Kampagne nichtweiße Models zu buchen. Die Begründung: Der asiatische Markt mag die nicht. Aus solchen unnötigen Situationen ist eine Wut entstanden, die ich benutzen wollte, um tatsächlich etwas zu verändern.

»Manchmal braucht es ein kleines Kompliment, vor allem an sich selbst.«

MYP Magazine:
In einem der Filme, die ihr auf der „Visible Love“-Ausstellung gezeigt habt, wird folgende Frage gestellt: „Wenn ich mein Teenager-Ich treffen könnte, was würde ich ihm sagen?“ Welche Botschaft hättest Du für Dein jüngeres Ich?

Christian Ruess:
Es fällt mir schwer, das auszusprechen. Aber ich glaube, ich würde meinem teenage self sagen, dass es sich selbst lieben solle. Weil das etwas ist, das mir nie beigebracht wurde. Punkt.

MYP Magazine:
Ist das auch der Grund, warum bei der Ausstellung überall Sticker mit der Aufschrift „You look good“ herumlagen?

Christian Ruess:
Klar! Manchmal braucht es ein kleines Kompliment, vor allem an sich selbst. Das ist wichtig. Außerdem sind so viele Os grafisch einfach hübsch. Kommunikation ist das A und O. Und ein Kompliment ist ein guter Einstieg.