Prolog — MYP Magazine N° 30

Über das, was uns prägt

MYP-Herausgeber Jonas Meyer über die neue, dreißigste Ausgabe unseres Magazins mit ihrem Themenschwerpunkt »Gemeinschaft«.

1. Oktober 2020 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

»Es geht uns um das Woher und das Wohin. Und vor allem um das Wieso.«

Wenn dieses Land in den nächsten Tagen das 30. Jubiläum seiner Wiedervereinigung feiert, wird es wohl ein gewisses Rauschen geben. Man wird zurückblicken auf die letzten drei Jahrzehnte und die davor. Man wird das Gemeinsame betonen, nicht selten auch das Trennende. Man wird erzählen, was man bereits geschafft hat und noch schaffen will.

Wir wollen den 30. Geburtstag dieses wiedervereinigten Landes zum Anlass nehmen, um uns generell damit auseinanderzusetzen, wie wir geprägt werden durch die Gemeinschaften, in denen wir aufwachsen und leben. Gemeinschaften, die wir bewusst wählen. Oder in die wir ohne Zutun hineingeworfen werden. Mit denen wir uns arrangieren. Oder fremdeln.

Es geht uns gleichermaßen um das ganz Kleine wie das große Ganze, um das Woher und das Wohin. Und vor allem um das Wieso.

»Wir treffen Menschen, die sich gemeinsam in eine Zeitkapsel begeben.«

Natürlich beleuchten wir dabei auch die Deutsche Einheit, etwa in einem ausführlichen Gespräch mit Jonas Nay, dem Hauptdarsteller der Erfolgsserie „Deutschland 89“. Aber wir schauen auch auf die kleinstmögliche Größe einer Gemeinschaft, etwa die der Zwei-Mann-Combo Beranger. Oder verfolgen das Gespräch zweier guter Freunde, die kaum jünger sind als das wiedervereinigte Deutschland und noch ihren Platz in der Gesellschaft suchen, Stichwort „schwarz und schwul“.

Wir treffen Menschen, die sich gemeinsam in eine Zeitkapsel begeben und zurückschießen in die Goldenen Zwanziger, musikalisch wie stilistisch. Wir portraitieren einen jungen Mann, der erst der Enge seines Dorfes entfliehen musste, um zu sich selbst zu finden. Und wir werfen ein Licht auf die Situation queerer Menschen in Polen.

»Die Sky-Serie bildet eins zu eins die Realität einer modernen, diversen Gesellschaft ab.«

Los geht es aber mit einem ausführlichen Interview mit der Schauspielerin Narges Rashidi, die gerade in der opulenten Sky-Produktion »Gangs of London« in der Rolle einer kurdischen Untergrundkämpferin zu sehen ist. Das Besondere an der Serie: Sie bildet die Realität einer modernen, diversen Gesellschaft ab – mit all ihren Errungenschaften und Problemen.

»Weil er im Januar 1982 als 20-Jähriger aus der DDR ausreisen wollte, wurde er von der Stasi verhaftet.«

Ich persönlich denke in diesen Tagen um den 3. Oktober oft an Michael Bradler. Weil er im Januar 1982 als 20-Jähriger aus der DDR ausreisen wollte, wurde er von der Stasi verhaftet. Ein Dreivierteljahr lang saß er anschließend im Gefängnis, davon mehrere Monate in Isolationshaft. Heute führt er als Zeitzeuge durch die ehemalige Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen.

An diesem menschenunwürdigen Ort hatte bereits 1946/47 die sowjetische Besatzungsmacht ihr zentrales Untersuchungsgefängnis für Deutschland eingerichtet. Im Keller gab es einen Trakt mit 68 fensterlosen, bunkerartigen Zellen, genannt das „U-Boot”. Diesen Teil des Gebäudekomplexes zeigen die hier abgebildeten Fotos.

Ich bin Michael Bradler zum ersten Mal im Jahr 2008 begegnet, im Rahmen einer privaten Führung. Zehn Jahre später habe ich ihn erneut getroffen und durfte seine Geschichte für unser Magazin aufschreiben. Zwei Erlebnisse, die mich nachhaltig geprägt haben. Und die mich seitdem genauer auf die Gemeinschaften blicken lassen, in denen wir und andere leben.

Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre unserer 30. Ausgabe, die wir in den nächsten drei Monaten sukzessive mit Artikeln rund um das Thema Gemeinschaft befüllen werden!

Jonas Meyer
Herausgeber