Fotoserie — Christian Heidemann

Soul Pauli

Mit seinem Fotoprojekt »Soul Pauli« hebt Christian Heidemann das berühmt-berüchtigte Hamburger Stadtviertel auf eine quietschbunte Bühne. Dabei schaut er mit kleinen Geschichten zu den einzelnen Gebäuden auch hinter die teilweise bröckelnden Fassaden. Eine fotografische Wanderung durch das Pastell gewordene Herz Hamburgs, die man sich bis Ende Oktober auch direkt auf dem Kiez anschauen kann: im Sankt Pauli Museum in der Nähe des Beatles-Platzes.

14. Oktober 2020 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Fotografien & Text: Christian Heidemann

Prinzenbar

Seit über 25 Jahren ein Juwel in der Clubszene: von außen schön, von innen noch schöner. Das Barock lässt hier mit Stuck, Kronleuchtern und Putten grüßen.

Jedoch leuchten hier nicht nur Kronleuchter: Wenn man sich mit der Geschichte der Prinzenbar bzw. des Docks (beide von „M.T.M. more than music!“ betrieben) befasst, stößt man auf den Namen „Knopfs Lichtspielhaus“. Ab 1900 wurden hier lebende Laufbilder gezeigt. Auch wenn es das Lichtspielhaus nicht mehr gibt, wird in der Prinzenbar und im Docks weiterhin viel mit Licht gearbeitet und der Ursprung ins Jetzt geholt. Durch Lichtinstallationen, Projection Mappings und andere Effekte werden Besucher*innen in eine andere Welt entführt – oft begleitet von Chapeau Clubs mit ihrer Mischung aus Performance, Theater und Immersion. More than music!

Bis zu 150 Besucher lauschen und tanzen hier zu DJ Sets oder Bands wie HIM, Maximo Park, James Blunt oder den H-Blockx. Oder zu den kleinen, feinen Bands, die noch unter dem Titel „Geheimtipp“ laufen.

Aber nicht jeder lauscht gerne. In den letzten Jahren kommt es von einigen Neu-St.-Paulianern immer wieder zu Beschwerden bei der Polizei über Ruhestörungen von Musikclubs. Auch wenn auf St. Pauli Musikkultur zur DNA gehört, gibt es einige Menschen, die in die Nähe eines Musikclubs ziehen, sich über laute Musik wundern und erwarten, dass sich Clubs – mit teilweise jahrzehntelanger Tradition – an ein paar Neubewohner anpassen.

Sollte es mal zu laut werden, hilft eigentlich immer, bevor nach der lieben Obrigkeit gerufen wird: miteinander schnacken. Oder von Beginn an eine bassärmere Ecke suchen. Man glaubt es kaum, aber auch auf St. Pauli gibt es sie. Sogar häufiger, als man denkt.

Zur Ritze

Oben feiern, unten boxen, so sieht das klassische Programm in der Ritze aus.

Das Lokal ist eine Kneipe von Hans-Joachim „Hanne“ Kleine, die 1974 mit Boxring im Keller eröffnet wurde. Ähnlich bekannt wie der Boxkeller, aber dafür schon auf den ersten Blick zu sehen: die beiden gespreizten Beine auf der Eingangstür. Gemalt wurden sie von Erwin Ross – seine Frau stand ihm dafür höchstpersönlich Modell.

Oben wurde also gefeiert, manchmal auch geschrieben, und unten geboxt. Udo Lindeberg textete hier einige seiner Lieder, während unten etwa Dariusz Michalczewski, Henry Maske, Vitali und Wladimir Klitschko, Ben Becker und die Luden St. Paulis geboxt haben. Und auch noch heute wird im Boxkeller trainiert.

Trauriger Höhepunkt in der Geschichte jenes Boxkellers: 2006 erhängte sich hier Stefan Hentschel.

Es flogen jedoch nicht nur Fäuste, 1981 flogen auch Kugeln. Bei der Schießerei wurde der milieubekannte Lude „Chinesen-Fritz“ erschossen.

Inhaber Hanne Kleine verstarb 2011. Erst wurde das Lokal von seiner Witwe Kirsten geführt, seit 2016 von Carsten Marek.

Die Ritze hat so viele Geschichte, darüber können ganze Bücher geschrieben werden. Jens Meyer-Odewald beispielsweise hat dies mit „Zur Ritze: Hamburger Kiezgeschichte“ gemacht.

6er Block

24 Stunden. Länger sollte kein Haus in Hamburg besetzt sein. Das war die knallharte Regel des Innensenators Alfons Pawelczyk, um im Jahr 1981 eine Besetzungswelle wie im damaligen West-Berlin zu vermeiden.

Das wussten jedoch auch die Bewohner*innen der zwölf Häuser aus der Gründerzeit in der Hafen- und Bernhard-Nocht-Straße und besetzten sie ab Herbst 1981 schleichend. Nicht auf einen Schlag, sondern Wohnung für Wohnung. Ganz leise und ohne großes Tamtam.

Hinzu kamen Studenten und Autonome. Kurzum: Menschen, die eine Bleibe suchten.

Die SAGA (kommunales Hamburger Wohnungsunternehmen) sah das natürlich nicht gerne, denn eigentlich sollten die Häuser abgerissen werden und Platz für Neubauten mit bis zu 22 Geschossen machen. Denn wer die Ecke kennt, weiß: Es ist schon ein unglaubliches Filetgrundstück direkt an der Elbe.

Es entstand ein jahrelanges Tauziehen, bei dem die Besetzer*innen die Selbstverwaltung der Gebäude forderten. Über 30 Mal sollen die Häuser gestürmt und wieder „instandbesetzt“ worden sein. Dieses juristische Tauziehen spielte den Besetzer*innen allerdings in die Karten, denn in der Zwischenzeit renovierten sie die Häuser und entkräfteten die Argumente der Unbewohnbarkeit. 1983 erhielten sie einen befristeten Nutzungsvertrag, die Spannungen hielten jedoch an und mündeten in teilweise gewalttätigen Ausschreitungen.

1986 eskalierte die Lage. 12.000 Menschen zogen durch Hamburg und solidarisierten sich mit der Hafenstraße. Es kam zu schweren Ausschreitungen mit vielen Verletzten.

Nachdem es auch 1987 nicht zu einer Einigung kam und mit der Räumung gedroht wurde, bereiteten sich die Bewohner*innen der Hafenstraße auf einen Straßenkampf vor, bauten Stahltüren ein, verbarrikadierten Fenster, sicherten die Dächer mit Stacheldraht, bauten meterhohe Barrikaden auf und der Piratensender „Radio Hafenstraße“ ging als Sprachrohr für die Hafenstraße auf Sendung – die Zeit der Barrikadentage brach an.

Die Hafenstraße war wochenlang gesperrt und eine friedliche Lösung schien nicht mehr möglich, als Hamburgs Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi einen ungewöhnlichen Weg wählte: Er verpfändete sein Amt und gab sein politisches Ehrenwort, für eine vertragliche Lösung zu sorgen, wenn die Straßensperren abgebaut würden.

Die Barrikaden fielen und die Räumung wurde abgewendet. Ende 1987 unterschrieben Stadt und Bewohner einen Pachtvertrag zur Nutzung der Häuser. Unterschrieben wurde mit „B. Setzer“.
Es gab weiterhin Reibereien, aber die großen Konflikte waren beigelegt. 1995 verkaufte die Stadt die Häuser an die dafür eigens von einem Teil der Bewohner*innen gegründete Genossenschaft „Alternativen am Elbufer“. Seitdem vermietet sie die Häuser an den „Waterkant e.V.“.

Ohne die Besetzung 1981 wäre von diesem alternativen Quartier nichts mehr übrig. „Widerstand lohnt sich“, sagt Claus Petersen. Er wohnt seit 1976 in der Hafenstraße.

Und heute? Petersen stellt er fest, dass gefühlt mehr Polizei um die Häuser der Hafenstraße „herumlungert“ als zur Zeit der Besetzung. Allerdings nicht mehr auf der Jagd nach Hausbesetzer*innen: Seit 2016 haben sie vermeintliche Dealer im Visier und verfolgen sie die Balduintreppe hoch und runter.

Polizeihubschrauber kreisen nur noch selten über diesem Teil des Viertels. Und wenn, dann meistens eher wegen eines der vielen Großevents auf St. Pauli.

Günter Zint begleitete die Zeit der Besetzung fotografisch hautnah. In seinem Buch „Wilde Zeiten“ führt er die Betrachter*innen zurück in diese Zeit. Und nicht nur in die Hafenstraße, sondern auch zurück ins Hamburg der 1960er bis tief in die 1980er Jahre.

Wer lieber liest: Die Geschichte der Hafenstraße ist so komplex – und dieser Text streift sie lediglich –, dass damit etliche Bücher gefüllt wurden, zum Beispiel „Hafenstrasse: Chronik und Analysen eines Konflikts“ von Niklaus Hablützel, Michael Herrmann, Hans–Joachim Lenger, Jan Philipp Reemtsma und Karl–Heinz Roth.

Pink Palace

Als „Palais d’Amour“ wurde es vom St.-Pauli-Grandseigneur Willi Bartels (1914-2007) gebaut und sollte die Huren von der Straße holen, da sie der Politik und einigen Bürgern der Hansestadt ein Dorn im Auge waren.

Der Name hat sich geändert und auch die Farbe. Nur der Kern des Geschäfts blieb in den 60 Liebes­Appartements seit der Eröffnung immer gleich.

Es werden jedoch nicht nur körperliche Gelüste befriedigt: Der Autor Navid Kermani mag ungewöhnliche Orte für seine Lesungen und las hier Auszüge aus seinem Roman „Ungläubiges Staunen“. Thema: das Christentum.

Zum Goldenen Handschuh

Ochsenschwanzsuppe, drei Unruhestifter und ein Frühlokal auf dem Hamburger Berg – das ist das Rezept, aus dem eine der bekanntesten Spelunken auf dem Kiez entstanden ist: In einem Frühlokal auf dem Hamburger Berg aß Herbert Nürnberg mit Vorliebe seine Ochsenschwanzsuppe und lernte das ältere Besitzer-Pärchen auf der anderen Seite des Tresens kennen.

Ab und an wurde das Lokal jedoch von drei Herrschaften besucht, die häufig auf Krawall gebürstet waren und diese unschöne Eigenschaft auch in dem Lokal auslebten. Das wiederum schmeckte Herbert Nürnberg nicht und der Boxer – der als Amateur zwischen 1937 und 1942 viermal Deutscher Meister und zweimal Europameister wurde – schickte die drei mit Hilfe handfester Argumente vor die Tür.

Aus dem Gast wurde ein Freund des Lokals und eines Tages sprach ihn die Besitzerin an: Wenn jemand das Frühlokal übernehmen solle, dann doch bitte Herbert.

Gesagt, getan. 1955 pachtete er das Frühlokal und benannte es nach dem Boxturnier „Golden Gloves“, das er damals in Chicago gewann. Auch wenn die Kneipe unter dem Namen „Zum Goldenen Handschuh“ bekannt ist, heißt sie eigentlich „Zum Goldenen Boxhandschuh“ und wird seit 1982 von Herberts Enkel Jörn betrieben.

In der Kneipe suchte sich Anfang der 70er Jahre der Serienmörder Fritz Honka seine Opfer aus, die er anschließend in seiner Wohnung in Ottensen erwürgte und zersägte. Als 1975 ein Brand in seinem Wohnhaus ausbrach, entdeckte ein Feuerwehrmann die Leichen.

Das Buch „Der goldene Handschuh“ von Heinz Strunk und der auf dem Buch basierende Film von Fatih Akin erzählen die Geschichte von Fritz „Fiete“ Honka und geben zudem Einblick in die Kneipe.

Rosi’s Bar

Rosis Vater sagte: „Bring mir keinen Kellner oder Türsteher mit nach Hause!“. Das tat Rosi auch nicht. Sie brachte stattdessen einen englischen Musiker mit. Tony Sheridan McGinnity, ihren zukünftigen Mann, einen Singer-Songwriter und Gitarristen, der in Hamburg unter anderem mit seiner Band „The Jets“ und als Solo-Sänger spielte oder von einer Band, bestehend aus ein paar jungen Musikern aus Liverpool, begleitet wurde – den Beatles.

Gegründet von ihrem Vater, betrieb Rosi seit 1969 die Kneipe „Zu den drei Hufeisen“. Das konnten sich ihre englischen Musikerfreunde jedoch nie merken. Stattdessen liefen sie immer über den Kiez und fragten „Where can we find Rosi?“. So stand schnell der neue Name fest und das neue Wohnzimmer für zahlreiche Musiker und spontane Sessions war gefunden.

Noch heute betreibt Rosi die Bar. Man sieht es ihr mit ihrem frischen Anstrich kaum an, aber Rosi’s Bar ist eine der ältesten Bars auf dem Hamburger Berg – mit einer ganz besonderen Besitzerin.

Über der Tür hängen übrigens noch immer die drei Hufeisen.

Wunderbar

Eine der Besonderheiten auf St. Pauli: Jeder kann hier leben wie er möchte. Egal ob hetero, schwul oder transsexuell.

Corny Littmanns WunderBar in der Talstraße ist seit 1991 Hamburgs, wenn nicht sogar Deutschlands schwules Wohnzimmer– puffig, plüschig und mit Glitzer-Ambiente.
Jedoch nicht nur drinnen wird in der kleinsten Disko Hamburgs gefeiert. Die WunderBar hat viele Satelliten, die um sie herum kreisen. Zum Beispiel einen eigenen Wagen und ein eigenes Schiff auf dem CSD, der Pink Inc Partyreihe, und einem eigenen Stand auf dem Weihnachtsmarkt „Santa Pauli“.

Auch nichtschwule Menschen dürfen sich hier wohlfühlen.

Jolly Roger

Die Kneipe für St.-Pauli-Fans und andere nette Menschen.

2009 wurde die Kneipe am Rande des Schanzenfestes von Bereitschaftspolizisten erst mit Reizgas vollgenebelt und dann gestürmt. Angeblich, weil eine Flasche in Richtung der Beamten geworfen wurde und sich linke Randalierer in die Kneipe geflüchtet haben. Aber eigentlich war’s nur eine Geburtstagsfeier mit etwa hundert Gästen. Für viele St.-Pauli-Anhänger wurde die Stürmung der Kneipe zum Symbol für Polizeigewalt.

Minipudel

Der Golden Pudel Club ist abgebrannt und mit ihm der Ort, an dem das Park-Fiction-Archiv untergebracht war – glücklicherweise konnte es gerettet werden.

Der Minipudel, die Miniversion des Hauses, war ein Protestbau, der eine kommerzielle Verwertung des Pudel-Geländes verhindern sollte, da ein Verkauf des Grundstücks im Raum stand.

Kunsthistorisch bezog sich das kleine Haus auf die lange Tradition der Follies (ungewöhnliche und oft auffällige Zierbauten). Gerade in der Romantik waren die Follies oftmals aufgeladen mit politischen Anspielungen. Gleichzeitig bot er eine Plattform für die Neuplanung des Obergeschosses, in dem das Park-Fiction-Archiv untergebracht war. Zudem wurden im Minipudel Spielzeuge und Schachspielfiguren aufbewahrt, die Besucher des Parks nutzen konnten.

Die kommerzielle Verwertung des Grundstücks wurde verhindert und es wurde in eine Gemeinnützigkeit überführt. Der Golden Pudel Club ist wiederhergestellt, er konnte wieder öffnen und der Wiederaufbau ist mittlerweile abgeschlossen.

Der Minipudel hat seinen Einsatz erfolgreich beendet und seit April 2020 fühlt sich das Park-Fiction-Archiv wieder unter dem Sheddach des Golden Pudel Clubs wohl. Der Minipudel wurde abgebaut – oder besser gesagt: versetzt. Denn nun steht er an der Reeperbahn und wacht über die Umsetzung des von der Planbude ermittelten „St. Pauli Codes“.

Das Lächeln des Hauses: inspiriert von Stefan Marx
Throw Ups: SRF, Lolek

Angel Club

Untergebracht in einem 150 Jahre alten Hafenschuppen, gibt es hier Musik auf die Ohren und Kunst auf die Augen.

Der Angel Klub ist zudem eine Plattform von Künstlern für Künstler mit Atelier- und Ausstellungsflächen und einem kleinen Tonstudio.

Apropos Angeln: In Anlehnung an den Angelhaken gibt es im Angel Club Erlebnisse, die hängenbleiben – so wie die gute alte Hookline.

Silbersack

1949 von Erna und Friedrich Thomson gegründet, führte Erna nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1958 den Silbersack bis zu ihrem eigenen Ableben in 2012. Dann wurde das Lokal, das auf einem ehemaligen Trümmergrundstück nahe der Reeperbahn erbaut ist, geschlossen. Mehr als 1.300 Menschen setzten sich jedoch für den Erhalt des Silbersacks ein, letztlich wurde die Kneipen-Immobilie mit dazugehörigem Wohngebäude an die „Freunde des Silbersack GmbH & Co. KG“ verkauft und neu verpachtet: an Dominik, zu dem Zeitpunkt seit vier Jahren im Silbersack und bestens mit ihm vertraut.

Abgesehen davon, dass es in den Kneipen auf dem Kiez leckere Biere in die Hand gibt, sind sie ein wichtiger Knotenpunkt für das soziale Leben, wie unter anderem die Doku „Manche hatten Krokodile“ von Christian Hornung zeigt.

Der Film erzählt auch von den Sparclubs. Im Silbersack selbst gibt es ihn nicht mehr, im Utspan, dem Hong Kong Hotel oder der Kaffeepause sind sie jedoch noch zu finden: kleine Kästen, in denen Gäste Fächer haben, in die sie regelmäßig Geld einzahlen. Die Angestellten der Bar bringen es regelmäßig zur Bank und am Ende des Jahres gibt es das angesparte Geld wieder zurück. Nicht selten wird davon gefeiert oder es wird mit allen Sparclubmitgliedern ein Ausflug gemacht – denn es geht neben dem Sparen auch um das Gemeinschaftliche.

Kandie Shop

Alte Kassettenrekorder an der Wand; Kaffee, Frühstück und Kuchen in den Mund. Letzteres selbst gebacken und mit viel Liebe zum Detail. Drop Kandie, not Bombs.

Auf St. Pauli gibt es übrigens den Spruch: „Dreckig bleiben!“ Sei Dir treu, verbieg Dich nicht, mach Dich gerade, sei, wie Du bist, mit Ecken, Kanten und persönlicher Patina. Im Kandie Shop spürt man dies – wie in vielen anderen kleinen Bars, Kneipen und Geschäften auf St. Pauli auch.

Kiez Parking

Das Büro von Kiez Parking, einem Parkplatz in einer Seitenstraße der Reeperbahn, verziert mit einem alten Kunstwerk von Erwin Ross auf der Rückseite.

Erwin Ross (1926-2010) wurde auch der „Rubens der Reeperbahn“ genannt und war bekannt für seine erotischen Plakatmalereien. Erst malte er noch in der DDR Plakate und Portraits für Veranstaltungen der SED, der der Parteiführung jedoch irgendwann zu erotisch wurden.

1955 zog er nach Hamburg und prägte mit seinen Bildern das Erscheinungsbild der Reeperbahn. Ringo Starr bat Ross mal um einen „Beatles“-Schriftzug auf der Basstrommel. Zehn Mark sollte dieser kosten, bezahlt hat Ringo nie. „Let it be“ wird er sich gesagt haben, erinnerte sich Ross amüsiert.

Flammen & Co.: Ray de la Cruz

Schuh Messmer

Der Laden für Leute, die auf großem Fuß leben und ein Faible für High Heels bis zu Größe 46 haben. Und für alle anderen, die auf oberschenkellange Lack- und Lederstiefel, exotische Schuhen aus Krokodil- oder Pythonleder oder Schuhwerk mit Pailletten und Perlen stehen.

Plateauheels mit schwindelerregend hohen Absätzen gab es hier – auf denen Männer übrigens meist am besten und elegantesten laufen können, erinnert sich die frühere Inhaberin Susan Lawrence.

Schuh Messmer war die erste Adresse für Luden, Liebesdamen, Prominente, die Tänzer*innen der umliegenden Theater, Touristen und so weiter. Kurzum: für Liebhaber*innen der Extravaganz am Fuß. Mucki Pinzner kaufte hier sein letztes Paar Schuhe – ein paar weiße Sneaker. Damals nannte man sie noch Turnschuhe.

Eröffnet 1844, schloss Hamburgs ältestes Schuhgeschäft im August 2018 die Türen. Hohe Mietkosten setzten dem Geschäft unter anderem zu. Zudem sagt Susan Lawrence, die das Geschäft in dritter Generation von ihrer Mutter übernommen hatte: „Der Kiez und auch mein Laden gingen durch die Ballermannisierung der Reeperbahn kaputt.“

Gerne blickt Susan in die Vergangenheit zurück. Ganz besondere Zeiten waren in ihren Augen die 1980er Jahre, auch wenn sich Susan, Pastorentochter, klein, zierlich, schüchtern, erst mal behaupten musste. „Die Kleine“ nannten die Luden sie anfangs. Bis sie merkten, wie viel Power in „der Kleinen“ steckte. Ab da war Susan „die Dicke“ und bekam von ihnen eine Telefonnummer zugesteckt, sollte es mal zu „Problemen“ kommen. Denn Probleme wurden gerne erst mal ohne die Herrschaften von der Davidwache um die Ecke geklärt.

Schuhe waren ihr Leben. Ihr Herz schlug jedoch auch immer für die Musik. Musikalisch von ihrer Mutter früh geprägt, war Susan auf vielen Bühnen in Deutschland, Frankreich und Belgien unterwegs.

Top Ten

Oben pittoresk, unten Musikgeschichte. Heute beheimatet das fachwerkverzierte und älteste Gebäude auf der Reeperbahn den Club Moondoo. Hier gibt es von Afrobeats über Funk bis Soul, Dubstep etc. auf die Ohren.

Früher, ab 1960, beherbergte das Haus einen Musikclub, der Geschichte schrieb: Das Top Ten. Nicht nur die Beatles spielten hier nach ihrem Engagement im Kaiserkeller (vom 1. April bis zum 1. Juli 1961 traten sie zusammen mit Tony Sheridan 92 Nächte nacheinander auf – sieben Stunden pro Abend, am Wochenende acht Stunden), sondern auch Größen wie The Jets, Gerry & The Pacemakers, Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich, Bluesology (mit Reg Dwight aka Elton John) oder The Monks.

Natürlich wurde dazu auch getanzt. Im Top Ten führten Soldaten der US-Marine zum ersten Mal den Twist auf und sorgten dafür, dass dieser Tanzstil auch hierzulande bekannt wurde. Zudem war der Club bei den Luden beliebt, um auf der Tanzfläche junge Frauen für ihr Gewerbe anzuwerben.

Ab 1984 leitete Kalle Schwensen das Top Ten und sorgte dafür, dass immer wieder ganz spontan und unter der Woche Freunde wie Tony Sheridan, die Scorpions, Duff McKagan von Guns N‘ Roses, Richie Sambora von Bon Jovi, The Rattles oder Les Humphries auf der Bühne standen. Oder Udo Lindenberg. Er am Schlagzeug, Kalle am Mikrofon.

1994 schloss das Top Ten seine Türen. „Keine Lust auf Techno“, sagte Kalle.

Bevor in dem Haus auf der Reeperbahn das Top Ten beheimatet war, war es zu Weimarer Zeiten die Adresse des „Grand Hippodrom und Café“, einem der drei Hippodrome auf St. Pauli, in dem halbnackte Showreiterinnen durch die Manege ritten.

Ein kleiner Themenschlenker zu den eben erwähnten Luden: Wenige Menschen beherrschen es noch – den Nachtjargon, eine Art Geheimsprache von St. Pauli, mit der sich Luden, Prostituierte, Türsteher und Barbesitzer unterhalten können, ohne dass Dritte einen blassen Schimmer haben, worum es eigentlich geht.

Oder wusstest Du, dass die „Hamburger Acht“ Handschellen, der „Hund“ Pistole, ein „dänischer Kuss“ Kopfnuss bedeutet und dass ein „Dibberkasten“ ein Telefon ist? In „Hamburgs Nachtjargon“ hat Klaus Siewert diese Begriffe gesammelt.

Internationale Modellbausätze

Wenn er Geld reinbuttern muss, würde er den Laden schließen, sagte Jonny. Das war 2017 der Fall und der kleine Modellbauladen am Paulinenplatz machte zu. Kunden wanderten nach und nach ins Internet ab und bestellten dort. Aber Onlinehändler werden und nur noch Kisten packen, das wollte Jonny nicht.

Gegründet wurde der Laden schon 1919 von der Familie Rettkowsky, damals noch in der Wohlwillstraße. 1955 übernahm dann Heinz Rettkowsky, Jahrgang 1926.

Für Heinz ging es mit zwölf Jahren via Dampfer zu seiner Tante nach New York. Von dort brachte er seine ersten Flugzeugmodelle mit: amerikanische Militärflugzeuge. Das kam 1936 am Zoll jedoch nicht so gut an und eigentlich sollten die Modelle die Grenze nicht passieren.

Heinz sah das jedoch anders und erzählte den Zollbeamten, dass er die Flugzeuge für den Unterricht zur Freund-Feind-Erkennung seiner Pimpf-Gruppe benötigte – und durfte sie mitnehmen. Der Grundstein für seine Modellbauleidenschaft war gelegt, auch wenn es bis in die 60er Jahre dauerte, bis er in seinem Laden primär Modelle verkaufte. Bis dahin gab es in dem Geschäft ein buntes Potpourri von Fahrrädern über Radios bis hin zu Spielwaren. Im Jahr 2005 schließlich übernahm Jonny den Laden, in dem er seit 1993 arbeitete.

Wenn man Jonny in den letzten Tagen in seinem Laden besuchte, war seine Antwort auf die Frage, was danach komme, immer: „Ich gehe nach Helgoland“. Hat er jedoch nicht gemacht. Er ist hiergeblieben. Der Laden und das Grundstück sind verkauft und Jonny schmiedet nun neue Zukunftspläne.

Throw Up und Tags: Wesh, Zonke 73, Tea 73, Lolek, …

Molotow

Nicht wegzudenken aus der Hamburger Musikszene ist das Molotow. Musikalisch vielfältig, mit Fokus auf Indie, Punk und Post-Rock. Neben Musik gibt es unter anderem auch Lesungen auf die Ohren. Wie etwa „Zeit für Zorn – die Türsteherlesung“.

Anfangs befand sich das Molotow im Keller der Esso-Häuser am Spielbudenplatz. Am 14. Dezember 2013 wurde der Club, wie auch alle anderen Bewohner und Gewerbetreibenden, aus dem baufälligen Komplex evakuiert. Im Januar 2014 wurden die Esso-Häuser abgerissen.

Nach einem Umzug in die Holstenstraße hat das Molotow seinen Platz am Nobistor gefunden, wo es bis zum Neubau am Spielbudenplatz bleiben kann. Eigentlich. Denn der Umzug in die alte Heimat am Spielbudenplatz – dem neuen Paloma-Viertel – ist noch nicht in trockenen Tüchern. Die ursprünglich vereinbarten und für das Molotow stemmbaren Mietkonditionen wurden geändert – und liegen nun weit jenseits dessen, was wirtschaftlich tragbar wäre.

Wer mehr über den Kampf um die Esso-Häuser und das Thema Verdrängung erfahren möchte: In ihrer Langzeitdokumentation „buy buy st. pauli“ begleitet ein Filmteam – bestehend aus Irene Bude, Olaf Sobczak und Steffen Jörg – den Kampf der Bewohner*innen der Esso-Häuser und ihrer Unterstützer*innen.

In der Doku „Empire St. Pauli – von Perlenketten und Platzverweisen“ beschäftigt sich das Filmteam mit dem Gentrifizierungsprozess auf St. Pauli.

Park Fiction

Park Fiction ist ein künstlerisches und gesellschaftspolitisches Gemeinschaftsprojekt. Eine „Wunschproduktion“.

Organisiert aus der Nachbarschaft heraus, entstand unter Beteiligung von Künstler*innen und Nachbar*innen aller Altersgruppen ein öffentlicher Park – anstelle einer beabsichtigten Wohn- und Bürobebauung. Außerdem sollte der Golden Pudel Club erhalten bleiben, der vom Abriss bedroht war.

2002 wurde das von 1994 bis 2005 geplante und realisierte Gemeinschaftswerk auf der Documenta11 ausgestellt. „Es geht bei der kollektiven Wunschproduktion darum, neu zu bestimmen, was die Stadt ist, darum, ein anderes Netz über die Stadt zu legen, sich die Stadt anzueignen, überhaupt sich vorzustellen, wie es anders laufen könnte, und dann das Spiel nach anderen Regeln zu spielen.“ – Christoph Schäfer in der Dokumentation „Park Fiction – die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen“ von Margit Czenki.

Und ganz nebenbei hat man vom Park Fiction aus einen wunderbaren Blick auf den Hafen und kann den Schiffchen beim Singen zuhören.

Über das Projekt

St. Pauli ist bunt und vielfältig – nicht nur die Menschen, sondern mit ihnen auch die Geschäfte, Kneipen, Clubs, Bars, Wohnhäuser und viele mehr.

Das Fotoprojekt „Soul Pauli“ fokussiert sich auf die einzelnen Gebäude und setzt sie in den Mittelpunkt, schaut jedoch mit mal kurzen, mal längeren Geschichten auch hinter die Fassaden.

Neben all der Buntheit geht es dabei auch um Veränderungen. Vieles verschwindet, Neues entsteht; manchmal spannend, manchmal kommerzieller Einheitsbrei. Daher will „Soul Pauli“ das Jetzt festhalten, aber auch einen Blick ins Früher werfen.

„Soul Pauli“ ist work in progress und wächst stetig weiter.

Soul Pauli – Blicke auf und hinter Fassaden

Fotografien von Christian Heidemann

30. September 2020 – 31. Oktober 2020

Sankt Pauli Museum, Nobistor 10, 22767 Hamburg

Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Sonntag 12 bis 17 Uhr

Der Eintritt ist frei, wir freuen uns jedoch über Spenden.

Coronabedingt wird es keine Vernissage geben. Bleibt gesund und bringt einen Mund-Nasen-Schutz mit!