Interview — M. Byrd

»In allem steckt auch immer das, woher man kommt«

Mit »The Seed« hat Maximilian Barth alias M. Byrd gerade ein Album veröffentlicht, das einem schnell ans Herz wachsen kann: nicht nur, weil es mit seinem feinen, unbeschwerten Gitarrensound richtig gute Laune macht. Sondern auch, weil der Singer-Songwriter uns damit einen unverstellten Blick in seine Seele gewährt. Ein Gespräch über den Begriff Heimat, die unübertroffene Magie von Dire Straits und den Anspruch, sich immer wieder aus der eigenen Komfortzone zu bewegen.

23. Juni 2023 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Stefan Hobmaier

Ein sonniger Nachmittag am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz, es ist der letzte Tag im Mai. Wir sind mit dem Singer-Songwriter M. Byrd verabredet, der am Abend im Roten Salon der Volksbühne ein kleines Konzert vor Familie, Freund*innen und geladenen Gästen spielt.

M. Byrd heißt eigentlich Maximilian Barth, ist noch wenige Stunden 29 Jahre alt und hat mit „The Seed“ gerade eine Platte fertiggestellt, die zum Berührendsten gehört, was in den letzten Monaten erst durch unsere Lautsprecher geschallert und dann in unser tiefstes Inneres vorgedrungen ist.

Warum? Weil die melodischen Gitarrenriffs, die zurückhaltenden Drums und die mal verletzliche, mal selbstbewusste Stimme ein so erwachsen wirkendes und akribisch arrangiertes Gesamtpaket ergeben, dass man sich in diese Musik am liebsten hineinlegen würde. „The Seed“ hört sich an, als wäre da über Jahrzehnte ein Soundteppich geknüpft worden, der sich vor den üblichen Verdächtigen aus fünf Jahrzehnten Gitarrenrock verneigt und gleichzeitig einen Resonanzraum für die ganz eigenen Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse des jungen Musikers aus Hamburg bietet.

Hamburg ist dabei übrigens nicht ganz richtig. Zwar wohnt Maximilian dort seit geraumer Zeit, geboren und aufgewachsen ist er allerdings im saarländischen Wadern, wie man immer noch unschwer am KFZ-Kennzeichen seines Autos erkennen kann. „Großes entsteht immer im Kleinen“, lautet der Slogan des kleinsten bundesdeutschen Flächenlands. In M. Byrds Fall kann man es nicht besser sagen.

»Dieses kleine Klangexperiment ganz am Anfang des Albums mag ich sehr.«

MYP Magazine:
Max, die ersten Sekunden deines Debütalbums hören sich an wie das Klangspiel an der Eingangstür eines geheimnisvollen Ladens. Was hat es mit diesem ungewöhnlichen Intro auf sich?

M. Byrd: (lächelt)
Die Geräusche stammen tatsächlich aus einem kleinen Teeladen in Silkeborg, einer dänischen Kleinstadt, in der die Familie meiner Freundin lebt. Dieses kleine Klangexperiment ganz am Anfang des Albums mag ich sehr. Wenn ich unterwegs bin, nehme ich mit meinem Handy immer wieder diverse Voice-Memos und Tonschnipsel auf, die ich gerne mal als kleine Ambients in meine Songs einfließen lasse. Lustigerweise ist der Track „Seed“, der die Platte eröffnet, der allerletzte, den wir aufgenommen haben.

»Mit dem neuen Album wollten wir einen Blumensamen für etwas Besseres pflanzen.«

MYP Magazine:
Dein neues Album trägt fast denselben Titel: „The Seed“. Dabei beschreibt es gar nicht den Anfang deiner Karriere als Musiker, denn der liegt schon einige Jahre zurück. Wieso hast du hier dennoch das Symbol eines Saatkorns gewählt?

M. Byrd:
Der Song „Seed“, über den wir gerade gesprochen haben, existierte zuerst nur als Skizze auf meinem Handy. Als ich ihn unserem Produzenten Eugen vorgespielt habe, befanden wir uns gerade in einer sehr seltsamen Bubble: Wir saßen seit Tagen in unserem Studio, einem alten Bunker in Detmold, hatten noch keine wirkliche Idee für die musikalische Klammer unseres Albums und gleichzeitig drehte draußen die Welt durch. Einerseits, weil Corona immer noch ein Thema war. Und andererseits, weil Russland gerade die Ukraine angegriffen hatte. In dieser Situation sagte Eugen: „Was wir hier gerade tun, ist eigentlich nichts anderes, als eine musikalische Welt zu bauen, mit der wir ein besseres Gefühl erzeugen wollen als das, was uns gerade umgibt.“ Da hatte er absolut recht. Und zu diesem Gefühl passte der Begriff „Seed“ perfekt, denn mit diesem Lied uns wurde plötzlich klar, was das Konzept des Albums sein sollte: Wir wollten damit einen Blumensamen für etwas Besseres pflanzen. Und da der Song „Seed“ alle anderen Tracks zusammenführt, haben wir uns entschieden, das Album selbst auch „The Seed“ zu nennen.

»Unsere Musik schafft einen Raum, in dem man sich voll und ganz wohlfühlen kann.«

MYP Magazine:
Mit diesem Album scheint ihr tief in die Gefühlswelt von uns Hörer*innen vorzudringen. Während etwa der Song „Pyrrhula“ ein gewisses Fernweh triggert, schürt „Outside of Town“ vor allem Nostalgiegefühle. „Over You, Over Me“ dagegen steht eher für Aufbruchstimmung und Zuversicht. Welche Gefühle verbindest du selbst mit diesem Album?

M. Byrd:
Als wir uns gestern mit der Band in einem großen Studio getroffen haben, um uns auf die Liveshow heute Abend vorzubereiten, waren wir die ganze Zeit in Bewegung: Wir sind durch den riesigen Raum gewandert, haben dabei die Arme zur Seite ausgestreckt und uns immer wieder Kreis gedreht – wie bei einem Sufi-Tanz. Für mich beschreibt das genau das Gefühl, das mir das neue Album gibt. Durch die simplen Akkord-Strukturen, die vielen Wiederholungen und die stehenden Töne hat die Platte fast etwas Mantrisches. Unsere Musik schafft einen Raum, in dem man sich voll und ganz wohlfühlen kann. Wenn Menschen mir davon erzählen, wie tief dieser Sound in ihre Gefühlswelt eindringt, ist das für mich ein mega schönes Kompliment.

»Es fällt mir wesentlich leichter, im Englischen eine Melodie zu finden als im Deutschen.«

MYP Magazine:
Welchen Grund hat es, dass du in einer Sprache singst, die nicht deine Muttersprache ist?

M. Byrd:
Meine Mutter, die Englischlehrerin ist, hat mir in meiner Kindheit oft aus englischsprachigen Kinderbüchern vorgelesen. Dafür bin ich heute sehr dankbar, denn allein dadurch bin ich sehr früh mit dieser Sprache in Kontakt gekommen. Darüber hinaus hatte ich schon immer eine sehr musikalische Beziehung zum Englischen. Das liegt vor allem an meinem Opa, der mich in meiner Jugend an wahnsinnig viel Musik herangeführt hat – und die war in den meisten Fällen auch englischsprachig. Ich glaube, aus diesem Grund fällt es mir heute wesentlich leichter, im Englischen eine Melodie zu finden als im Deutschen. Während ich die englische Sprache in meiner Musik wie ein Instrument benutzen kann, ist für mich das Deutsche eher ein pragmatisches Werkzeug, mit dem ich sehr detailliert Informationen übermitteln kann.

MYP Magazine:
Hattest du jemals Sorge, dass deine Songs nicht von den Leuten gemocht werden, weil du kein Englisch-Muttersprachler bist?

M. Byrd: (lächelt)
Das ist mir völlig egal. Ich weiß ja, dass sich die englische Sprache für mich am besten anfühlt und es daher die richtige Entscheidung für meine Musik ist.

»Der Song ist ein Blick aus der Vogelperspektive auf einen kurzen, entscheidenden Moment im Leben.«

MYP Magazine:
Apropos Sprache. Dein Song „Pyrrhula“ ist nach einer Finkengattung benannt. Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Titel?

M. Byrd:
Dieser Titel geht zurück auf ein Ereignis, von dem mir Lars, der Vater meiner Freundin, erzählt hat. Bei einem Spaziergang hatte er einen Radfahrer entdeckt, der schwer gestürzt war. Zwar hatte er sofort den Krankenwagen gerufen, doch der kam leider zu spät: Der Radfahrer starb wenige Minuten später in Lars’ Armen – aus purem Zufall verbrachte er mit ihm die letzten Minuten seines Lebens. Lars ist ein sehr sensibler Mensch, daher hat ihn diese Geschichte lange beschäftigt. Als er mir davon erzählt hat, hat mir das plötzlich meine eigene Endlichkeit vor Augen geführt. Es hat mir gezeigt, wie willkürlich der Tod sein kann. Da Lars ein großer Vogelliebhaber ist und besonders gerne diese Finkengattung beobachtet, habe ich den Song „Pyrrhula“ genannt: ein Blick aus der Vogelperspektive auf einen kurzen, entscheidenden Moment im Leben.

»Auf diese seltsame und fast alltägliche Art und Weise wurde ich noch nie mit dem Thema Krieg konfrontiert.«

MYP Magazine:
Dieser Unfall ist nicht das einzige tragische Ereignis, das dein neues Album geprägt hat. Zum Beispiel gäbe den Song „Gunslinger“ nicht, wenn Russland nicht die Ukraine angegriffen hätte…

M. Byrd:
Das stimmt leider. „Gunslinger“ ist ein Song, den wir – ähnlich wie „Seed“ – erst relativ spät aufgenommen haben. Anfangs hatten wir nur das Instrumental, jene charakteristische Gitarrenmelodie, die so ein bisschen was Westernmäßiges hat. Ganz allgemein ist es bei mir so, dass zuerst die Musik da ist und sich dann nach und nach der Text reinwringt. Doch in diesem Fall wusste ich erst mal nicht, was ich mit dem akustischen „The Good, The Bad & The Ugly“-Vibe anfangen soll. Ich habe mich ständig gefragt: Wo führt mich dieser Song hin? Und mit welchen Lyrics fülle ich diese Pause am Ende des Refrains?
Da die Ereignisse in der Ukraine erst wenige Tage alt waren und sich die Meldungen ständig überschlugen, haben wir auch während unserer Sessions im Studio immer wieder Nachrichten geschaut. Ich erinnere mich noch ganz genau an den Moment, als plötzlich ein Hinweis eingeblendet wurde, der interessierte Zuschauer*innen darüber informierte, wo sie sich melden können, wenn sie an der Seite der ukrainischen Armee gegen die Russen kämpfen wollen. Auf diese seltsame und fast alltägliche Art und Weise wurde ich noch nie mit dem Thema Krieg konfrontiert. Im nächsten Moment fiel mein Blick auf das Schlagzeug, auf dem der Schriftzug der Marke „Slingerland“ prangte. Plötzlich war da dieses Wort „Gunslinger“ in meinem Kopf, was übersetzt Revolverheld heißt – eine westernhafte Romantisierung des Kämpfens und aufeinander Schießens. Von diesem Wort aus hat sich dann der komplette Text ergeben.

»Auch ich könnte in so eine Situation geraten, wenn ich irgendwo anders geboren wäre.«

MYP Magazine:
Über den Song „Outside of Town“ hast Du vor Kurzem auf Instagram geschrieben: „This song is for a friend who changed my life when he let me see the world through his eyes.“ Wie genau ist diesem Freund das gelungen?

M. Byrd:
Vor Corona habe ich eine Zeit lang Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Mit meinem allerersten Schüler – ein Mensch, der aus seinem Land nach Deutschland fliehen musste – habe ich damals jeden Tag sechs Stunden zusammengesessen, und das zwei Monate lang. Wann im Leben hat man das schon mal, dass man mit jemandem so viel Zeit verbringen und sich dabei permanent unterhalten kann? Das war für mich eine ganz besondere Begegnung, mit dem Song wollte ich seine Geschichte aufschreiben – vielmehr steckt gar nicht dahinter. Gleichzeitig war es mir wichtig, dass der Song nicht auf eine einzelne Person bezogen ist. Denn die Geschichte dieses Freundes hat mir vor Augen geführt, dass auch ich in so eine Situation geraten könnte, wenn ich irgendwo anders geboren wäre. Ich habe mich gefragt, was es für mich und mein Leben bedeuten würde, wenn ich so eine Reise antreten würde – oder besser gesagt: antreten müsste.


Triggerwarnung: Depressionen und Suizid

In der folgenden Frage und zugehörigen Antwort geht es um das Thema Depressionen und Selbsttötung, was einige Leser*innen beunruhigen könnte. Wenn diese Themen bei Dir Unbehagen auslösen, möchten wir Dich bitten, diese Interview-Passage zu überspringen.

Wenn Du darüber nachdenkst, Dir das Leben zu nehmen, oder Du mit jemandem reden möchtest – hier findest Du Hilfe: Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern lauten 0800 – 111 0 111 und 0800 – 111 0 222.


»Früher hatte ich noch viel stärker das Bedürfnis, über mich selbst zu schreiben.«

MYP Magazine:
Der letzte Song auf dem Album, „Wish I Was“, ist einem Freund gewidmet, der sich das Leben genommen hat. Wie schwierig war es für dich, das Lied samt seiner Geschichte mit der Öffentlichkeit zu teilen?

M. Byrd:
Dieser Song ist schon relativ alt und stammt aus einer Zeit, in der ich oft niedergeschlagen war und Hilfe brauchte. Interessanterweise hatte ich früher noch viel stärker das Bedürfnis, über mich selbst zu schreiben, daher bezog sich der Song ganz am Anfang noch auf meine eigenen Erlebnisse. Doch im Laufe der Jahre hat sich das Lied sehr stark gewandelt und ist durch etliche Phasen gegangen. Irgendwann sagte mein Produzent Eugen, mit dem ich auch sehr eng befreundet bin: „Weißt du, immer wenn ich diesen Song höre, geht es für mich darin zu 100 Prozent um Markus.“ Markus ist der Freund von uns, der sich vor einigen Jahren das Leben genommen hat.
Ursprünglich wollte ich den Track gar nicht aufs Album packen, denn er stammt aus einer längst vergangen Zeit. Aber nach Eugens Hinweis habe ich den Song plötzlich komplett anders gesehen. Ich dachte: Damn! Natürlich muss der aufs neue Album, das geht gar nicht anders. Und so habe ich ganz am Ende noch eine Strophe angehängt, damit klar ist, dass es nun Markus‘ Song ist und nicht mehr meiner.

»Bei mir ist das, was sich so sonnig und unbeschwert anhört, oft mit ernsten Themen und Inhalten verbunden.«

MYP Magazine:
Viele Menschen beschreiben deine Songs als „Musik zum Autofahren“. Empfindest du so eine Zuschreibung als Kompliment?

M. Byrd:
Gute Frage. Ich versuche eigentlich, solchen Bewertungen eher neutral gegenüberzustehen. Musik erzeugt ja bei jeder einzelnen Person etwas anderes: Derselbe Song kann bei verschiedenen Menschen die unterschiedlichsten Assoziationen, Gefühle und Erinnerungen auslösen. Dennoch ist dieser Vergleich gar nicht so unpassend, denn Autofahren ist definitiv ein großer Teil meines Lebens und inspiriert sicher auch in irgendeiner Form die Musik, die ich schreibe. Allerdings ist bei mir das, was sich so sonnig und unbeschwert anhört, oft mit ernsten Themen und Inhalten verbunden. Diese Gegensätzlichkeit mag ich in meinen Songs besonders gerne.

»Endlich verstehe ich die Musik, die ich immer so mochte.«

MYP Magazine:
Die musikalische Sprache deines Albums ist geprägt vom sogenannten California Sound, der Mitte der 1960er Jahre im berühmten Laurel Canyon entstanden ist, einer Wohngegend im Nordwesten von Los Angeles. Du selbst hast letztes Jahr ebenfalls ein paar Wochen in L.A. verbracht. Wie hat dieser Aufenthalt den Sound deines Albums beeinflusst?

M. Byrd: (lacht)
Das Album war da schon längst fertig! Ich bin quasi mit der Platte im Gepäck nach Kalifornien geflogen. Aber auch wenn ich vorher noch nie in L.A. war, habe ich schon immer die Musik von da geliebt. Und spätestens jetzt, nachdem ich zum ersten Mal dort war, verstehe ich endlich die Musik, die ich immer so mochte. Oder besser gesagt: Ich kann mich da ein Stück weiter reinfühlen.

»Im Begriff Heimat steckt oft so eine Nostalgie, die sich für mich nicht immer gut anfühlt.«

MYP Magazine:
Du bist im nördlichen Saarland geboren und aufgewachsen, gleichzeitig stößt man in Artikeln über M. Byrd immer wieder auf die Bezeichnung „Musik aus Hamburg“ – schließlich lebst du da auch seit einigen Jahren. Was bedeutet dir Heimat?

M. Byrd:
Ich finde, Heimat ist ein eher komischer Begriff. Darin steckt oft so eine Nostalgie, die sich für mich nicht immer gut anfühlt. Die viel größere Frage in mir ist, was das Wort Zuhause für mich bedeutet.
Ebenso komisch finde ich es übrigens, wenn man versucht, Musik regional zu verorten. Meine Musik kommt in erster Linie aus mir, nicht aus Hamburg, nicht aus dem Saarland, nicht aus Dänemark. Und auch nicht aus Kanada – obwohl das nicht wenige Leute denken. Wahrscheinlich, weil ich bei einem kanadischen Label bin.

»Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt, was das Wort Zuhause eigentlich für mich bedeutet.«

MYP Magazine:
Wir müssen zugeben: Spätestens seit Horst Seehofer damals ein Heimatministerium gegründet hat, wirkt der Begriff auch etwas seltsam…

M. Byrd:
Ja, fucking hell! Ich muss gerade an den Song „Orion“ auf meiner ersten EP denken. Ich liebe es noch immer, die erste Zeile zu singen: „Somewhere in this blood / The dreams that I’m made of”. Soll heißen: In allem steckt auch immer das, woher man kommt. Der Weg nach vorne nährt sich aus dem eigenen Ursprungsort. Und dieser Ursprungsort, in meinem Fall das Städtchen Wadern im Saarland, bedeutet mir viel. Wenn andere das mit Heimat umschreiben wollen: von mir aus.

(überlegt einen Moment)

Ich habe mich in letzter Zeit viel damit beschäftigt, was das Wort Zuhause eigentlich für mich bedeutet. Darauf habe ich bisher nicht wirklich eine Antwort gefunden – ich fühle mich im Moment ohnehin eher in anderen Menschen zu Hause als an irgendeinem Ort. Das liegt wohl auch daran, dass ich ständig unterwegs bin.

»Diese Musik fasst für mich das ganze Leben zusammen, wenn ich sie höre.«

MYP Magazine:
In welcher Musik fühlst du dich denn zu Hause? Welche Songs fangen dich auf, wenn es dir besonders schlecht geht? In welches Album kannst Du dich einwickeln wie in eine warme Decke?

M. Byrd:
Das kann immer etwas anderes sein. Gerade ist es die Band Beach House, und zwar ihre gesamte Diskografie – darauf komme ich irgendwie immer wieder zurück. Außerdem gibt es ein, zwei Alben von Elliott Smith, die in den dunkelsten Momenten meines Lebens für mich da waren und die ich allein deshalb liebe. Ich habe aber auch gerade die Serie „Succession“ fertig geschaut. Einer der Hauptdarsteller, Jeremy Strong, hat vor kurzem in einem Interview gesagt, dass er Musik braucht, um in eine Rolle zu kommen. Ich habe mich gefragt, was er in solchen Momenten hört. Also habe ich ein bisschen geforscht und bin auf ein Album von Glenn Gould gestoßen, einem berühmten Klassikpianisten, der in den 1950er Jahren Variationen von Bach aufgenommen hat. Das klingt super sharp – und wie Jeremy Strong reißt es auch mich aus der Realität. Es gibt da vor allem einen Song, „Goldberg Variations“, der bringt mich anywhere. Diese konstante Bewegung in der Musik klingt manchmal wie ein natürliches, aber trotzdem irgendwie geordnetes Chaos. Das fasst für mich das ganze Leben zusammen, wenn ich es höre.

»Für mich hat sich das in dem Moment angefühlt, als hätte mir jemand gezeigt, was Freiheit bedeutet.«

MYP Magazine:
Du bist über deinen Vater schon sehr früh mit der Musik von Dire Straits in Berührung gekommen. Welche Rolle spielt diese Band in deiner eigenen musikalischen Entwicklung? Ist das eine reine Kindheitserinnerung oder beschäftigst du dich nach wie vor mit diesem Sound?

M. Byrd:
That just blew my mind! Als ich als Kind zum ersten Mal die Anfangstöne vom allerersten Dire-Straits-Album gehört habe, dieses sagenhafte Intro des Songs „Down To The Waterline“, wusste ich sofort: Das will ich auch machen. Da gibt es am Anfang so ein Drone und dann, einige Sekunden später, spielt Mark Knopfler ein Banding darüber. Das ist eine musikalische Sprache, die keine Wertung hat. Für mich hat sich das in dem Moment angefühlt, als hätte mir jemand gezeigt, was Freiheit bedeutet.

»Ich bin sicher nicht der einzige, dessen Vater im Auto Dire Straits gehört hat.«

MYP Magazine:
Ich habe vor Kurzem in einer Kritik zu deinem Song „Mountain“ folgende Passage gelesen: „Ü40. Endlich kann man ungeniert so Sachen wie Tom Petty und Bruce Springsteen hören. Und seit The War On Drugs mit ihren Alben ,Lost in the Dream‘ und ,A Deeper Understanding‘ den sogenannten Dad Rock auch in der jüngeren Generation etabliert haben, muss man sich als betagter Hörer auch gar nicht mehr merkwürdig vorkommen.“ Mal abgesehen davon, dass der Begriff Dad Rock etwas despektierlich klingt: Kannst du erklären, warum diese gitarrenlastige Musik vor allem Männer über 40 anzusprechen scheint?

M. Byrd: (lacht)
Wenn jemand heute mit 18 ein neues Drake-Album feiert, ist das in zwei Jahrzehnten wahrscheinlich Dad Pop. Aber im Ernst: Diese Musik weckt bei vielen Menschen Erinnerungen an ihre Kindheit. Ich bin sicher nicht der einzige, dessen Vater im Auto Dire Straits gehört hat.

»Man macht es sich viel zu oft in dem gemütlich, was man schon kennt.«

MYP Magazine:
In einem Interview mit dem Radiosender Unser Ding wurde dir letztes Jahr folgende Frage gestellt: „Was müssen Männer noch lernen?“ Du hast geantwortet: „There’s so much to learn. Geht in euch rein, lest Bücher und habt keine Angst davor.“ Erlebst du Männer in der Regel als ängstlich, wenn es um Literatur und Selbstreflexion geht?

M. Byrd:
Ja, allerdings nicht die in meinem Freundeskreis. Dort ist es ganz normal, sich etwa mit Themen wie Gender zu beschäftigen – ganz im Gegensatz zum Großteil unserer Gesellschaft. Dabei macht es aus meiner Sicht für jeden Menschen Sinn, sich immer wieder damit zu auseinanderzusetzen, wer man ist oder wie man sich selbst betrachtet. Und Literatur und der Austausch mit anderen können dabei wirklich helfen. Ich sage das ganz offen: Auch für mich sind viele Themen neu. Ich kann mich zum Beispiel noch gut daran erinnern, dass ich an der Uni in einem Seminar mit dem Titel „Music, Gender and Sexuality“ saß und feststellen musste, dass ich eigentlich so gut wie gar nichts weiß. Ich hatte beispielsweise bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung davon, wie schwer es trans Menschen in unserer Gesellschaft gemacht wird. Aus diesem Grund finde ich es superwichtig, sich immer wieder mit dem Neuen und Unbekannten zu beschäftigen – allein schon, um die vielen verschiedenen Formen des Lebens zu begreifen. Man macht es sich viel zu oft in dem gemütlich, was man schon kennt. Aber gerade das sollte man so oft wie möglich aufbrechen, egal, ob man 20, 40 oder 60 ist.