Interview — FLOSS

Das Gegenteil von grau

Bombastische Bühnenoutfits und mit Synthie-Krokant überzogene Beats: Die Berliner Künstlerin FLOSS haut visuell und akustisch auf die Zwölf. Dass sie sich selbst dabei nicht allzu ernst nimmt, ist pure Absicht – die junge Frau strebt nach einer Art von Pop, die sie persönlich in der deutschen Musikszene schmerzlich vermisst.

31. Juli 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Katharina Weiß, Fotos: Nick Strutsi

Wer dem grauen Shirt- und Basecap-Look der deutschen Pop-Landschaft schon lange nichts mehr abgewinnen kann, sollte den Werdegang dieser Newcomerin verfolgen: Sängerin und Designerin FLOSS. Die Künstlerin steht mit ihrer Selfmade-Kunstfigur zwar noch ganz am Anfang, strotzt dafür aber nur so vor Lebenslust und Experimentierfreude.

Nach dem Studium am Hamburger Modeinstitut HAW verschlug es die gebürtige Braunschweigerin zunächst nach Paris und schließlich nach Berlin. Dort bastelt die 28-Jährige gerade an einer Karriere als wandlungsfähige Pop-Prinzessin.

Der Einstieg in die Branche gelang ihr dabei eher zufällig: Aus familiären Gründen setzte sich die junge Frau für das Thema Organspende ein, das im Januar 2020 unter dem Stichwort Widerspruchsregelung im Deutschen Bundestag zur Abstimmung stand. Dafür dachte sie sich kurzerhand einen spritzigen Xmas-Tune aus und engagierte Starmoderator Joko Winterscheidt als ehrenamtlichen Santa Claus.

Vor kurzem legte sie mit dem humoristisch-mystischen Themensong „Floss Like A Boss“ nach. Dieser Track – in dem sie übrigens erklärt, warum sie sich einen Künstlernamen ausgesucht hat, der ins Deutsche übersetzt Zahnseide bedeutet – hat so gar nichts mit der hierzulande üblichen Bescheidenheit zu tun. Der Song und auch das Video dazu kommen so breitbeinig und selbstbewusst daher, wie man es sonst nur von RnB- und Hip-Hop-Acts aus dem angelsächsischen Raum gewohnt ist.

Wir waren beim Videodreh dabei und konnten unter anderem beobachten, wie sich die junge Künstlerin im glitzernden Latex-Body als menschliche Zahnpasta auf einer Riesenbürste räkelt. Oder wie sie eine Zuckerparty mit krassen Mundspülung-Cocktails feiert. Nicht nur Zahnärzte werden daran ihre helle Freude haben.

»Ich bin eher so die Maximalistin.«

Katharina:
Wenn Du so erfolgreich wie Michael Jackson wärst und Dir ein eigenes Heimparadies einrichten könntest: Wie sähe der FLOSS-Palast aus?

FLOSS:
Ein flossy Vergnügungspark? Ja, bitte! Visuell gibt dafür mein aktuelles „Floss Like A Boss“-Video ja die perfekte Farbpalette vor: Pastelltöne und Art déco-Vibes wie in Miami Beach. Ich bin ja eher so die Maximalistin – wer hätte das gedacht. Darum käme dieser Vergnügungspark einem „Willy Wonka trifft David LaChapelle“-Paradies extrem nahe. Popkultur-Überdosis!
In den Universal Studios in Orlando gibt es eine Achterbahn, die „Rock ’n’ Roller Coaster“ heißt. Dort kann man vor dem Start auswählen, welches Lied man während der Fahrt hören möchte. So eine Achterbahn bräuchte mein Anwesen auch. Ich persönlich hatte mich auf dieser Achterbahn übrigens für „Glamorous“ von Fergie entschieden.
Die Krönung wäre ein pinkfarbener und barock-schnörkeliger Süßwasser-Pool mit Wellenfunktion. So einer wird mir ständig auf Pinterest angezeigt. Wie weit darf ich noch träumen? Achso, und natürlich gäbe es im FLOSS-Vergnügungspark überall Zuckerwatte in Form meines Logos.

»Die Sprache des Pop hat viele Dialekte.«

Katharina:
Warum funktioniert Deine Musik so symbiotisch mit deinen Outfits? Was ist Dir überhaupt wichtiger: Fashion oder Sound?

FLOSS:
Ich mag es, Pop ganzheitlich zu denken. Wenn ich eine Idee für einen Song habe, kommen mir oft sofort Assoziationen für das Musikvideo. In „Floss Like A Boss“ zum Beispiel wollte ich unbedingt einen Lollipop-Soundeffekt haben. Warum? Das wird im Video humoristisch veranschaulicht. Die Sprache des Pop hat viele Dialekte.
Zur Frage, ob Fashion oder Sound: Ich kann mich nicht entscheiden, was mir wichtiger ist. Das ist, wie wenn Du mich fragen würdest, ob ich lieber blind oder taub wäre. Vielleicht würde ich auch nicht unbedingt den Begriff Fashion benutzen, sondern eher Visuals. In meinen Konzepten bedingt sich beides irgendwie gegenseitig – und ich brauche auch beides, um zu kommunizieren. Um mich zu kommunizieren.

»Meine Vision ist schillernder Pop mit einer tieferen Botschaft.«

Katharina:
Welche Vision steckt hinter Deinem Style und dem gesamten Kunstprojekt?

FLOSS:
Ich möchte einfach Musik machen, die ich auch selbst gerne hören würde und von der ich hoffe, dass sich viele andere damit identifizieren können. Und ich will zeigen, dass es wunderbar ist, geilen Kitsch und bunte Farben gut zu finden – or whatever your kink is! Wahrscheinlich ist das so, weil ich mich früher wegen meines Geschmacks oft als Outsider gefühlt habe. Aber diese Art von Kunst muss kein guilty pleasure sein!
Im Modedesign habe ich immer Humor und viele Farben benutzt, um dann mit einem Aha-Effekt eine tiefere Bedeutung zu vermitteln. Alles funktionierte mit einer „auf den zweiten Blick“-Ästhetik, so ein bisschen wie bei Bacon, Kirchner oder Matisse. Bei ihnen nimmt man auf den ersten Blick nur die schönen bunten Farben wahr, aber nach etwas längerer Betrachtung stell sich die Erkenntnis ein: „Moment, die sehen im Detail ja gar nicht so happy aus. Und ist das nicht ein pinkfarbener Totenkopf? Was bedeutet das wohl?“ Das ist ein Mechanismus, den ich unterbewusst immer wieder anwende. Um es in einen Satz zu packen: Meine Vision ist schillernder Pop mit einer tieferen Botschaft, oft angelehnt an female empowerment und zwischenmenschlichen Beziehungsshit, den ich versuche, in wohlklingende Worte und Melodien zu fassen.

»Ich war super aufgeregt, habe es aber irgendwie geschafft mich vorzustellen.«

Katharina:
Mit welcher Geschichte erzeugst Du auf jeder Party offenstehende Münder?

FLOSS:
Na, wenn ich die jetzt erzähle, kann ich sie nicht mehr auf Partys zum Besten geben! Aber eine Story verrate ich: Meinen ersten Job nach dem Studium habe ich bekommen, weil ich nach Paris gefahren bin und dort einfach an die Tür des Büros meines Lieblingsdesigners Jean-Charles de Castelbajac geklopft habe. Die Adresse hatte ich vorher gegoogelt. Er selbst war nicht da, dafür aber sein Sohn Louis-Marie und eine Assistentin. Ich war super aufgeregt, habe es aber irgendwie geschafft mich vorzustellen, ihm mein Portfolio zu zeigen und meinen Praktikumswunsch zu äußern. Ein paar Monate später bin ich hingezogen, wurde nach dem Praktikum übernommen und habe insgesamt zwei Jahre für ihn als kreative Assistentin und Designerin gearbeitet.

»Wir schöpfen aus der Wut neuen Mut.«

Katharina:
In welchem Punkt wirst du am häufigsten unterschätzt?

FLOSS:
Wenn ich mich in Situationen nicht hundertprozentig wohlfühle, wirke ich ziemlich verträumt und auch introvertiert. Ich bin nicht die, die am lautesten schreit, um Aufmerksamkeit zu erhalten.

Katharina:
Ende letzten Jahres wurdest Du durch Deinen Song „Earth To Santa (I Am My Own Gift)“ bekannt, mit dem Du dich für Organspende einsetzt. Welchen persönlichen Bezug hast du zu dem Thema?

FLOSS:
Meine Mutter ist seit Anfang 2019 dialysepflichtig und wartet auf eine Spenderniere. In Deutschland beträgt die durchschnittliche Wartezeit aktuell etwa zehn Jahre – im Gegensatz übrigens zu Ländern wie Spanien, in denen die sogenannte Widerspruchsregelung greift und durch eine relativ kurze Wartezeit von ein bis zwei Jahren viele Leben gerettet werden.
Als der Bundestag im Januar gegen die Widerspruchsregelung gestimmt hat, war das ein schwerer Schlag für alle Wartenden. An diesem Tag waren wir mit „Junge Helden e.V.“, einem Verein, der sich für Organspende-Aufklärung einsetzt, und vielen Betroffenen vor Ort im Bundestag. Das war echt enttäuschend und ernüchternd. Aber gleich danach haben wir mit dem Hashtag #WirBleibenDran weitergemacht. Wir schöpfen aus der Wut neuen Mut und wollen weiterhin etwas bewegen. Wer uns unterstützen möchte, kann mir oder den Jungen Helden gerne schreiben.

»Ich habe immer die Hoffnung, jemanden zu erreichen, der mit seiner Meinung auf der Kippe steht.«

Katharina:
Mit „Earth To Santa (I Am My Own Gift)“ hast Du dich in den damaligen öffentlichen Diskurs eingemischt und wurdest dabei unter anderem von Joko Winterscheidt unterstützt. War dieses Engagement eher etwas Singuläres? Oder hast Du weitreichendere politische Ambitionen?

FLOSS:
Ich finde, man muss sogar politisch sein. Man kann gar nicht laut und oft genug herausschreien, wie Scheiße Nazis sind, und seine Stimme für das einsetzen, was einem wichtig ist, damit es auch alle Leute auf den billigsten Plätzen hören. Vielleicht wissen das manche Menschen ja einfach nicht. Oder sie haben noch nie darüber nachgedacht. Ich habe immer die Hoffnung, jemanden zu erreichen, der mit seiner Meinung auf der Kippe steht. Vielleicht wird ihm dadurch ein guter Gedanke eingepflanzt, aus dem wiederum gute Taten erwachsen können.
Ich persönlich war zwar nie eine große Rebellin, aber ich setze mich immer für Dinge ein, die mir wichtig sind. Ich versuche, mich so gut es geht zu informieren und nicht gleich zu urteilen – sondern zu beobachten und zu verstehen. Ich brauche immer etwas Konkretes, wenn ich mir eine Meinung zu verschiedenen Themen bilden möchte. Dabei hilft mir unter anderem mein Engagement im Team von „Curated by GIRLS“, eine Online-Plattform, die sich für Gleichberechtigung, Diversität und Inklusion starkmacht. Hier werden Künstlerinnen ins Scheinwerferlicht gerückt, die sonst oft übersehen werden.

»Wenn ich für ein paar Tage nach Saarbrücken fahre, ist das immer ein bisschen wie Arbeitsurlaub.«

Katharina:
Wie entsteht Deine Musik? Welche kreativen Köpfe sind daran noch beteiligt?

FLOSS:
Bei mir beginnt es meistens mit einzelnen Textzeilen, die sich dann zu Konzepten entwickeln. Aus einem Satz, der mir lange im Kopf herumschwirrt, entsteht in der Regel eine Geschichte, die entweder von meinen Erlebnissen inspiriert ist oder die ich mir ausdenke – einfach, weil es Spaß macht. Bei meinem Song „WIFI“ zum Beispiel stand zuerst der Satz: „Strong connection but no service“. Bei „Floss like a boss“ war es tatsächlich der Titel, der sich dann mit meiner Liebe zu Bildern von pinkfarbenen Süßigkeiten gepaart hat.
Manchmal tagträume ich auf dem Fahrrad und dann muss ich anhalten, um eine Zeile schnell in meinen Notizen festzuhalten. Vielleicht brauche ich deshalb immer etwas länger, um mein Ziel zu erreichen, wer weiß? Meist habe ich dann auch schon eine Melodie im Kopf und spiele sie meinen Produzenten vor, zu denen zum Beispiel das Duo „Tim & Matteo“ gehören. Wir sind da total auf einer Wellenlänge und können ohne große Egos, die uns im Weg stehen, zusammenarbeiten. Auf diese Weise ergeben sich die besten Sachen. Mit den beiden arbeite ich entweder in Fernbeziehung und nehme in Berlin auf, oder ich fahre für ein paar Tage zu ihnen nach Saarbrücken. Das ist dann immer ein bisschen wie Arbeitsurlaub, wenn man aus Berlin kommt. So etwas tut total gut.
In Berlin wird das FLOSS-Team auch langsam, aber sicher immer größer. Ich habe fantastische Unterstützung gefunden. Oder vielleicht haben wir uns gegenseitig gefunden? Egal, ob es um Hilfe beim Styling, bei Shootings oder um den musikalischen Feinschliff geht: Ich habe das große Glück, mit vielen Künstlern und Medienschaffenden zusammenzuarbeiten, die auch noch meine Freunde sind – und die an meine Visionen glauben.