Portrait — Rachel & David Hermlin

Retro in die Zukunft

Mit Durchhaltevermögen durch die Krise: Die Musiker Rachel und David Hermlin streamen seit über 250 Tagen aus ihrem Wohnzimmer. Ein Gespräch über eine schillernde Familiengeschichte, das Kribbeln des Swing und die digitale Community der »Hermlinvillers«.

29. November 2020 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Aufgeweckt, unverbraucht, schillernd: Wenn Rachel und David Hermlin auf der Bühne stehen, dann weht das Flair einer längst vergangenen Ära durch den Raum, das auch Menschen aus dem 21. Jahrhundert tief berühren kann. Vor allem in einer Zeit, in der Tanzverbot auf öffentlichem Parkett herrscht, zeigen Vintage-Virtuosen wie The Swingin‘ Hermlins, wie gut historische Ästhetik manchmal mit dem Lebensgefühl der eigenen Epoche korrespondieren kann: Der Swing war der Soundtrack der Großen Depression in den 1930er Jahren. Er lenkte die Menschen von ihrer Verzweiflung ab.

Heute hilft Swing vor allem gegen Einsamkeit. Seit Beginn der Coronakrise streamen die musikalischen Geschwister aus ihrem Wohnzimmer. Die Idee dazu hatte ihre Mutter, Joyce Hermlin. Sie erkannte bereits in den ersten Tagen der Pandemie, dass das Internet eine passable Ausweichplattform sein kann, wenn die große Bühne erst mal ausfällt – übrigens nicht nur für ihre Kinder, sondern auch für ihren Mann Andrej Hermlin, dem Leiter des Berliner „Swing Dance Orchestra“.

Während vor allem in den ersten Wochen der Krise noch relativ viele Künstler diesen Ort für improvisierte Auftritte nutzten, sich dann aber mit der Zeit immer mehr in Unregelmäßigkeiten verloren, sind die Hermlins nach wie vor am Ball und streamen munter weiter.

Dass dies seit über 250 Tagen so gut funktioniert, liegt auch an der faszinierenden Kulisse, aus der die Familie sendet. Ihr Haus wurde in den 1920er Jahren erbaut und ist im Stil des Art Déco eingerichtet. Die Alliierten überließen Großvater Stephan Hermlin, einem kommunistischen Juden und berühmten Schriftsteller, nach Kriegsende die Stadtvilla im Bezirk Pankow. Seit 1947 wohnte die Familie dort zur Miete, Andrej Hermlin kaufte das Haus später.

»Unser Urgroßvater war sehr gut mit Max Liebermann befreundet, der unsere Urgroßmutter mehrfach gemalt hat.«

An den Wänden hängt Kunst aus der Vorkriegszeit, vor allem die Original-Skizzen des berühmten Malers Max Liebermann machen Besucher neugierig. „Unser Urgroßvater David Leder, ein Textilfabrikant, war sehr gut mit Max Liebermann befreundet, der unsere Urgroßmutter Lola mehrfach gemalt hat. Hier hängt sie“, erklärt David Hermlin und zeigt auf eine Replik an der Wand. Das Originalgemälde seiner Urgroßmutter befindet sich seit langem in Privatbesitz.

Zur Familiengeschichte der Hermlins gehört auch eine russische Großmutter, die im Souterrain des Anwesens wohnt. Darüber hinaus deuten viele bunte Statuen auf die Einflüsse der kenianischen Mutter von Rachel und David hin. Große Fußstapfen, doch der 17-jährigen Rachel und dem 20-jährigen David merkt man schon jetzt ihre Furchtlosigkeit und vor allem die Abenteuerlust an.

»Als Schwarze hätten wir damals nicht viele Privilegien gehabt.«

„Mich hat stets diese Eleganz fasziniert. Ich verbinde die Swing-Musik, die ich spiele, gerne mit der Kleidung. So kann ich nachspüren, wie das damals gewesen sein muss. Zudem liegt in dieser Ästhetik eine gewisse Haltung, die mich anzieht“, sagt David. Er und seine Schwester betonen aber, dass sie sich voll und ganz dem Slogan vintage fashion, not vintage values verschrieben haben. „Wir lieben die Filme, die Musik, die Architektur, die Kleidung“, erklärt Rachel. „Aber unsere Zeit ist auch die der Smartphones und wir nutzen sehr viel Social Media – das ist nun mal die Welt, in der wir leben.“ Und ihr Bruder David fügt hinzu: „Wir sind auch ganz froh, dass wir in dieser Zeit leben. Als Schwarze hätten wir damals nicht viele Privilegien gehabt.“

»Ich dachte: Wow, erst durch diese Situation nehmt Ihr mich jetzt wahr.«

Eines der Nebenphänomene der Black Lives Matter-Bewegung in diesem Jahr war die Aufklärungsarbeit, mit der Schwarze Vintage-Fans auf einmal an Instagram- oder Pinterest-Communitys herangetreten sind: Auch wenn es in den 1920er und 1930er Jahren überaus viele Schwarze Künstler gab, sind viele von ihnen in der Reimagination historischer Kontexte in Vergessenheit geraten. Das führt dazu, dass gegenwärtige Illustratoren in ihrer Darstellung der Gatsby-Ära eher auf Weißes Personal zurückgreifen. Viele Schwarze Dandys und Diven aus der Gemeinschaft der Vintage-Virtuosen haben in diesem Zuge auf diese Schieflage hingewiesen.

Dass dies gefruchtet hat, merken David und Rachel zum einen an viel neuer Kunst mit Schwarzen Körpern, die daraufhin auf Instagram immer sichtbarer wird. Zum anderen schossen bei vielen nicht-Weißen Mikro-Influencern aus der Vintage-Sphäre die Followerzahlen in die Höhe. Diese Entwicklung ist auch an Rachel nicht vorbeigegangen: „Einerseits habe ich mich gefreut. Anderseits war ich verwundert, weil ich dachte: Wow, erst durch diese Situation nehmt Ihr mich jetzt wahr.“

Rachel hat sich vor zwei Jahren dem Retro-Stil verschrieben und fing kurz danach auch mit dem Singen an. Wenn sie sich nicht um die Pflege ihres Pferdes kümmert, das auf einem Reiterhof im Norden Pankows steht, tauscht sie sich mit anderen begeisterten Swing-Liebhabern im Internet über Frisurentipps oder Secondhand-Shopping aus. Vor kurzem hat Rachel ihren Realschulabschluss gemacht. Als sie noch zur Schule ging, stand sie jeden Tag um 5:30 Uhr auf, um ihre Haare im Look der Dreißigerjahre zu stylen. Als Ikone nennt sie die US-amerikanische Sängerin und Schauspielerin Lena Horne, zudem ist sie von der Jazzsängerin Ivie Anderson inspiriert.

»Das Ziel des Swing ist es, Menschen eine Freude zu machen.«

Das Vergnügen, das die Geschwister in ihrer Swing-Szene finden, erfasse den ganzen Körper, erzählen sie. „Was ich verspüre, wenn ich diese Musik interpretiere, ist ein gigantisches Kribbeln,“ sagt Rachel. Dieses Kribbeln übertrage sich auch auf die Zuschauer, hält David fest und ergänzt: „Das Ziel des Swing ist es, Menschen eine Freude zu machen.“ Die Energie der Musik komme besonders gut im Rhythmus zum Ausdruck, weshalb David auch Schlagzeug spielt.

»Ohne Kultur, das wissen wir alle, ist das Leben schrecklich langweilig.«

Den beiden fehlen ihre großen Live-Auftritte. In ihren Streams erklären sie daher immer wieder, dass es wichtig sei, dass man auch Künstler als Risikogruppe begreife. „Die Existenz von Menschen, deren Lebensaufgabe darin besteht, vor großen Menschenmengen aufzutreten, ist gerade sehr gefährdet. Und ohne Kultur, das wissen wir alle, ist das Leben schrecklich langweilig“, sagt David.

»Wir blühen in der Krise auf.«

Nicht nur das ZDF heute-journal, sondern auch die Los Angeles Times und The Guardian haben bisher über die Vehemenz berichtet, mit der die Familie Hermlin ihre Shows ins Digitale zu übersetzen versucht. „Wir blühen in der Krise auf“, erklärt David mit ehrlicher Verwunderung. Swing-Liebhaber und andere Vintage-Virtuosen aus dem Cyberspace hätten sich im Laufe der Monate zu einer Community zusammengefunden, die sich selbst „Hermlinville“ taufte. Die Beständigkeit tue den Menschen gut, denn die kleine Band aus Berlin biete Anlass für Austausch und neue Motivation, erzählen Rachel und David.

Und so hören die Geschwister immer wieder erstaunliche Geschichten: Wie etwa die eines amerikanischen Zuschauers, der nach 30 Jahren seine Trompete entstaubte, weil ihn „The Swingin‘ Hermlins“ so inspiriert haben. Good ol‘ Internet, Du bist ja doch für etwas gut.