Interview — Marius Nitzbon

»Die Leute wollen Musik hören, die von einem menschlichen Wesen gemacht wird«

Mit seinen gefühlvollen und präzisen Klangwelten erschafft Marius Nitzbon eine Musik, die tief in unsere Seele greift. Dabei bewegt sich der 23-jährige Komponist und Pianist nicht nur virtuos zwischen Intimität und Lebendigkeit. Er verknüpft auch immer wieder klassische mit elektronischen Elementen – und manchmal sogar mit etwas Vogelgezwitscher. Ein Gespräch über Trost als Antrieb, einen engagierten Musiklehrer und die Frage, ob man für den Algorithmus einer Maschine Empathie empfinden kann.

11. Februar 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Wir wagen mal eine These: Es gibt auf der Welt kaum etwas Intimeres, als einem anderen Menschen Musik zu empfehlen. Nein, wir meinen damit nicht jenes inflationäre Hinausgeballere von Spotify-Jahresrückblicken auf Instagram und Co. Sondern die wohlüberlegte Entscheidung, einen bestimmten Song oder gar ein Album, von dem die eigene Seele tief ergriffen ist, einer anderen Person liebevoll ans Herz zu legen. Wie zum Beispiel „Little Human“ von Marius Nitzbon.

Mit diesem Album hat der 23-jährige Neoklassik-Künstler bereits im Juni letzten Jahres ein so wundervolles und wahrhaftiges Stück Musik in die Welt geworfen, dass wir gar nicht anders können, als Euch diese Platte zu empfehlen. In insgesamt elf Tracks nimmt uns Marius mit auf eine verträumt-melancholische Reise, die beim eher reduzierten Piano-Stück „B Town is Awakening“ beginnt und bei „Dyn“ endet – einem überaus markanten Track, der mit pointierten Elektronik-Elementen einen dystopisch wabernden Klangteppich erzeugt. Ganz so, als wäre er Teil eines Films wie „Blade Runner 2049“.

Dabei ist „Little Human“ bereits das zweite Album des jungen Komponisten und Pianisten, der in Bergedorf aufgewachsen ist und aktuell an der Uni Münster Musikproduktion studiert. Schon 2018 erschien mit „Colours for the Blind“ sein Debütalbum, auf dem er seine ersten öffentlichen Gehversuche bei der Kombination klassischer und elektronischer Elemente machte.

Aktuell arbeitet er an einem weiteren Album, das den verheißungsvollen Titel „Birds Are My Friends“ trägt. Für das Recording dieser Platte, die Mitte 2024 erscheinen soll, reiste Marius Ende Mai ins lettische Kuldīga. Zehn Tage lang hatte er sich dort im Studio des berühmten Klavierbauers David Klavins eingemietet, um seine neuen Songs auf dessen „Una Corda“ aufzunehmen – ein von Klavins und Nils Frahm entwickeltes Piano, das über nur eine Saite pro Ton verfügt und einen ganz besonderen Klang hat.

Die insgesamt 13 Tracks sind von gefühlvollen Melodien und Stimmungen getragen, die sich in ausbrechende Dynamiken weiterentwickeln. Dabei steht das zarte Klavierspiel immer wieder in Kontrast zur eher exzentrischen Virtuosität, wodurch Marius – ähnlich wie auf „Little Human“ – ein faszinierendes Spannungsfeld schafft. Dabei kreiert nicht nur das Klacken der Pianomechanik eine unverwechselbar lebendige und intime Atmosphäre – sondern auch der Gesang der Vögel, der ab und zu von draußen in den Saal eindringt.

Vor einigen Wochen haben wir Marius Nitzbon in Berlin zum Interview und Photoshoot getroffen. Dabei sind wir nicht darum herumgekommen, hier und da auch über Spotify zu sprechen. Es hat ja manchmal auch sein Gutes, hätte jemand wie Loriot dazu gesagt.

»Ich bin ein Mensch, der sehr viel in seinen Gedanken lebt.«

MYP Magazine:
Eine Deiner eigenen Spotify-Playlists trägt den Untertitel „Nostalgic longing in its most positive form.“ Was reizt Dich so an dem, was längst vergangen ist?

Marius Nitzbon:
Ich bin ein Mensch, der sehr viel in seinen Gedanken lebt. Oft entsteht dabei auch jene nostalgische Sehnsucht. Das hat nicht selten mit der Musik zu tun, die ich gerne höre – und die in der Playlist liegt mir ganz besonders am Herzen. Ich schätze, daher geht es auch in meinen eigenen Tracks immer wieder um Nostalgie, sei es in meinen Klavierstücken oder in den elektronischen Produktionen. Dabei habe ich Bilder einer Zeit vor Augen, die längst vergangen ist – und die ich selbst oft gar nicht erlebt habe.

»Meine Hoffnung war, der Familie ein kleines bisschen Halt zu geben in der schweren Zeit.«

MYP Magazine:
Eines Deiner meistgehörten Stücke ist der Song „Little Human“ aus dem gleichnamigen Album. Wie ist dieses Lied entstanden?

Marius Nitzbon:
Als ich mit 16 ein halbes Jahr auf Schüleraustausch in Kanada war, habe ich zwei Brüder kennengelernt, die ich sehr, sehr mochte. Wir haben wahnsinnig viel Zeit miteinander verbracht und waren nach meinem Kanada-Halbjahr sogar noch zusammen im Spanienurlaub. Wenige Monate später hat sich einer der Brüder das Leben genommen… sein Name war Chris. Als ich davon erfahren habe, hatte ich das tiefe Bedürfnis, für die Familie einen Song zu schreiben. Meine Hoffnung war, ihr damit ein kleines bisschen Halt zu geben in der schweren Zeit. Und so habe ich zuhause auf meinem Klavier den Song „For Chris“ aufgenommen und ihn 2020 veröffentlicht.
Leider war ich mit der Recording-Qualität überhaupt nicht glücklich. Mein Klavier klingt sehr gewöhnungsbedürftig, es macht im Hintergrund ständig irgendwelche Klack-Geräusche, daher war diese Aufnahme irgendwie nicht genug, wie ich dachte. Aber dann hatte ich den passenden Einfall: Ich wollte den Track in meiner Schule aufnehmen, denn dort gibt es einen ziemlich großen und toll klingenden Flügel. Da wir alle gerade mitten im Lockdown steckten, war die Schule absolut menschenleer, und so konnte ich dort in aller Ruhe recorden.

MYP Magazine:
Und wie ist daraus in der Folge Dein zweites Album entstanden?

Marius Nitzbon:
Auch wenn es ursprünglich nur mein Ziel war, „For Chris“ in einer besseren Qualität aufzunehmen, haben sich aus diesem einen Stück plötzlich immer weitere ergeben – alle aus dem bloßen Versuch heraus, dieses eine Stück schöner klingen zu lassen. Eine der ersten Variationen von „For Chris“ sollte „Little Human“ heißen. Am Ende hatte ich ein ganzes Album in der Hand, das ich ebenfalls „Little Human“ getauft habe… Ich glaube, der Titel ist ein bisschen selbsterklärend. Chris war 15 Jahre alt.

»Niemand aus dem Publikum kannte die tatsächliche Story hinter dem Album. So konnten alle zu meiner Musik ihre ganz eigene Geschichte entwickeln.«

MYP Magazine:
Interessanterweise hört sich das Album nicht wie ein Zufallsprodukt an, sondern wie etwas, in das sehr viel Konzeptarbeit geflossen ist: einerseits, weil es so eine emotionale Tiefe hat; andererseits, weil es im Kopf einen fiktionalen Plot erzeugt – ähnlich wie ein gutes Buch.

Marius Nitzbon: (lächelt)
Diese Assoziation höre ich immer wieder, zuletzt bei einem Festival in Hannover, auf dem ich gespielt habe – auch wenn ich den undankbarsten Slot überhaupt erhalten hatte: an einem Sonntagmittag um 13 Uhr. Um diese Zeit standen ganze zehn Leute vor der Bühne und ich dachte, dabei bleibt‘s. Aber dann kam immer mehr Laufpublikum, das stehengeblieben ist.
Nach dem Auftritt erzählten mir die Leute, dass sie bei meiner Musik die Augen geschlossen und irgendwelche Filme gesehen hätten. Für mich war das ein sehr besonderes Kompliment, denn niemand aus dem Publikum kannte die tatsächliche Story hinter dem Album. So konnten alle zu meiner Musik ihre ganz eigene Geschichte entwickeln. Das hat meine Intention am Ende völlig unwichtig gemacht – für mich war und ist das etwas Wunderschönes an der Musik ohne Text.

»Der Song gehört zu den vielen Dingen, mit denen sie versuchen, die Erinnerung an ihren Sohn hochzuhalten.«

MYP Magazine:
Hast Du Sorge, dass die Menschen das Album mit anderen Ohren hören, wenn sie wissen, welche Tragödie der Auslöser war?

Marius Nitzbon:
Definitiv – denn eigentlich will ich das nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt okay ist, öffentlich darüber zu sprechen. Daher habe ich im Vorfeld auch bei Chris‘ Familie nachgefragt…

MYP Magazine:
Und was war die Antwort?

Marius Nitzbon:
Dass ich die Geschichte auf jeden Fall erzählen soll – die von Chris genauso wie die der Entstehung des Songs. Sie haben mir gesagt, dass „Little Human“ zu den vielen Dingen gehört, mit denen sie versuchen, die Erinnerung an ihren Sohn hochzuhalten.

»Ich habe mich von dem Anspruch verabschiedet, dass das Album ein elektronisches Gesamtwerk sein muss.«

MYP Magazine:
Auch wenn das Album aus einem einzigen Song heraus entstanden ist, wirken die insgesamt elf Tracks sehr eigenständig und divers. Wie ist es Dir gelungen, Dich aus der Gefühlslage von „Little Human“ für die anderen zehn Songs zu lösen?

Marius Nitzbon:
Ich komme musikalisch stark von Nils Frahm, meinem großen Idol. Nils arbeitet in seiner Musik sehr viel mit Synthesizern, weshalb auch ich am Anfang versucht habe, eher elektronische Stücke aufzunehmen. Aber das ist eine ultrakomplexe Angelegenheit, mir ist es einfach nicht gelungen. „Dyn“, aber auch „Swell“ sind nichts anderes als die Überbleibsel aus elektronischen Tracks, bei denen ich am Ende nicht bereit war für diese enorme Komplexität an Soundelementen. Aus diesem Grund habe ich bei anderen Stücken immer öfter mal das Klavier sprechen lassen und mich von dem Anspruch verabschiedet, dass das Album ein elektronisches Gesamtwerk sein muss. Durch dieses Ausprobieren habe ich mich sukzessive von dem Gefühl gelöst, aus dem heraus „For Chris“ entstanden ist.

»Ich habe das Gefühl, dass man aus dem Klavier noch viel mehr herausholen kann, wenn man ein bisschen elektronisch denkt.«

MYP Magazine:
In Deiner Musik verbindest Du immer wieder klassische mit elektronischen Elementen – ein bisschen so, als würde man Erik Satie mit Kollektiv Turmstraße mischen. Was geben dir diese beiden musikalischen Welten?

Marius Nitzbon:
Ich finde klassische Musik superspannend, vor allem klassische Klaviermusik. Aber ich habe das Gefühl, dass man aus dem Klavier noch viel mehr rausholen kann, wenn man ein bisschen elektronisch denkt. Ein Beispiel: Ich sehe meine linke Handbegleitung oft als eine Art Synthesizer Pad. Um „Pad-mäßig“ zu spielen, versuche ich möglichst leise zu spielen, um dadurch weniger Obertöne aus den Saiten zu kitzeln. Dadurch haben die rechte Hand und ihre Melodien automatisch mehr Platz. Andersherum finde ich elektronische Musik erst dann besonders ansprechend, wenn darin akustische oder Live-Performance-Elemente stecken. Ich kann gar nicht anders, als diese beiden Welten immer zusammen zu denken.

»Das, was wirklich an einem zehrt, ist dieses stundenlange Aufnehmen.«

MYP Magazine:
Für dein kommendes Album „Birds Are My Friends“ bist du vor einigen Monaten für zehn Tage ins lettische Städtchen Kuldīga gereist, um dort auf dem „Una Corda“-Piano des Klavierbauers David Klavins Deine Songs aufzunehmen. Was genau ist das für ein Instrument?

Marius Nitzbon:
Das „Una Corda“ ist ein neuartiges Klavier, das David Klavins zusammen mit Nils Frahm entwickelt hat. Anders als normale Pianos hat es statt drei nur eine Saite pro Ton – auf Italienisch una corda. Für mich persönlich klingt dieses Instrument ein bisschen so wie ein E-Piano oder eine Harfe. Andere hören darin aber auch eine Gitarre – was natürlich Sinn macht, denn Gitarre und Harfe haben auch nur eine Saite pro Ton. Insgesamt hat das „Una Corda“ also einen ganz eigenem Klang, der ein bisschen klarer, heller und leichter ist als der eines normalen Pianos.

MYP Magazine:
Wie hast du die zehn Tage in Kuldīga empfunden?

Marius Nitzbon:
Das war mit die beste Zeit, die ich mit mir und meiner Musik verbracht habe! Aber auch die intensivste, weil ich nächtelang gespielt und aufgenommen habe. Man sagt ja, der nervigste Teil von sowas ist immer die Postproduktion. Aber das, was wirklich an einem zehrt, ist dieses stundenlange Aufnehmen. Man weiß: In zehn Tagen muss alles fertig sein, also arbeitet man extrem viel und schaut besonders selbstkritisch auf das, was man so fabriziert.

»Heutzutage kann Billie Eilish super leise in ihr Mikrofon singen und daraus wird ein Megahit. Und genauso super leise kann man auch Klaviermusik aufnehmen.«

MYP Magazine:
Du bist über Deinen ehemaligen Musiklehrer auf die Arbeit von Nils Frahm und David Klavins aufmerksam geworden. Welchen Einfluss hat dieser Lehrer auf Deinen persönlichen Werdegang?

Marius Nitzbon:
Einen riesigen! Ich erinnere mich noch gut daran, dass Herr Sieveking (schöne Grüße an der Stelle) mit uns mal in der 7. Klasse das Thema Minimal Music durchnahm. Dabei führte er uns auch an Künstler wie Philip Glass und Nils Frahm heran – und erzählte uns stolz, dass Nils Frahm auch mal Schüler auf unserer Schule in Bergedorf war. Verrückt, oder?
Als Herr Sieveking später mal von David Klavins und seinem „Una Corda“ berichtete, fand ich es richtig cool, wie jemand, der eigentlich ein klassischer Klavierbauer ist, einfach mal die Regeln bricht. Immerhin sind die Patente für Pianos um die 150 Jahre alt und haben sich nie geändert. Klaviere werden seit jeher nach dem gleichen Prinzip gebaut, sprich mit drei Saiten pro Ton. Die sind dazu da, um das Instrument möglichst laut klingen zu lassen, denn damals gab es noch keinen Verstärker. Heutzutage kann Billie Eilish super leise in ihr Mikrofon singen und daraus wird ein Megahit. Und genauso super leise kann man auch Klaviermusik aufnehmen, denn mittlerweile ist man nicht mehr angewiesen auf physische Gegebenheiten wie etwa eine Mindestlautstärke, da man eh alles elektronisch verstärkt – egal ob bei Konzerten oder auf unseren Kopfhörern. Diesem Zeitgeist ist auch David Klavins gefolgt und hat das Instrument völlig neu gedacht. Das finde ich nach wie vor extrem spannend.

»Ich habe meine Songs immer nur nachts aufgenommen, weil ich mir den regulären Tagestarif nicht leisten konnte.«

MYP Magazine:
Für Deine Aufnahme-Session in Lettland hast Du eigentlich absolute Stille gesucht – bekommen hast Du aber jede Menge Vogelgezwitscher…

Marius Nitzbon:
Stimmt. Das liegt daran, dass ich meine Songs immer nur nachts aufgenommen habe, weil ich mir den regulären Tagestarif nicht leisten konnte. Daher hat mir David Klavins erlaubt, sein Studio außerhalb der regulären Zeiten zu nutzen. Soll heißen: Sobald er und seine Kolleg*innen in der Pianowerkstatt Feierabend gemacht haben, konnte ich mit dem Recording anfangen. Das war meistens so gegen 19, 20 Uhr – und in den frühen Morgenstunden, nach acht, neun Stunden, sind dann die Vögel aufgewacht. Ganz am Anfang war das noch gegen vier Uhr morgens. Aber mit jedem weiteren Tag fing das Gezwitscher etwas früher an, weil es auch immer früher hell wurde. Am Ende konnte ich ziemlich genau vorhersagen, in wie vielen Minuten sich die ersten Vögel melden.

»In der Nachbearbeitung habe ich gemerkt, dass ich diesen atmosphärischen Vogelsound in gewisser Weise auch sehr schön finde.«

MYP Magazine:
War das für Dich nicht der absolute Albtraum? Immerhin hast Du für die Aufnahme doch Stille gebraucht…

Marius Nitzbon:
Am Anfang war das tatsächlich eher nervig. Doch in der Nachbearbeitung habe ich gemerkt, dass ich diesen atmosphärischen Vogelsound, der vor allem auf den Raum-Mikros liegt, in gewisser Weise auch sehr schön finde. Davon abgesehen bekommt man diese speziellen Geräusche in der Postproduktion nie ganz weg. Also habe ich sie einfach drin gelassen.

MYP Magazine:
Das heißt, der Albumtitel ist eine nachträgliche Geste der Versöhnung an die lettische Vogelwelt?

Marius Nitzbon: (lacht)
Das kann man so sagen, ja.

»Ich finde: Wenn man Musik zu glatt bügeln will, verliert sie ihre Magie.«

MYP Magazine:
Auch in der Vergangenheit hast Du in Deinen Stücken immer wieder mal mit mehr oder weniger subtilen Hintergrundgeräuschen gespielt. In Deinen „Forest Sessions“ etwa hast Du Naturgeräuschen eine sehr prominente Rolle gegeben. Was reizt Dich so an diesen nichtmusikalischen Elementen?

Marius Nitzbon:
Das Besondere daran ist, dass man beim Hören das Gefühl hat, an der Aufnahme zu partizipieren – als wäre man im selben Raum. Oder zumindest in demselben Ambiente. Das Gehirn scheint es zu schaffen, dass man diese Elemente nicht als Störgeräusche wahrnimmt, sondern als integralen Teil des Tracks. Das macht die Musik nach meinem Empfinden irgendwie nahbarer und persönlicher. Bei den „Forest Sessions“ hätte ich es auch eher langweilig gefunden, wenn das Ganze im Studio aufgenommen worden wäre. Die zwitschernden Vögel waren da ein essenzieller Teil des Konzepts. Ich finde: Wenn man Musik zu glatt bügeln will, verliert sie ihre Magie.

»Auf einem Live-Konzert ist es doch irgendwie netter, wenn auf der Bühne ein bisschen performt wird und man sich zur Musik auch bewegen kann.«

MYP Magazine:
Die Tracks auf „Birds Are My Friend“ wirken im Vergleich zur aktuellen Platte wesentlich rhythmischer und treibender – und geradezu tanzbar. Oder anders gesagt: Wenn einem diese Musik auf dem Soundtrack von „Babylon Berlin“ begegnen würde, würde man sich nicht wundern. Ist „Birds Are My Friend“ der Versuch einer Kernschmelze aus Klassik und Elektronik?

Marius Nitzbon:
Ja, das kann ich zumindest aus heutiger Perspektive sagen. Denn über die letzten Jahre gab es immer öfter den Impuls in mir, Tracks zu kreieren, die auch ein bisschen reinkicken, wenn man sie live spielt…

MYP Magazine:
Um beispielsweise die Leute am Sonntagmittag auf einem Festival aufzuwecken…

Marius Nitzbon: (lächelt)
Genau! Mit solchen Stücken ist es live vor Publikum wesentlich einfacher für mich… Aber was heißt schon einfach? Ich komme ja immer noch mit recht schwerer Musik an, die eher introspektiv und träumerisch ist, zumindest im Vergleich zu dem, was sonst auf solchen Festivals gespielt wird.
Wenn die Leute zuhause auf der Couch sitzen, ihre Kopfhörer aufhaben und in dem entsprechenden Mindset sind, „funktioniert“ meine Musik total gut. In so einem Setting entscheidet man sich ja auch bewusst dafür. Aber auf einem Live-Konzert ist es doch irgendwie netter, wenn auf der Bühne ein bisschen performt wird und man sich zur Musik auch bewegen kann. Und das geben die neuen Stücke definitiv her. Ich wollte im Vorfeld unbedingt ein Album machen, mit dem ich mehr auf die Bühne kommen kann – und ich glaube, das ist mir gelungen.

»In nur sechs Wochen habe ich Popmusik von wirklich allen Seiten kennengelernt.«

MYP Magazine:
Mitte 2023 hast Du unter dem Namen „Neon Valis“ ein zweites musikalisches Projekt gestartet, mit dem Du dich hauptsächlich im Electronic Dream Pop bewegst. Wie kam es dazu? Und was gibt Dir „Neon Valis“, was Du in „Marius Nitzbon“ nicht findest?

Marius Nitzbon:
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich habe vor drei Jahren den Popkurs an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg belegt. Dieser Kurs ist ein sogenannter Kontaktstudiengang, bei dem jedes Jahr etwa 50 junge Musiker*innen in zwei Intensivkursen à drei Wochen gecoacht werden. Das Ganze findet immer im März und August statt, also in den Semesterferien. Für mich war das damals perfekt, da ich durch Empfehlungen von Teilnehmern schließlich zur Musikhochschule in Münster gefunden habe, wo ich immer noch studiere.

Wenn ich heute auf diesen Popkurs zurückblicke, muss ich sagen, dass das meine totale „Musik-Spielwiesen-Zeit“ war. Erstens, weil ich mich musikalisch austoben konnte wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und zweitens, weil ich mit den absolut unterschiedlichsten Leuten spielen konnte – und manchmal auch musste. Denn bei uns im Kurs gab es nur drei Keyboarder. Und einer davon war ich. Wegen dieses akuten Keyboarder-Mangels durfte ich Jahr darauf erneut teilnehmen, wodurch ich unter anderem auch die Jungs meiner heutigen Band KARRERA kennengelernt habe. In diesen beiden Jahren habe ich über einen Zeitraum von insgesamt zwölf Wochen an unzähligen Sessions teilgenommen, Dutzende Konzerte gespielt und an über 50 Songs mitgewirkt. Auch wenn ich danach kurz vor dem Burnout war: Ich habe in dieser Zeit Popmusik von wirklich allen Seiten kennengelernt. Und ich bin auf vieles gestoßen, das ich mit „Marius Nitzbon“ künstlerisch nicht ausdrücken kann. All das versuche ich nun über „Neon Valis“ zu transportieren. Was genau das ist, kann ich aber selbst noch nicht in Worte fassen.

»Ich setze auf das Altbewährte: auf Künstler, bei denen ich weiß, dass es sich um echte Menschen mit einem musikalischen Anspruch handelt.«

MYP Magazine:
Im Mai hat die ARD eine Dokuserie mit dem Titel „Dirty Little Secrets“ veröffentlicht, die uns einen Blick hinter die Kulissen des schillernden Musikbusiness ermöglicht. Dabei geht es unter anderem um – teilweise von Spotify – bezahlte Fake-Interpret*innen, die in reichweitenstarken Playlists platziert werden. Wie blickst Du als Newcomer auf den Musikmarkt?

Marius Nitzbon:
Dieses Thema ist krass präsent in meinem Kopf. Ich selbst habe auch schon mehrere solcher Angebote erhalten – von irgendwelchen Leuten, die sich als Musiklabel ausgeben. Mittlerweile weiß ich, dass sich dahinter in der Regel Einzelpersonen verbergen, die mal ein paar tausend Euro in Playlist-Promotion gesteckt haben. Jetzt versprechen sie vollmundig, deine Musik zu pushen – gerne mit dem Hinweis, innerhalb von kürzester Zeit über eine Million Streams zu generieren.
Früher fand ich so etwas noch sehr verlockend, weil ich dachte, es könnte mir tatsächlich helfen, mich im Musikbusiness als glaubwürdigen Künstler zu etablieren. Aber dann musste ich mit Erschrecken feststellen, wie viele Leute sich in dem Bereich tummeln, die zehn Projekte gleichzeitig bedienen und den Markt mit Musik überschwemmen. Eine Musik, die teilweise so belanglos ist, dass ich selbst sie gar nicht hören will. Ich setze viel lieber auf das Altbewährte: auf Künstler wie Nils Frahm, Ólafur Arnalds oder Martin Kohlstedt, bei denen ich weiß, dass es sich um echte Menschen mit einem musikalischen Anspruch handelt; Menschen, die sich handwerklich und emotional wirklich mit dem auseinandersetzen, was sie tun.

»Man muss den Leuten zeigen: Ich bin ein echter Mensch.«

MYP Magazine:
Doch auch die Arbeit dieser großen Künstler gerät immer mehr in Gefahr. Denn für künstliche Intelligenzen ist es schon lange kein Problem mehr, eigene Songs zu schreiben. Und diese Fähigkeit wird von Tag zu Tag ein bisschen besser. Fühlst Du dich durch diese Entwicklung in Deiner Existenz bedroht? Oder positiv gefragt: Welchen Vorteil hast du nach wie vor als Mensch gegenüber der KI?

Marius Nitzbon:
Immer, wenn mir ein Argument dafür einfällt, denke ich im nächsten Moment, dass man auch das letztendlich programmieren kann. Daher glaube ich, dass es am Ende nur noch einen einzigen Vorteil geben wird: die Tatsache, dass die Musik von einem Mensch geschrieben wurde. Ich bin mir sicher, dass sich das nie ändern wird: Die Leute wollen Musik hören, die von einem menschlichen Wesen gemacht wird. Vielleicht nicht, wenn es sich um dudelige Hintergrundmusik im Supermarkt handelt. Aber immer dann, wenn man vor einer Bühne steht und sich zu dem bewegen will, was der Mensch da oben mit seiner Stimme und den Instrumenten erzeugt.

MYP Magazine:
Auch wenn es um 13 Uhr auf einem Festival ist.

Marius Nitzbon: (lacht)
Gerade dann! Sonst würde ja erst recht niemand kommen. Daher will ich mit dem neuen Album auch mehr auf die Bühne. Mir bleibt eh nichts anderes übrig. Wenn ich als Künstler bei meiner Klaviermusik bleiben will und mich weiterhin weigere, für zehn Spotify-Projekte gleichzeitig zu komponieren, muss ich konsequent den Weg der Live-Auftritte gehen. Man muss den Leuten zeigen: Ich bin ein echter Mensch.

»Für die Gefühlswelt eines Menschen können wir Empathie empfinden. Für den Algorithmus einer Maschine nicht.«

MYP Magazine:
Es ist ohnehin fraglich, ob eine KI die Empathie hätte, einer Familie, die um ihren verstorbenen Sohn trauert, einen Song zu schenken – nur, um ihr ein wenig Trost zu spenden.

Marius Nitzbon:
Aber kann man nicht auch so etwas programmieren? Ich befürchte, dass eine KI dazu ebenfalls bald in der Lage sein wird. Der einzige Unterschied bleibt die menschliche Intention. Für die Gefühlswelt eines Menschen können wir Empathie empfinden. Für den Algorithmus einer Maschine nicht.

MYP Magazine:
Der Mensch bleibt am Ende eben immer Mensch…

Marius Nitzbon:
Und er will Mensch! Gerade in einer Welt, die mehr und mehr von künstlichen Intelligenzen beherrscht wird. Der Mensch will einen anderen Menschen, der leibhaftig auf der Bühne steht, eine persönliche Message hat und dabei auch Fehler macht, immer und immer wieder. Das wird das nostalgic longing der Zukunft sein.