Portrait — Klaus Stockhausen

Am Geist der Zeit

Vom erzbischöflichen Gymnasium über den legendären Houseclub Front zum renommierten ZEITmagazin: Die Vita von Klaus Stockhausen ist facettenreich wie eine Discokugel. Heute gehört er zu den gefragtesten Stylisten der Welt – eine popkulturelle Heimatgeschichte.

27. Februar 2020 — MYP N° 27 »Heimat« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Die Augen eines Menschen verraten vieles: Glück und Trauer, Erstaunen und Furcht, Lüge und Wahrheit. Doch eines verraten sie nicht: das Alter. Wer sich einzig und allein auf die Sehorgane eines Menschen konzentriert und alle anderen körperlichen Merkmale außer Acht lässt, wird nicht mehr sagen können, in welcher Lebensphase sich das Gegenüber gerade befindet. Das Wesen der Augen, so scheint es, ist zeitlos.

Bei Klaus Stockhausen, Fashion Director des ZEITmagazin, ist das nicht anders. Seine kleinen, grünblauen Augen stechen so neugierig und spitzbübisch hervor, dass man sie ohne Weiteres einem Heranwachsenden zuschreiben könnte, der gerade darüber nachdenkt, wie er am besten die Welt erobern könnte. Dabei ist er Jahrgang 1958.

Das renommierte Portal models.com bezeichnet Stockhausen als „einen der weltweit führenden Stylisten, der eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Modetrends und -ideen spielt.“ Gewiss, das alleine würde schon für eine gute Story reichen. Aber um die Geschichte hinter diesen juvenilen Augen zu verstehen, muss man einen Blick auf die gesamte Vita von Klaus Stockhausen werfen – eine Vita, die auch die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland widerspiegelt. Nur eben etwas bunter und exzessiver. Und ein bisschen schwuler. Eine popkulturelle Heimatgeschichte sozusagen.

»In den 70er Jahren war ich noch viel zu jung, um die Welt aus politischer Perspektive zu betrachten.«

Aufgewachsen ist Stockhausen im behüteten Bonn, der damaligen Hauptstadt der noch jungen BRD. Seine Schulzeit, so erzählt er uns, habe er mehr oder weniger artig im Kardinal-Frings-Gymnasium am Rhein verbracht. Dass jemand wie er einst Schüler eines privaten katholischen Gymnasiums war, legt ihm noch heute ein breites Grinsen aufs Gesicht.

Von seinem Pult aus konnte Stockhausen auf den sogenannten Kanzlerbungalow am gegenüberliegenden Ufer blicken, das ehemalige Wohn- und Empfangsgebäude des deutschen Bundeskanzlers. „Ich weiß noch, wie ich durch das Fenster meines Klassenzimmers immer beobachtet habe, wie die Hubschrauber dort gelandet sind,“ erinnert er sich. „Das ist aber auch alles, was ich von der Bonner Republik mitbekommen habe. In den 70er Jahren war ich noch viel zu jung, um die Welt aus politischer Perspektive zu betrachten.“

»Ich hatte niemals negative ›Schwuchtel-Erfahrungen‹ oder Probleme – außer mit meinen Eltern.«

Dass er schwul ist, wusste er dagegen schon relativ früh. Es machte ihm auch nichts aus, dies offen zuzugeben. „Dafür habe ich mich noch nie geschämt!“, schießt es aus ihm heraus. Dabei wuchs er in einer Zeit auf, in der für Homosexuelle nicht nur in Westdeutschland das Leben alles andere als einfach war. Man denke nur daran, dass damals schwuler Sex noch unter Strafe stand – ein stigmatisierender und entwürdigender Spuk, dem erst 1994 mit der Abschaffung des Paragraf 175 ein Ende bereitet wurde. Doch im Vergleich zu anderen, so erzählt Stockhausen, habe er in dieser Hinsicht wirklich Glück gehabt. „Ich hatte niemals negative Schwuchtel-Erfahrungen oder Probleme – außer mit meinen Eltern.“

Spötter sagen, der Name Bonn sei ein Akronym für „Bundeshauptstadt ohne nennenswertes Nachtleben“. Vielleicht ist das der Grund, warum der junge Klaus mit 17 zuhause auszog und sich auf den Weg ins bunte Köln machte. „Eigentlich wollte ich studieren“, erzählt Stockhausen. „Dazu musste ich aber erst mal Geld verdienen.“ Und so klapperte er auf der Kölner Hohe Straße jede einzelne Jeansboutique ab, um sich als Aushilfe zu bewerben. „Niemand wollte mich anstellen, bis ich schließlich in einem schicken Versace-Laden stand“, erinnert er sich. „Irgendwie mochten die mich, nach einer Woche Probearbeiten wurde ich genommen.“

»Plötzlich stand ich da also mit meiner Popper-Frisur und habe die ganzen Lederjungs bespaßt.«

In dieser Boutique, so beschreibt es Stockhausen, seien „solvente Luden“ ein- und ausgegangen. „Die kauften dort ihre bunten Seidenhemdchen.“ Eines Tages erfuhr er von einem Zuhälter, der gleichzeitig auch eine Disko besaß, dass kurzfristig ein DJ ausgefallen war – und Schwups, stand Klaus Stockhausen an einem Mittwochabend am DJ-Pult und legte Musik auf. „Mit der Zeit wurde das mehr und mehr und hipper und hipper“, erinnert er sich. „Zuerst spielte ich nur dienstags und mittwochs, dann auch an den Wochenenden. Und plötzlich waren da auch lauter Kids.“

Es dauerte nicht lange und der Besitzer eines Kölner Industrial-Clubs namens Coconut wurde auf ihn aufmerksam. Dieser hatte die Idee, in seinem Laden jeden Sonntag einen sogenannten Gay Tea Dance zu veranstalten – nach amerikanischem Vorbild. „Plötzlich stand ich da also mit meiner Popper-Frisur und habe die ganzen Lederjungs bespaßt“, erzählt Stockhausen. „Wirklich begriffen habe ich das alles damals noch nicht, ich fand’s einfach nur spannend.“ Dann schweigt er für einen Moment und fügt hinzu: „Wahrscheinlich ist es mir auch nur gelungen, diese ganze Zeit zu überleben, weil ich da fast ausschließlich hinter den Plattentellern stand.“ Wie viele andere hat auch Klaus Stockhausen in den 1980er und 90er Jahren etliche Freunde und Bekannte an das Aids-Virus verloren – eine Tragödie, die für viele junge Menschen heute gar nicht mehr vorstellbar ist.

»Wahrscheinlich ist es mir nur gelungen, diese ganze Zeit zu überleben, weil ich da fast ausschließlich hinter den Plattentellern stand.«

Neben dem Coconut bespielte Klaus Stockhausen auch wenig später das Frankfurter No Name, wo er jeden Donnerstag und Freitag auftrat. Das Publikum bestand fast ausschließlich aus schwulen und lesbischen Mitgliedern der US-Armee, die unter anderem im benachbarten Rammstein stationiert waren. Der Besitzer des No Name war der damalige Partner und Liebhaber von Rainer Werner Fassbinder, dem berühmten Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor.

Doch mit den Engagements in Köln und Frankfurt war es noch nicht genug. Als Stockhausen eines schönen Tages mal wieder ins nahegelegene Amsterdam fuhr, um sich mit neuen Platten einzudecken, geriet er an einen weiteren Club. Dort gab es jeden Montagabend eine Veranstaltung – und da der Montag in seinem Kalender noch frei war, fing er auch in Amsterdam bald mit dem Auflegen an.

Für eine ganze Weile spielte sich nun sein Leben im Dreieck Köln-Frankfurt-Amsterdam ab. „Das war vor allem deshalb spannend, weil in jeder der drei Städte komplett andere Musik verlangt wurde“, erinnert er sich. „In Köln legte ich High Energy und Disco auf, in Frankfurt lief Phillysound und RnB, in Amsterdam spielte ich Britpop und Dance.“ Mit der Zeit reizte es ihn immer öfter, die einzelnen Stile zu vermischen und auszutesten, wie die Besucher der einzelnen Clubs auf die Musik der jeweils anderen reagierten.

»Als DJ war man zu damaligen Zeiten weder überbezahlt noch berühmt.«

Als im Frühjahr 1983 der Besitzer des No Name starb, eröffnete der Manager des Clubs einen neuen Laden in Frankfurt. Natürlich fragte er, ob Stockhausen dort am Eröffnungsabend auflegen könne. Dieser wollte sich aber erst die Erlaubnis von den Besitzern des Coconut einholen – die er nicht bekam, sie hatten etwas dagegen. „So eine Reaktion war zu damaligen Zeiten wirklich sonderbar“, sagt Stockhausen. „Man war ja weder überbezahlt noch berühmt.“

Also spielte er das Opening trotzdem – und wurde dabei von den Kölner Coconut-Leuten ertappt, die plötzlich in Frankfurt vor seinem DJ-Pult standen. „Es gab dann ein wenig Stress“, erinnert er sich. „Mein bester Freund Norbert schlug daher vor, dass wir mal ein paar Tage wegfahren, um die Lage zu entspannen. Die Frage war allerdings, wohin. München fand ich zum Kotzen und in anderen Städten war ich auch schon fivethousand times, also fiel die Wahl auf Hamburg.“

»Wir waren wohl etwas zu laut für die Hamburger Herrschaften.«

Kaum waren die beiden in der Hansestadt angekommen, ging es am Abend auch schon in eine Schwulenbar auf dem Kiez. „Das war ganz nett dort, aber wir beide waren wohl etwas zu laut für die Hamburger Herrschaften“, berichtet Stockhausen mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht. Man sagte den beiden Freunden, dass es wohl besser sei weiterzuziehen, und empfahl ihnen einen Club, der wenigen Wochen vorher erst eröffnet hatte und sich in den Kellerräumen des berühmten Kontorhauses „Leder-Schüler-Höfe“ am Heidenkampsweg befand. Der Name des neuen Hamburger Clubs: Front.

Die beiden Freunde machten sich auf den Weg. Als sie das Kontorhaus erreicht hatten und die Kellertreppe zum Front hinunterstiegen, kam ihnen der Besitzer entgegen – und warf sich vor den beiden prompt auf die Knie. „Ich verstand überhaupt nicht, was das sollte“, erzählt Stockhausen über seine erste Begegnung mit Front-Gründer Willi Prange. „Dann stellte sich aber heraus, dass der Typ fast jeden Sonntag nach Köln zum Tanzen fuhr, um mich als DJ im Coconut zu erleben und meine Tapes zu kaufen. Soll heißen: Er mochte meine Musik – und wollte, dass ich mal bei ihm im Front auflege.“ Dieses Angebot nahm der junge DJ an und zog wenige Wochen später von Köln nach Hamburg.

2012, kurz vor dem 30-jährigen Clubjubiläum, ließ DIE ZEIT in einem Artikel ehemalige Gäste, DJs und Mitarbeiter zu Wort kommen. Einer der Zeitzeugen erzählt: „Das Neue am Front war, dass es ein offener Club war – für eine Generation, die nicht mehr mit ihrem Coming-out kämpfte. Da amüsierten sich Heteros, Lederkerle und Wolfgang Joop in einem Raum miteinander.“

Davon abgesehen war das Front der allererste Club in Deutschland, in dem House-Platten aufgelegt wurden. So entwickelte sich der Laden innerhalb kürzester Zeit zu einer echten Institution: Bis zu seiner Schließung im Jahr 1996 bezeichneten ihn viele als den besten Club der Republik. Einen großen Anteil an diesem Erfolg hat auch Klaus Stockhausen, der von 1983 an neun Jahre lang als Resident-DJ die musikalische Sprache des Front prägen sollte.

»Irgendwie landete ich auf einem Stern-Cover – da war ich gerade mal acht Wochen in der Stadt.«

Der neue Wohnort eröffnete ihm aber nicht nur musikalisch neue Möglichkeiten. „Durch den Club und den Umstand, dass Hamburg schon immer eine Medienstadt war, landete ich zusammen mit einem Freund irgendwie auf einem Stern-Cover – da war ich gerade mal acht Wochen in der Stadt“, erzählt er und meint damit Ausgabe Nr. 5 vom 26. Januar 1984. Zu sehen ist der junge nackte Klaus Stockhausen, der im Arm eines anderen nackten Mannes liegt. Untertitelt ist das Ganze mit dem Satz „Jetzt sind die Schwulen wieder dran“, der auf einen Artikel zur sogenannten Kießling-Affäre verweist. Im Dezember 1983 wurde der Viersternegeneral Günter Kießling unfreiwillig in den Ruhestand versetzt, nachdem Gerüchte aufgekommen waren, er sei homosexuell. Zwar wurde er einige Wochen später rehabilitiert, wiedereingestellt und Ende März 1984 mit dem Großen Zapfenstreich ein zweites Mal in den Ruhestand verabschiedet. Aber seine Reputation war ruiniert. So war das eben im Deutschland der Achtziger.

Für Klaus Stockhausen dagegen öffneten sich in diesem Jahrzehnt immer neue Türen. Als 1983 in Hamburg die Band Boytronic gegründet wurde, eine elektronische Synthiepop-Gruppe nach dem Vorbild von a-ha und Alphaville, wurde er gefragt, ob er sich nicht vorstellen könne, dort mitzuwirken. „Wenn man 23 ist und so ein Angebot bekommt, findet man das einfach lustig und sagt zu“, erzählt er. Bald war er mit zwei anderen Jungs Anfang 20 nicht nur im Radio zu hören, sondern absolvierte auch seine ersten TV-Auftritte.

»Jetzt war ich im Fernsehen und in der Bravo zu sehen, das hat meinen Eltern imponiert.«

Bei YouTube findet man noch heute einige filmische Belegexemplare aus jener Zeit, unter anderem den Mitschnitt eines Boytronic-Auftritts in der Musiksendung Formel Eins aus dem Jahr 1984. „Waren wir da nicht alle im Sailor-Look unterwegs?“, erinnert sich Stockhausen grinsend und erklärt: „Was man da sieht, waren meine ersten Stylingexperimente – und die waren aus der Not geboren.“ Monate vorher, so erzählt Stockhausen, habe man die Band bei einem Videodreh in London in Mönchskutten gesteckt. „Da wusste ich, dass ich was unternehmen musste. Ich fand dieses sogenannte Styling so furchtbar, dass ich es für das nächste Plattencover und die folgenden Auftritte selbst in die Hand genommen habe – jedenfalls so, dass man wenigstens den Hauch von einem Konzept hatte.“

Bereut habe Stockhausen seinen Abstecher in die Welt der Boybands nie, erklärt er. „Ganz im Gegenteil: Diese zweijährige Boytronic-Episode hat mir dazu verholfen, dass meine Eltern plötzlich wieder cool mit mir waren – immerhin war ich jetzt im Fernsehen und in der Bravo zu sehen, das hat ihnen imponiert.“

Die Engagements im Front und bei Boytronic waren für Klaus Stockhausen aber nicht die einzigen Türen, die ihm seine neue Wahlheimat Hamburg öffnete. „Es passierte damals sehr, sehr viel in meinem Leben. Plötzlich war ich in Fotostudios unterwegs oder habe für Modenschauen Musik gemacht.“ Als 1987 bei einer Show in Düsseldorf der Assistent eines Stylisten plötzlich erkrankte und ausfiel, sprang Stockhausen kurzerhand ein. „Dadurch kam ich drei Wochen später an meinen ersten Job als Stylist – für die BILD der Frau“, erzählt er.

»Mit Mugler und Gaultier konnte Anfang der Achtziger noch keiner so richtig was anfangen.«

Mit der Welt der Mode war Stockhausen bereits Anfang der Achtziger in Berührung gekommen. „Mein bester Freund Norbert war Handelsvertreter und damals der Erste, der in Deutschland die Marken Mugler und Gaultier vermarktete“, berichtet Stockhausen. „Irgendwann hat er mich als Verstärkung mit zur Münchener Modemesse genommen, wo wir von den ganzen Boutique-Besitzern regelrecht ausgelacht wurden – Mugler und Gaultier hatten gerade ihre zweite Saison hinter sich, damit konnte noch keiner so richtig was anfangen.“ Aber das war Stockhausen egal, die beruflichen Ausflüge mit Norbert machten ihm Spaß. Und so begleitete er ab diesem Zeitpunkt seinen besten Freund zweimal im Jahr zu den deutschen Modemessen. „Dadurch habe ich mir schon früh ein kleines Netzwerk aufgebaut“, erklärt er und fügt hinzu: „Fashion war bei mir also schon immer irgendwie mit drin.“

Da das Front nur mittwochs bis sonntags geöffnet hatte, gab es in Stockhausens Wochenkalender noch ein paar freie Stellen. So kam es, dass er montags und dienstags als freiberuflicher Stylist arbeitete, etwa für die Zeitschriften Tempo und Tango oder für den berühmten Fotograf Kay Degenhard, der etliche Titel für den Stern fotografierte. „Damals wusste ganz Hamburg, dass montags der Stern anrief, um sieben Covermotive gleichzeitig in Auftrag zu geben“, erzählt Stockhausen. „Zu jenen Zeiten gab es für solche Fotoproduktionen auch noch Kohle ohne Ende, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“

Bis Anfang der Neunziger verstand er seine beruflichen Ausflüge in die Mode eher als Nebenjob zu seinem musikalischen Engagement im Front. Doch als die Styling-Aufträge immer mehr wurden, musste sich Klaus Stockhausen irgendwann entscheiden. Er wählte die Mode, kehrte der Musik den Rücken und beendete 1992 seine neunjährige Residency im Front.

»Ich fand die Vorstellung schlimm, als DJ irgendwann zu einem Handlungsreisenden zu mutieren.«

Für diese Entscheidung, so sagt er heute, habe es im Wesentlichen zwei Gründe geben: „Zum einen fand ich die Vorstellung schlimm, als DJ irgendwann zu einem Handlungsreisenden zu mutieren. Wenn’s irgendwann nicht mehr so läuft, findet man sich in Trier oder Koblenz in irgendeiner Kaschemme wieder, wo keiner irgendwas begreift. Zum anderen hat mich die damalige Entwicklung der Musik gestört. Diese Waschmaschinen-Techno-Nummer, die Anfang der Neunziger überall in den Clubs zu hören war, war für mich wie ein Öffnen der Tore der guten Musik für die Vorstadt. Ich empfand das nie als wirklich schön oder richtungsweisend.“

Als 1994 die Macher der Zeitschrift Max mehrfach versuchten, Stockhausen zu ihrem Fashion Director zu machen, ließ er sich nach etlichen Monaten weichklopfen und nahm die erste Festanstellung seines Lebens an. „Anfangs fand ich das Magazin ziemlich doof, daher habe ich die Anfragen immer wieder abgelehnt und irgendwelche Jobs vorgeschoben“, erzählt er. „Aber irgendwann hat das als Ausrede nicht mehr funktioniert. Und dann habe ich gesagt: Ok, ich komme zu euch.“ Und er blieb – ganze zehn Jahre und sieben Monate lang.

»If you can do Naomi, you can do me.«

Mit diesem Engagement schlug Klaus Stockhausen nicht nur ein neues Kapitel auf, sondern auch ein äußerst glamouröses. Alleine in seiner Zeit bei Max kleidete er so ziemlich alles ein, was Rang und Namen hatte: von Musiker und Schauspieler Nick Cave über die deutsche Fußballnationalmannschaft bis zu den Supermodels Kate Moss, Claudia Schiffer, Linda Evangelista und Tyra Banks. Von 1995 bis 1997 arbeitete er zudem als persönlicher Stylist von Naomi Campbell, zwei Jahre später wurde Modeschöpfer John Galliano auf ihn aufmerksam. „If you can do Naomi, you can do me“, habe er zu ihm gesagt und ihn damit kurzerhand ebenfalls zu seinem persönlichen Stylisten erklärt, erinnert sich Stockhausen. „Freitags war ich bei ihm, montags war die erste Show.“ Auch diese Zusammenarbeit sollte über zehn Jahre Bestand haben.

Im Oktober 2004 wechselte Stockhausen als Fashion Director zu den Zeitschriften GQ und GQ Style. Als er dort Mitte 2007 eine Fotostrecke über Berliner Männer produzierte, lernte er Sven Marquardt kennen – und schätzen. Zu dem Ost-Berliner Fotografen und Türsteher des Berghain, jenem weltberühmten Technoclub, entwickelte sich über die Jahre nicht nur eine enge Freundschaft. Die beiden trafen sich auch immer wieder auf beruflicher Ebene und realisierten gemeinsame Projekte. „Ich habe Sven immer gerne gebucht“, lässt uns Stockhausen wissen und ergänzt: „Seine Portraits sind wirklich etwas Besonderes.“

Marquardt selbst sagt über Stockhausen: „In dieser Welt von Fashion und Lifestyle, in der immer jeder ausgetauscht wird in den nächst Jüngeren, ist Klaus inzwischen für seinen Beruf auch so etwas wie eine Legende und hat viele andere überdauert – durch Können, neugierig bleiben und Zeitgeist erfassen.“ Stockhausen fühlt sich von diesem Kompliment sehr geschmeichelt, relativiert aber etwas verlegen: „Ich glaube, ich bin vor allem deshalb immer noch da, weil ich mich selbst noch nie so wichtig genommen habe. Ich habe noch nie versucht, mich irgendwo in die erste Reihe zu schieben. In der ersten Reihe finde ich vielleicht mal kurzfristig statt, wenn ich gerade zwei tolle Cover hatte. Auf Dauer gehöre ich da aber nicht hin.“

»In der Mode funktioniert es nicht, wenn man nichts kann. Das ist wie im Handwerk.«

Dabei hat Stockhausen durchaus mit dem Gedanken gespielt, beruflich noch eine Schippe draufzulegen. „Es gab in meinem Leben mal eine Abfahrt, die ich hätte nehmen können“, erzählt er. „Das war zu der Zeit, als ich mit den Naomis und Gallianos dieser Welt gearbeitet habe. Da gab es tatsächlich einen Moment, in dem ich mit dem Gedanken gespielt habe, nochmal so ein Karriereprogramm zu starten. Aber was hätte das bedeutet? Ich hätte nach New York ziehen müssen, ich hätte vieles aufgeben müssen. Das wollte ich nicht.“

Stockhausen macht eine kurze Pause, dann fügt er hinzu: „In der Mode funktioniert es auch nicht, wenn man nichts kann. Das ist wie im Handwerk. Ich selbst bin nur ein einfacher Stylist, kein Designer und schon gar kein Modezar. Ich habe in meinem Leben unzählige Leute gesehen, die kurz modern waren und sich nach vorne geschoben haben, aber drei Jahre später hat man von ihnen nichts mehr gehört und gesehen.“

»Ich finde diese ganzen sogenannten Influencer overrated. Was genau können die? Was ist ihr Talent?«

Aus diesem Grund sieht Stockhausen auch Social-Media-Plattformen wie Instagram eher kritisch. „Das ist für mich alles eine Suppe“, gesteht er und erklärt: „Die Jungs sehen alle gleich aus, die Mädels sehen alle gleich aus, es geht einfach nicht weiter. Ich finde auch diese ganzen sogenannten Influencer overrated. Was genau können die? Was ist ihr Talent?“

Mit scheinbar perfekt aussehenden Menschen, wie man sie zu Abertausenden auf Instagram findet, kann Stockhausen auch bei seiner Arbeit als Stylist wenig anfangen. „Am schlimmsten sind diese Tchibo-Modelle, die genau wissen, wie gut sie aussehen“, befindet er und verrät uns: „Die haben maximal zwei Gesichtsausdrücke drauf, von denen sie wissen, dass sie damit nichts falsch machen können. Etwas anderes bieten sie nicht an – und sie lassen sich auch auf nichts anderes ein.“ So etwas finde er extrem langweilig, sagt der Stylist. „Und langweilig mag ich nicht – es sei denn, die Visage ist so geil, dass man sich sicher sein kann, dass das Portrait der Hammer wird.“

»Wir machen gerade viele Rollen rückwärts, sei es politisch oder gesellschaftlich.«

Viel spannender, so erklärt er uns, sei es doch, wenn an einem Menschen mal „was anders und unbekannt“ sei. Solche Typen seien aber immer schwieriger zu finden, vor allem innerhalb der jungen Generation. „Schau dir die Boys und Girls von heute doch an“, erklärt er. „Die Jungs sehen alle superschwul aus. Manche von ihnen haben so akkurat die Augenbrauen gezupft, dass man das Gefühl hat, sie wären abends als Marlene Dietrich unterwegs. Und die Mädels wirken alle wie Kardashian-Klons, die dir für 2,50 Euro alles machen. Wo, bitte, ist das denn schön?“

Ohnehin hat Stockhausen das Gefühl, dass viele junge Menschen heute wieder das einreißen, was die Alten über Jahrzehnte emanzipatorisch aufgebaut haben – etwa, indem sie durch ihre körperfixierte Selbstdarstellung auf Instagram in alte Rollenbilder zurückfallen, die man längst überwunden glaubte. „Auf mich wirkt es so, als würden wir gerade überhaupt viele Rollen rückwärts machen, sei es politisch oder gesellschaftlich“, sagt er und ergänzt: „Momentan erlebe ich die jungen Leute entweder als superkonservativ und hyperfokussiert, da kann es mit dem Bausparvertrag und der Eigentumswohnung gar nicht schnell genug gehen. Oder sie leben in einer Bubble zwischen Love Island, den Geissens und dem Sommerhaus der Stars – eine unechte Low-Level-Welt, in der scheinbar jeder alles kann. Und am Ende doch nichts richtig.“

Dann gesteht er, dass er ab und zu selbst ganz gerne vor dem sogenannten Unterschichtenfernsehen versackt: „Wenn ich nicht arbeite, hänge ich zuhause auch nur auf der Couch rum. Ich bin eigentlich total asozial.“

»Mein Bauchgefühl war immer auf Spaß aus. Daher hatte ich auch noch nie einen wirklichen Lebensplan.«

Der Gedanke an einen Bausparvertrag oder eine Eigentumswohnung hat für Stockhausen selbst nie eine Rolle gespielt, vor allem nicht in jungen Jahren. „Daran nicht zu denken, diesen Fehler habe ich leider gemacht“, sagt er voller Ironie und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. „Dieses Mein Auto, mein Haus, mein Boot-Feeling gibt es bei mir auch 30 Jahre später noch nicht. Ich habe so noch nie funktioniert, mein Bauchgefühl war immer auf Spaß aus. Daher hatte ich auch noch nie einen wirklichen Lebensplan. Irgendwie lief bei mir ja immer alles.“

Und wie es lief. Im Januar 2012 wechselte Stockhausen als Fashion Director von der GQ zum deutschen Ableger des berühmten Interview Magazin, das 1969 von Pop-Art-Künstler Andy Warhol und Journalist John Wilcock gegründet wurde. Bei Interview blieb er gut drei Jahre, bevor er schließlich im Mai 2015 Fashion Director des ehrwürdigen ZEITmagazin wurde.

Seit fast fünf Jahren nun prägt er das Heft mit seiner ganz eigenen Handschrift. Beim ZEITmagazin hat Stockhausen das Glück und Privileg, immer wieder genau die Persönlichkeiten einkleiden zu dürfen, die er selbst als das Gegenteil von langweilig empfindet. Im September 2019 beispielsweise übernahm er das Styling der 98-jährigen Iris Apfel, einer ehemalige Textilunternehmerin aus New York, die trotz oder gerade wegen ihres hohen Alters noch als Model arbeitet.

»Ich habe heute das Gefühl, dass die sogenannte Jugend die Alten gar nicht mehr verdrängt, sondern ihnen gerne auch mal zuhört.«

Auch wenn die Fashion-Industrie nach ewiger Jugend giert, haben für Klaus Stockhausen ältere Semester à la Iris Apfel einen berechtigten und wichtigen Platz in der Welt der Mode. „Ich habe heute das Gefühl,“ sagt er, „dass die sogenannte Jugend die Alten gar nicht mehr verdrängt, sondern ihnen gerne auch mal zuhört – weil sie merkt, dass die Generation vor ihnen vielleicht auch etwas zu sagen hat, was nicht immer sofort Quatsch ist.“

Aber vor allem hinter der Kamera, berichtet Stockhausen, stelle er immer wieder fest, dass den Jungen die Erfahrung der Älteren fehlt. „Wenn ich zu meinen Max-Zeiten mit jungen Leuten gearbeitet habe, hatten die genug Zeit, um sich auszuprobieren. Waren nach dem ersten Shooting-Tag die Fotos scheiße, hat man am nächsten Tag eben nochmal ein Set geschossen. Damals war auch für so etwas noch Geld da.“ Und er ergänzt: „Heute habe ich Jungfotografen, die zwar ganz toll sind, mit denen man aber zehn Fotos in acht Stunden machen muss. Oft sind sie schon nach dem dritten Foto mit den Nerven fertig und brauchen eine Stunde Ruhe, um sich zu sammeln. Und um darüber nachzudenken, ob das jetzt alles so wahnsinnig innovativ ist, was sie tun. Die sind einfach noch nicht soweit. Es geht heute alles zu schnell.“

»Es gibt zu viel Mode. Es gibt zu viele Shows. Es gibt zu viel Waste.«

Was er an der jungen Generation allerdings bewundere, sagt Stockhausen, sei ihr Mut zum Protest, was in gewisser Weise auch das Kaufverhalten der Menschen positiv beeinflusse: „Dieses Wachrütteln der Fridays for Future-Kids sorgt zumindest im Ansatz dafür, dass das Bewusstsein der Leute für das, was sie kaufen und tragen, ein wenig geschärft wird.“ Und er fügt hinzu: „Es gibt ohnehin zu viel Mode. Es gibt zu viele Shows. Es gibt zu viel Waste. Man weiß gar nicht, wohin man schauen soll. So langsam macht das alles keinen Sinn mehr. Letzte Woche zum Beispiel war ich zu einem Diner eingeladen, bei dem eine neue Kollaboration zweier Fashion-Labels gefeiert wurde. Im Ernst: noch eine?!“

Von Karl Lagerfeld stammt der Satz: „Mode ist der kürzeste Reflektor des Zeitgeists, und der ist ein verdammt launischer Geselle.“ Doch allein an der Aufgabe, so etwas wie Zeitgeist überhaupt zu erfassen, beißen sich seit jeher unzählige, oft selbsternannte Experten die Zähne aus. Unternehmen investieren Unsummen in Umfragen und Analysen, um zu verstehen, was die Gesellschaft gerade umtreibt, welchen Trends sie folgt und welches Werteverständnis dem Ganzen zugrunde liegt. Folgt man dem Urteil Sven Marquardts, dem Ostberliner Fotografen, der in seiner Person selbst ein bestimmtes Lebensgefühl unserer Zeit verdichtet, gehört Stockhausen zu den wenigen Menschen auf der Welt, die tatsächlich in der Lage sind, den Zeitgeist zu erfassen. Und dass ganz ohne Umfragen und Analysen, sondern allein mit seinem Gefühl, seinem Talent und einer enormen Neugier auf die Welt.

»Ich habe kein Problem damit, etwas immer wieder hemmungslos zu wiederholen.«

Dabei geht es Klaus Stockhausen bei seinen Stylings nicht darum, das Rad neu zu erfinden. „Bei mir ist es nie die Suche nach dem absolut Neuen oder dem nächsten großen Ding“, erklärt er. „Ich will eher das, was es gerade so gibt, mit dem verbinden, was es schon mal gab.“ In seinem Fundus, so erzählt er uns, befänden sich daher etliche Kleidungsstücke, die er schon seit langem mit sich herumschleppe und die sich über die Jahre in der Mode etabliert hätten. „Diese Sachen setze ich immer wieder ein, angefangen bei irgendwelchen Springerstiefeln oder Bomberjacken, die ja vor 30 Jahren noch nicht schön waren, bis zu irgendeinem Blumenkleid und Gummistiefeln.“ Sein Ziel sei es immer, so sagt er, mit etwas zu brechen und dabei etwas Neues einzubringen, von dem er denke, dass es richtig sei. „Im Grunde genommen ist das ein ständiges Samplen“, sagt er und fügt lächelnd hinzu: „Ich habe auch kein Problem damit, etwas immer wieder hemmungslos zu wiederholen.“

In unserer Alltagssprache wird der Begriff ästhetisch oft als Synonym für schön benutzt. Dabei steht er per Definition ganz allgemein für etwas, das unsere Sinne berührt: Schönes und Hässliches, Angenehmes und Unangenehmes. Für Stockhausen ist in seiner Arbeit vor allem das Berührende von Relevanz. „Wer wovon letztendlich berührt wird, ist eine hochindividuelle Angelegenheit“, erklärt er. „Ich für meinen Teil versuche immer, zusammen mit den Fotografen etwas zu entwickeln, was das Ganze emotional nochmal einen Schritt weiterträgt – etwa in Form einer verwirrten Ästhetik. Oder einer träumerischen, einer kaputten, einer martialischen oder was auch immer. Ziel ist doch, dass der Betrachter ein zweites Mal hinschaut, weil er einen Look vielleicht nicht sofort verstanden hat oder dieser ihn besonders ergreift. Das funktioniert zwar nicht immer, dennoch ist es bei jedem Job mein Anspruch.“

»Es würde mich nicht wundern, wenn plötzlich etwas völlig Neues in meinem Leben passieren würde.«

Die Menschen auf ganz unterschiedliche Art zu berühren, das gelang Klaus Stockhausen in seinem Leben schon immer, egal in welcher Rolle, egal an welchem Ort, egal in welcher künstlerischen Disziplin. Spricht man ihn auf seine Zukunftspläne an, könnte er sich sogar vorstellen, nach Musik und Mode nochmal ein ganz anderes Kapitel aufzuschlagen. „Allerdings müsste diese neue Tätigkeit zumindest ein klein wenig mit meinen Talenten zu tun haben“, wirft er ein, „und das sind nun mal visuelle und musikalische. Momentan wüsste ich nicht, was das sein könnte. Aber es würde mich auch nicht wundern, wenn plötzlich etwas völlig Neues in meinem Leben passieren würde. Wahrscheinlich müsste ich da nur irgendwie reinschlittern, wie sonst auch. Aber je älter man wird, desto schwieriger wird das.“

Während Stockhausen diese Worte spricht, macht sich ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht breit. Die grünblauen Augen stechen immer noch so neugierig und spitzbübisch hervor, als wäre ihr Wirt ein ungeduldiger Heranwachsender, der gerade darüber nachdenkt, wie er am besten die Welt erobern könnte. Als hätte er das nicht längst schon getan.