Interview — Betterov

»Ich gebe mir große Mühe, unkonventionelle Musik zu machen«

Mit seinem Debütalbum »Olympia« hat Betterov vor Kurzem eine Platte vorgestellt, die einem gleich aus mehreren Gründen ans Herz wachsen kann. Einer davon ist die Intimität, Dringlichkeit und Eloquenz der Texte, in denen der Singer-Songwriter etwa das Wort Olympia als Metapher für den absoluten Tiefpunkt wählt. Wenige Tage nach Veröffentlichung des Albums haben wir Betterov zum Interview getroffen. Ein Gespräch über Heimat, Ausgrenzung, Bruce Springsteen und 47 Sekunden, die das Leben verändern können. Oder eben nicht.

25. November 2022 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Es gibt wirklich vieles, was einen Menschen im Laufe seines Lebens prägt: die Leute, unter denen er aufwächst; die Orte, an denen er lebt; die Sehnsüchte, die ihn befallen; und manchmal auch ganz banale Widrigkeiten – wie etwa ein kaputtes Autoradio.

So jedenfalls war es im jungen Leben des Manuel Bittorf, den man im musikalischen Kosmos eher unter dem Namen Betterov kennt. Manuels Vater, der schon immer ein großer Bruce-Springsteen-Fan war, hörte in seinem Auto auf Kassette am liebsten dessen „Greatest Hits“-Album von 1995. Doch irgendwann streikte der Auswurf des Radios und die Kassette steckte fest. Von da an gab es in Papas Wagen nur noch zwei akustische Optionen: entweder keine Musik oder „The Boss“ in Endlosschleife.

Ob Manuel ohne die größten Hits von Bruce Springsteen trotzdem Musiker geworden wäre, darüber lässt sich spekulieren. Immerhin hat er ihn maßgeblich inspiriert – allerdings nicht zu seinem Künstlernamen Betterov. Der geht zurück auf eine Nebenfigur in der „Olsenbande“, einer 14-teiligen Filmreihe dänischer Gaunerkomödien, die vor allem im Osten Deutschlands sehr beliebt war.

Aufgewachsen ist der heute 27-Jährige in einem beschaulichen Dorf in Thüringen – mit einer Population, die eher drei- als vierstellig ist. In einem Interview mit den Kolleg:innen von Diffus erzählte er vor nicht allzu langer Zeit, er habe als Kind und Jugendlicher immer das Gefühl gehabt, ein bisschen anders zu sein. Nachvollziehbar also, dass es ihn mit 17 immer öfter zum Landestheater in Eisenach zog, auch wenn die Fahrt dorthin mit dem ÖPNV immer eine halbe Weltreise war. An der Eisenacher Bühne, wo er bald mitarbeiten und sogar ein wenig Musik beitragen durfte, entdeckte er nicht nur eine völlig neue Welt, sondern auch einen gänzlich anderen Menschenschlag als den, den er bis dahin kannte.

Ende 2015, wenige Monate vor seinem 21. Geburtstag, verschlug es Manuel nach Berlin, wo er sich für ein Schauspielstudium an der Universität der Künste bewarb und angenommen wurde. In derselben Zeit fing er auch an, aktiv Musik zu machen und eigene Songs zu schreiben.

Bis zu seinem allerersten Album sollte es aber noch eine ganze Weile dauern, genauer gesagt bis zum 14. Oktober 2022. Da erschien mit „Olympia“ eine Platte, die einem gleich aus mehreren Gründen ans Herz wachsen kann. Da wäre etwa der stark von der Gitarre geprägte und sich oft hymnisch emporschwingende Sound, der eine Präsenz hat wie eine zweite Gesangsstimme. Oder die ungefilterte Nahbarkeit und Authentizität des Arrangements, das einen ziemlich schnell wissen lässt, was es von digital-modernistischem Schnickschnack hält. Oder überhaupt die Intimität, Dringlichkeit und Eloquenz der Texte, bei denen man nicht weiß, ob sie mehr über Betterov verraten oder über einen selbst.

Wenige Tage nach der Veröffentlichung seines neuen Albums haben wir Betterov zu einem ausführlichen Interview getroffen.

»Das, was in dem Hut landete, haben meine Band und ich gleich wieder in der Kneipe gelassen.«

MYP Magazine:
Du hast vor gut sieben Jahren angefangen, Musik zu machen. Gibt es einen bestimmten Grund, warum Du dir mit der Veröffentlichung Deines Debütalbums so viel Zeit gelassen hast?

Betterov:
So wahnsinnig viel Zeit habe ich mir nicht gelassen – der Weg dahin war einfach recht lang. „Vor sieben Jahren angefangen“ bedeutet in meinem Fall, dass ich mich damals zu Hause ans Klavier gesetzt und mir erst mal einige grundsätzliche Fragen gestellt habe: Was interessiert mich? Was finde ich schön? Was könnte überhaupt Musik sein, die ich machen will?
Bis zu meinem ersten richtigen Auftritt hat es ganze zwei Jahre gedauert. Das Konzert fand damals im Hangar 49 in Berlin statt, einem Club an der Spree. Ich weiß gar nicht, ob es den heute noch gibt. Danach habe ich immer in Kneipen gespielt, jedes Mal vor gefühlt fünf Leuten. Im Anschluss ging dann ein Hut rum – und das, was in dem Hut landete, haben meine Band und ich gleich wieder in der Kneipe gelassen. So ging das eine ganze Weile.
Erst als ich 2019 durch eine Förderung der Popakademie meine erste EP landen konnte, kam ich so langsam in die Situation, dass ich hauptberuflich Musik machen und davon leben konnte. Und von dem Zeitpunkt an gerechnet sind drei Jahre bis zum ersten Album gar nicht so viel.

»Olympia war für mich das ultimative Bild für eine Phase des persönlichen Tiefpunkts.«

MYP Magazine:
Warum hast Du dich für den Song „Olympia“ als Namensgeber für Dein Debütalbum entschieden?

Betterov:
Das Album dreht sich vor allem darum, wie man sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt – aber es geht auch ganz allgemein um sehr schwere Zeiten, die man durchlebt. Der Song „Olympia“ beschreibt den Tiefpunkt einer solchen schlechten Phase, in der man nur noch zu Hause liegt, nichts mehr machen kann und in so einer Youtube-Bubble festhängt, in der man sich im Autoplay-Modus unzählige Videos reinzieht und dabei wahnsinnig gelähmt fühlt. Irgendwann landet man bei Sport-Videos, in denen man dabei zusehen kann, wie jemand in 47 Sekunden 100 Meter schwimmt, Sportgeschichte schreibt und damit sein ganzes Leben verändert – während man selbst seit vier Stunden nichts anderes macht, als regungslos auf den Bildschirm zu starren und nichts mehr auf die Reihe bekommt.

MYP Magazine:
Was für eine Diskrepanz!

Betterov:
Exakt. Diese Diskrepanz ist für mich das ultimative Bild für eine Phase des persönlichen Tiefpunkts und ein Ausdruck dessen, wie sich die ganze Welt in dieser Zeit für mich anfühlte. Das Thema Sport in Gestalt der olympischen Spiele erschien mir als die perfekte Übersetzung dafür. Olympia kann einen riesigen Triumpf bedeuten. Es kann einen Menschen mit Glück überschütten. Olympia kann aber auch wahnsinnig wehtun und einen niederreißen – je nach persönlicher Perspektive. In diesem Thema steckt für mich also eine ganze Menge drin. Und es ist eine passende Allegorie auf das, was ich in den Songs erzähle. Daher trägt auch das Album den Namen „Olympia“. Die höchste Spitze als Metapher für den absoluten Tiefpunkt.

»Wenn ein Mensch aus seinem normalen Leben gerissen und in den Krieg gezwungen wird, ist das ein absolut furchtbares Schicksal.«

MYP Magazine:
Im Song „Dussmann“ geht es unter anderem um den deutschen Mittelstreckenläufer Rudolf Harbig, der bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin bei der 4-mal-400-Meter-Staffel die Bronzemedaille gewann. Nach seiner Einberufung zur Wehrmacht in den 1940er Jahren konnte er seine Karriere als Spitzensportler nicht mehr weiterverfolgen. Dieses Schicksal ist gerade heute wieder aktueller denn je, wenn man etwa auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine schaut. Welche Gefühle löst es in Dir aus, wenn es zu einem Song von Dir plötzlich eine inhaltliche Parallele gibt, von der Du noch gar nichts wissen konntest, als Du ihn geschrieben hast?

Betterov:
Ich muss gestehen, dass ich diese explizite Parallele noch nicht gezogen habe. Daher ist es gerade auch etwas schwer für mich, darauf eine Antwort zu finden. Grundsätzlich beschäftigt es mich aber sehr, was in der Ukraine passiert. Und wenn ein Mensch aus seinem normalen Leben gerissen und in den Krieg gezwungen wird, ist das ein absolut furchtbares Schicksal. Ich wünschte, das alles würde nicht passieren.

»Ich bin mir sicher, dass meine Musik anders klingen würde, wenn ich irgendwo anders leben würde.«

MYP Magazine:
Ende 2015 bist Du nach Berlin gezogen. Da war der Song „Ich will nicht nach Berlin“ von Kraftklub schon drei Jahre draußen. Hat Dich das nicht abgeschreckt?

Betterov: (lacht)
Wirklich guter Song! Ich hab’s aber trotzdem gewagt.

MYP Magazine:
Was hat dieser neue Lebensmittelpunkt seitdem mit Dir und Deiner Musik gemacht?

Betterov:
In erster Linie hat mir Berlin sehr viele neue Möglichkeiten eröffnet. Ich konnte hier mit meiner Musik vor Menschen auftreten, erste Bühnenerfahrungen sammeln und viele, viele Konzerte von anderen Künstler:innen anschauen. Ich habe hier Schauspiel studiert und wahnsinnig viel erlebt. Alles in allem habe ich Berlin unendlich viel zu verdanken und bin immer noch sehr gerne hier. Ich finde ohnehin, dass der Ort, an dem man lebt, sehr die Musik beeinflusst, die man schreibt. Ich bin mir sicher, dass meine Musik anders klingen würde, wenn ich irgendwo anders leben würde – zum Beispiel da, wo ich herkomme.

»Leute, die sich auf eine Bühne stellen, sind immer in einer gewissen Weise extrovertiert.«

MYP Magazine:
Welche Rolle hat das Schauspielstudium bei Deiner Entwicklung als Musiker gespielt? Hat es Dich zu einer extrovertierteren Person gemacht und damit für die Bühne gewappnet?

Betterov:
Leute, die sich auf eine Bühne stellen, sind immer in einer gewissen Weise extrovertiert. Und dazu würde ich auch mich zählen. Inwiefern das durch mein Studium zusätzlich beeinflusst wurde, weiß ich nicht. Ich habe dort in erster Linie sehr viel gelernt. Natürlich entwickelt man sich im Laufe seines Lebens immer weiter, aber ich glaube, ich bin in Bezug auf meine Persönlichkeit schon noch derselbe geblieben.

»Mir ist klargeworden, dass Heimat ein Recht sein sollte, aber leider ein Privileg ist.«

MYP Magazine:
In Deinem Song „Das Tor geht auf“ aus dem Jahr 2020 singst Du: Hier ist kein Platz für mich, hier ist mein Zuhause. Auch wenn das Lied nicht Teil Deines neuen Albums ist, setzt Du dich auch auf „Olympia“ immer wieder mit der Suche nach Zugehörigkeit und Identität auseinander. Welche Bedeutung hat der Begriff Heimat für Dich?

Betterov:
Für mich persönlich stand das Wort Heimat jahrelang für den Ort, an dem ich geboren wurde, aufgewachsen bin und die meiste Zeit meines Lebens verbracht habe. Das ist noch heute so, würde ich sagen, obwohl Berlin mittlerweile auch zu meiner Heimat geworden ist.
Im übergeordneten Sinne ist Heimat für mich allerdings ein sehr schwieriger Begriff, nicht zuletzt wegen seiner Herkunft. Meines Wissens tauchte er zum ersten Mal im 19. Jahrhundert auf, als Deutschland noch in viele Kleinstaaten zerklüftet war und man versuchte, diese zu einen. Gerade war das Rennen um die Vorherrschaft in der Welt gestartet und man stellte fest, dass man mit den anderen Staaten nur mithalten konnte, wenn man sich als Volk unter einer gemeinsamen Identität versammelte – und die anderen als gemeinsamen Feind betrachtete. Das gelang unter anderem über den Heimat-Begriff, daher fand ich persönlich das Wort immer etwas problematisch. Mir ist zum Beispiel klargeworden, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, eine Heimat zu haben; dass Heimat ein Recht sein sollte, aber leider ein Privileg ist.

»Ich hatte immer das Gefühl, dass die Gesellschaft etwas ganz Bestimmtes von mir will, dem ich nicht entsprechen kann.«

MYP Magazine:
In einem Interview mit den Kolleg:innen von Diffus sagst Du: „Ich habe immer schon so ein bisschen das Gefühl gehabt, dass ich anders bin.“ Darum geht es unter anderem auch in Deinem Song „Die Leute und ich“. Kannst Du dieses Gefühl des Andersseins konkreter beschreiben?

Betterov:
Ich glaube, dass jede:r Künstler:in irgendwann im Leben eine Form von Ausgrenzung erfährt. Dazu kann man so gut wie jede Biografie durchblättern, von Joni Mitchell über Bob Dylan und Bruce Springsteen bis zu Frida Kahlo. Der Grad der Ausgrenzung war bei mir zwar nicht so stark ausgeprägt wie bei anderen. Trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass mich die Dinge, für die ich mich interessiere, ein bisschen aus der Gesellschaft hinaustreiben. Und dass die Gesellschaft etwas ganz Bestimmtes von mir will, dem ich nicht entsprechen kann – etwa, was feste und geordnete Strukturen angeht.

Aus diesem Grund kommen ja auch so viele Leute nach Berlin, weil es hier diese Strukturen nicht gibt, zumindest nicht in der engen Form. In Berlin kann man sich sein Leben so bauen, dass man sich freier entfalten kann als anderswo und dabei nicht zu stark unter Beobachtung ist. Das macht Berlin auch so schön: dass diese ganzen Menschen, die woanders nicht reinpassen, hierherkommen und den Kern der Stadt maßgeblich prägen.
Um all das geht es auch in „Die Leute und ich“. Da gibt es eine bestimmte Gesellschaft mit bestimmten Regeln, in die man selbst einfach nicht reinpassen will. Doch um irgendwie existieren zu können, muss man versuchen mitzuschwimmen und damit klarzukommen. Das betrifft übrigens nicht nur Künstler:innen, man kennt das auch aus vielen anderen Kontexten.

»Das meiste Leben auf dem Land spielt sich draußen in der Natur ab.«

MYP Magazine:
Im Song „Böller aus Polen“ heißt es im Refrain: Von allen Orten, die es gibt auf der Welt / Bin ich ausgerechnet hier gebor’n. Verfolgt Dich die Frage, was aus Dir geworden wäre, wenn Du an einem anderen Ort aufgewachsen wärst? Empfindest Du in Bezug auf Deine Herkunft eine gewisse Bitterkeit?

Betterov:
Nein, gar nicht. „Böller aus Polen“ ist nicht autobiografisch, ich meine damit nicht meinen Heimatort. Die ganze Szenerie ist eher fiktiv. Es geht in dem Song darum, dass man selbst ein großes Minderwertigkeitsgefühl mit sich schleppt, aber dann eine andere Person trifft, die einem vom Gegenteil überzeugt und ein bisschen aus dem ganzen Schlamassel befreit.

MYP Magazine:
Welche positiven Erinnerungen hast Du an Dein Aufwachsen im ländlichen Thüringen? Welche Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale an Dir verbindest Du mit Deiner Heimat?

Betterov:
Bitte nicht falsch verstehen: Ich bin total dankbar, dort aufgewachsen zu sein. Meine Kindheit und Jugend waren superschön. Und das Aufwachsen dort hat mich auf jeden Fall auch klüger gemacht – auch, weil ich von klein auf einen großen Naturbezug hatte. Das meiste Leben auf dem Land spielt sich ohnehin draußen in der Natur ab. Zu dieser besonderen Umgebung hat man immer eine sehr starke Verbindung. Daher war auch meine erste Wohnung in Berlin direkt am Grunewald – weil das für mich eine gute Hybridzone zwischen Stadt und Natur war.

»Es gibt in meiner Heimat viele Menschen, die sehr glücklich sind.«

MYP Magazine:
Seine Heimat zu verlassen und beispielsweise vom Land in die große Stadt zu ziehen, ist für viele Menschen mit starken Emotionen verbunden. Während die einen eine große Befreiung und Erleichterung verspüren, empfinden die anderen Trauer oder sogar Scham, weil sie das Gefühl haben, enge Freunde oder Familienmitglieder zurückgelassen zu haben. Welche Reaktionen erhältst Du auf Deine Musik?

Betterov:
Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele Menschen eine emotionale Verbindung zu meinen Liedern haben. Das merke ich etwa, wenn ich nach Konzerten am Merch-Stand stehe und dort mit Leuten ins Gespräch komme, die davon erzählen, wie sehr sie sich mit ihren persönlichen Themen und Biografien in meinen Songs wiederfinden.

MYP Magazine:
Viele von denen, die aus der Provinz nach Berlin geflohen sind, leben nach dem Motto „Großstadt hui, Dorf pfui“. Bist Du als Wahlberliner auch ein bisschen anfällig für solche Sprüche?

Betterov:
Nein, überhaupt nicht. Ich persönlich habe einfach das Gefühl, dass die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin und die noch auf dem Land leben, etwas anderes vom Leben wollten als ich, und das meine ich nicht wertend. Da ging es etwa um das Ziel, eine Familie zu gründen, ein Haus zu bauen oder einen Garten zu haben. Die meisten von ihnen haben das alles auch schon erreicht – im Gegensatz zu mir. Außerdem erlebe ich die Leute, die da nach wie vor dort leben, nicht als unzufrieden. Es gibt in meiner Heimat viele Menschen, die sehr glücklich sind.

»Springsteen war für mich ein großer Erweckungsmoment.«

MYP Magazine:
Du bist unter anderem mit der Musik von Bruce Springsteen aufgewachsen, den Du sehr verehrst. Damit hast Du etwas mit Deinem Kollegen Sam Fender gemeinsam, der uns mal im Interview verraten hat: „Wenn Bruce Springsteen über seine eigene Stadt singt, klingt es für mich, als würde er über meine sprechen.“ Ging es Dir da als Jugendlicher ähnlich?

Betterov:
Absolut! Ich wusste sofort, was er in seinen Texten meint und woher das alles kommt. Die sozio-ökonomischen Strukturen, in denen er aufgewachsen ist, scheinen denen in meiner Heimat sehr ähnlich zu sein – etwa in Bezug auf die eine große Industrie, die die ganze Region ernährt. Bei ihm war das die Autoindustrie, bei mir der Bergbau. Zwar geht es den Leuten bei uns noch verhältnismäßig gut, aber wenn diese Industrie irgendwann mal platt gemacht wird oder nicht mehr funktioniert, erleben wir garantiert Zustände, wie sie Hendrik Bolz in seinem Buch „Nullerjahre“ beschreibt. Da bin ich mir sehr, sehr sicher.

MYP Magazine:
Deine Musik ist stark geprägt von der Gitarre, die oft sehr hymnisch klingt und eine Präsenz wie eine zweite Stimme hat. Hast Du von Bruce Springsteen gelernt, dass der Sound und die Lyrics eine gewisse Dringlichkeit brauchen, wenn man Musik machen will, die bleibt?

Betterov:
Ja, habe ich. Überhaupt war Springsteen für mich ein großer Erweckungsmoment. Wenn man sich beispielsweise „The River“ anhört, ist das eigentlich eine Kurzgeschichte, die fast nichts mehr mit einem klassischen Song zu tun hat. Irre, was da thematisch alles verhandelt wird! Aber trotz der riesigen Geschichte, die er da erzählt, gibt es da diesen eingängigen, wiederkehrenden Chorus, der die Story in eine Songstruktur überführt. So etwas finde ich extrem beeindruckend. Und es hat mich ganz sicher in der Art und Weise beeinflusst, wie meine Musik entsteht.

»Ich will niemanden langweilen.«

MYP Magazine:
Dein Sound klingt erfreulich authentisch, nahbar und ungefiltert, Du verzichtest bewusst auf digitalen Schnickschnack aller Art. Damit wirkt er wie ein Gegenentwurf zum mittlerweile inflationären Einsatz von Autotunes und Soundkonserven…

Betterov:
Ich gebe mir große Mühe, unkonventionelle Musik zu machen, und klopfe jeden Skizze fünfmal danach ab, ob es die Idee schon in irgendeiner Form gibt oder ob meinen musikalische Ansatz überhaupt einen ganzen Song wert ist. Außerdem versuche ich, mit meiner Musik etwas zu erzählen, was noch nicht erzählt wurde – ich will ja niemanden langweilen. Ich schätze, das kommt auch ein bisschen von meinem Studium. An der Schauspielschule wird man darauf getrimmt, Figuren zu entwerfen, die keine Stereotype sind und die man nicht schon achthundert Mal gesehen hat. Charaktere, die in der Lage sind, Faust, Mephisto oder Hamlet so darzustellen, dass es etwas Neues ist. Das ist ein Anspruch, den ich auch an meine Musik habe. Das gelingt mir manchmal mehr und manchmal weniger.

»Diese zwei Songs, das verspreche ich, sind so auf der Zwölf!«

MYP Magazine:
Wenn dieses Interview erscheint, ist der goldene Oktober längst in den schmuddeligen November übergegangen. Welche Musik begleitet Dich an einem schwierigen Novembertag? Vielleicht „Nebraska“ von Bruce Springsteen, das Lieblingsalbum von Sam Fender?

Betterov:
Ich habe so bestimmte Herbstlieder – also Songs, die ich nur im Herbst höre und die für mich ganz und gar auf diese Jahreszeit gemünzt sind. Das ist erstens „We Fell In Love In October“ von Girl In Red, was fast schon ein bisschen vorhersehbar ist. Und zweitens „Here I Dreamt I Was An Architect“ von The Decemberists. Ich habe nicht viele Musikempfehlungen für den Herbst, aber diese zwei Songs, das verspreche ich, sind so auf der Zwölf! Das sind so krasse Herbst-Songs, dass ich sie im Sommer nicht hören kann. Sollte mir einer der beiden Tracks mal zufällig zwischen die Ohren kommen, bevor der Herbst begonnen hat, klicke ich ihn sofort weg und weiß: Deine Zeit wird kommen, aber nicht jetzt.