Interview — Ronny Krieger

Das nächste große Ding?

Die Onlineplattform Patreon will Kreativen aller Art ein faires Einkommen ermöglichen. Das klingt vor allem für Musikerinnen und Musiker verlockend, lassen sich doch auf YouTube, Spotify & Co. kaum noch nennenswerte Einnahmen erzielen. Europa-Chef Ronny Krieger erklärt uns im Interview, in welches Vakuum Patreon stößt, warum man auf der Plattform auch scheitern kann und wieso er nach wie vor an Gerechtigkeit im Musikbusiness glaubt.

20. Mai 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Als Jack Conte, Singer-Songwriter und Filmemacher aus San Francisco, Anfang 2009 auf seine YouTube-Statistiken schaute, traute er seinen Augen nicht. Über eine Million Views hatten seine Musikvideos im vergangenen Jahr erzielt – bei Werbeeinnahmen von gerade einmal 166 Dollar. „Was für ein System haben wir erschaffen, in dem solche Klickzahlen nicht ausreichen, damit eine einzelne Person davon leben kann?“, fragte er gut acht Jahre später auf der berühmten TED-Konferenz in Monterey, Kalifornien. Zur Veranschaulichung präsentierte er das Foto einer ausverkauften Basketballhalle. „Das sind 20.000 Leute“, sagte er und fügte fassungslos hinzu: „In welcher Welt ist das nicht genug?“

Szenenwechsel. Wir befinden uns auf dem hippen RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain. Dabei ist der Numerus nicht ganz richtig, „wir“ bezieht sich lediglich auf unseren Fotografen Steven Lüdtke. Dem Gebot der Stunde folgend, ist er alleine unterwegs und richtet sich nach den obligatorischen Abstandsregeln. Am „House of Music“ ist er mit Ronny Krieger verabredet, dem neuen General Manager für das Europa-Geschäft von Patreon – ein Unternehmen, das 2013 von eben jenem Jack Conte gegründet wurde. Und zwar als Konsequenz aus den beschriebenen Erlebnissen.

Die Idee ist simpel: Patreon bietet Kreativen aller Art eine Plattform, auf der sie sich von ihrer Fangemeinde monatlich sponsern lassen können. Dieses System, auch „Social Payment“ genannt, eröffnet ihnen die Möglichkeit, sich eine zusätzliche Einkommensquelle aufzubauen und damit ein Stück weit unabhängiger von Streaming- und Klick-Einnahmen zu werden – oder von den existenzsichernden Erlösen aus Live-Auftritten, die momentan auf der ganzen Welt bis auf Weiteres untersagt sind. Ein Vakuum also, das es zu füllen gilt.

Aktuell findet man auf Patreon über 150.000 aktive Künstlerprofile, die von mehr als vier Millionen Fans finanziert werden. Laut eigenen Angaben konnte die Plattform bis dato mehr als eine Milliarde Dollar weltweit auszahlen.

Nachdem das Unternehmen sein Angebot in den letzten sieben Jahren hauptsächlich an die US-amerikanische Kreativszene gerichtet hat, nimmt es nun den europäischen Markt in den Fokus – ausgehend von seinem neuen Berliner Büro im besagten „House of Music“ und unter der Verantwortung von Ronny Krieger. Der 46-jährige Vater zweier Kinder ist in der Branche bekannt wie ein bunter Hund, seine Vita liest sich wie ein kleines Stück Musikgeschichte.

Anfang der 1990er Jahre startete er als DJ und Produzent, betrieb zwischenzeitlich einen Plattenladen und arbeitete bis 1999 als Presse- und Radio-Promoter für EFA Medien, dem damals größten deutschen Independent-Vertrieb. Danach war er als freier Promoter für Tresor Records und BPitch Control tätig, managte ein Plattenlabel für elektronische Musik und landete 2004 beim Online-Musikdienst Beatport. Dort blieb er insgesamt sechs Jahre – erst als International Sales Director, dann als Vice President Content und schließlich als Chief Programming Officer.

Die Zeit danach war nicht weniger illuster. 2010 stieg Ronny ins Management der Modeselektor-Labels Monkeytown und 50 Weapons ein. Im selben Jahr nahm er zwei gelegentliche Gastdozenturen an: zum einen in den Fächern „Digitale Medien“ und „Social Media Marketing“ an der ebam Akademie in Berlin, zum anderen im Fach „International Music Business“ an der Popakademie Baden-Württemberg. Bevor er im April 2020 die Verantwortung für das Europa-Geschäft von Patreon übernahm, war er hauptsächlich als freier Berater tätig, unter anderem für die Unternehmen LANDR, FATdrop, Shutterstock und Native Instruments sowie für den US-amerikanischen Internetradio-Sender Digitally Imported.

Seine Expertise wird auch außerhalb des Musikbusiness geschätzt: Vor gut einem Jahr wurde er in den Fachausschuss Digitalisierung und künstliche Intelligenz des Deutschen Kulturrats berufen. Außerdem ist er seit vielen Jahren Mitglied des Vorstandes des VUT, des Verbandes unabhängiger Musikunternehmer*innen.

Gelernt hat Ronny übrigens ganz klassisch den Beruf des Bankkaufmanns. Aber darauf kommen wir später noch zu sprechen.

»Wenn Künstlern und Kreativen diverse Einnahmequellen wegbrechen, zieht eine Plattform wie unsere nochmal eine ganz andere Aufmerksamkeit auf sich.«

Jonas:
Du bist seit kurzem dafür verantwortlich, das Europa-Geschäft von Patreon aufzubauen. Ist die aktuelle Situation nicht die denkbar schlechteste Zeit, um so eine Aufgabe zu übernehmen?

Ronny:
Ganz im Gegenteil. Patreon gehört zu jenen Unternehmen, die von der Corona-Krise profitieren – so schlimm das auch klingt. Wenn Künstlern und Kreativen diverse Einnahmequellen wegbrechen, zieht eine Plattform wie unsere nochmal eine ganz andere Aufmerksamkeit auf sich als in normalen Zeiten, da wir diesen Menschen auf faire Art und Weise ein zusätzliches Einkommen ermöglichen. Unser Modell hat zwar schon vorher Sinn gemacht, durch die momentane Situation hat es aber zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Das belegen auch die Zahlen: Alleine im März sind auf Patreon über 50.000 Kreative neu gestartet. Und so, wie wir das gerade beobachten können, hält dieser Trend auch weiter an.

»Es gibt viele Leute, die aus einer großen Panik und Existenzangst heraus kurzfristig ein Patreon-Profil kreiert haben – manchmal vielleicht etwas überstürzt.«

Jonas:
In welchen persönlichen Situationen befinden sich die Kreativen, die bei Euch Hilfe und Hoffnung suchen?

Ronny:
Da gibt es eine enorme Bandbreite. Wir sehen zum Beispiel Menschen, die schon vor Corona auf Patreon aktiv waren und gerade jetzt froh sind, ein gewisses Einkommen zu haben, mit dem sie sich über Wasser halten können. Dann gibt es viele Leute, die aus einer großen Panik und Existenzangst heraus kurzfristig ein Patreon-Profil kreiert haben – manchmal vielleicht etwas überstürzt. Wir von unserer Seite versuchen natürlich, diesen Kreativen eine möglichst umfangreiche Hilfestellung zu bieten und ihnen zu erklären, dass wir ihre Ängste und Sorgen verstehen. Gleichzeitig müssen wir aber auch immer wieder darauf hinweisen, dass so ein Launch auf Patreon strategisch durchdacht sein muss. Man kann nicht ohne Sinn und Verstand ein Profil anlegen und dann darauf hoffen, dass in spätestens einer Woche alle finanziellen Probleme gelöst sind. Trotzdem schiebt unser Team hier in Europa – genau wie das in den USA – seit Wochen Überstunden, um diesen Menschen auf unkomplizierte, vereinfachte und schnelle Art und Weise zu ihrem Launch zu verhelfen.

»Patreon ist kein Selbstläufer.«

Jonas:
Man stößt immer wieder auf Artikel, die davon berichten, dass auf Patreon auch scheitern kann. Was konkret muss man als Kreativer tun, um auf der Plattform erfolgreich zu sein?

Ronny:
Zuerst einmal muss man Patreon richtig verstehen. Gerade in der Medienlandschaft wird unser Unternehmen immer wieder als Crowdfunding-Plattform bezeichnet – aber das sind wir nicht. Patreon ist ein sogenanntes membership business und dadurch viel eher mit einem Fanclub zu vergleichen. Es ist eine Plattform, die Interaktion mit den eigenen Supportern voraussetzt. Wenn Kreative bei uns scheitern, hat das entweder damit zu tun, dass sie den Gedanken einer interaktiven Mitgliedschaft nicht verstehen und dementsprechend auch nicht aktiv betreiben. Oder sie haben ihre eigene Marke noch nicht aufgebaut. Dabei ist gerade das essenziell für einen Start bei uns. Patreon ist kein Selbstläufer. Wir stellen lediglich die Tools zur Verfügung, mit deren Hilfe man mit seinen Fans interagieren und sie zu Zahlungen bewegen kann. Aber diese Fans muss man vorher generieren – und man muss es schaffen, sie auf sein Patreon-Profil zu bringen.
Das Schöne ist, dass dies in ganz unterschiedlichen Größenordnungen funktioniert. Zum Beispiel gibt es bei uns eine Vielzahl von Hobby-Kreativen, denen es gar nicht darum geht, aus ihrer künstlerischen Tätigkeit einen Hauptberuf zu machen oder ein großes Business aufzubauen. Diesen Leuten reicht es schon, wenn sie durch die Patreon-Einnahmen nicht mehr ihre Arbeitsmaterialien aus eigener Tasche bezahlen müssen. So etwas funktioniert bereits mit einer relativ kleinen Zahl an Unterstützern. Auf der anderen Seite gibt es aber auch größere Unternehmen wie etwa Podcast-Produzenten, die mit dem Patreon-Einkommen mehrere Mitarbeiter beschäftigen können.

»Lange hat man geglaubt, dass bezahlte Streaming-Abos die Lösung für alles sind.«

Jonas:
Du selbst arbeitest seit fast 30 Jahren in der Kreativbranche und hast dort fundamentale Veränderungen erlebt: vom Ende der CD über den Niedergang von MTV bis zur Entstehung von YouTube, Instagram und Spotify. Für Künstler ist es heute so einfach wie nie, sich direkt mit ihren Fans auszutauschen – und umgekehrt. Was macht da eine zusätzliche Interaktionsplattform wie Patreon überhaupt notwendig?

Ronny:
Als Anfang der 2000er Jahre die digitale Revolution das Musikbusiness erreichte, gab es ein maßgebliches Problem: Alles, was in dieser Zeit an Innovationen entstand, wurde nicht aus der Musikbranche heraus entwickelt, sondern ihr von branchenfernen Technologieunternehmen aufgedrückt – ganz einfach weil sie selbst zu träge und zu passiv war. Diese Entwicklung hat unter anderem dazu geführt, dass heute andere, neue Player die Regeln machen. YouTube und Spotify sind dafür gute Beispiele…

Jonas:
… aber diese neuen Player haben auch vielen unbekannten Bands dabei geholfen, ihre Musik einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Ronny:
Stimmt, aber wir erleben auf diesen Plattformen auch, dass dort seit Jahren das sogenannte value gap immer größer wurde, sprich das Verhältnis von Klick- und Streamingzahlen zu dem, was ein Künstler letztendlich an der Verbreitung seiner Werke verdient.
Lange hat man geglaubt, dass bezahlte Streaming-Abos die Lösung für alles sind. Die Idee war simpel: Wenn jeder Mensch auf der Welt pro Monat zehn Euro für einen Spotify-Account bezahlen würde, wäre ja genug Geld da, um den Kuchen gerecht unter allen aufzuteilen. Allerdings hat sich im Laufe der Jahre herausgestellt, dass dieses System als Finanzierungsmodell immer weniger funktioniert. Das liegt zum einen daran, dass in Ländern mit geringerer Kaufkraft die Abo-Kosten für Streamingdienste wesentlich niedriger sind, also beispielsweise bei drei oder vier Dollar im Monat liegen statt bei zehn. Zum anderen wurde über die Jahre das Angebot an unterschiedlichster Musik immer größer. Das heißt, dass sich denselben Kuchen immer mehr Labels und Künstler teilen müssen.

»Ironischerweise hat die Musikbranche von allen Kreativbereichen am längsten gebraucht, um auf uns aufmerksam zu werden.«

Jonas:
Und dieser Entwicklung kann eine Plattform wie Patreon entgegenwirken?

Ronny:
Ich würde es anders formulieren. Wir bieten Kreativen die Möglichkeit, sich von diesem Verteilungskampf ein Stück weit unabhängig zu machen. Mit Patreon kann man für sich als Künstler eine zusätzliche Einnahmequelle schaffen, die direkt von den eigenen Fans finanziert wird. Ironischerweise hat die Musikbranche von allen Kreativbereichen am längsten gebraucht, um auf uns aufmerksam zu werden. Andere Gruppen wie etwa Illustratoren, Vlogger oder Podcaster haben viel schneller das Potenzial unserer Plattform erkannt – und auch ihre Dringlichkeit.

Jonas:
Inwiefern Dringlichkeit?

Ronny:
Mich erinnert die aktuelle Situation sehr an meine Zeit bei Beatport. Als wir 2004 mit dem Portal starteten, endete gerade das goldene Zeitalter der physischen Tonträger. Der Zenit an Vinyl- und CD-Verkäufen war überschritten, die Zahlen bröckelten gewaltig. Gleichzeitig gab es auf digitaler Basis aber noch kein etabliertes Geschäftsmodell, sondern nur illegale, unmonetarisierte Plattformen. In genau diese Lücke ist Beatport damals gestoßen. Das Vakuum, in das wir seit 2013 mit Patreon vordringen, ist damit durchaus vergleichbar.

»Viele Künstlerverträge – zumindest die der Major-Labels – waren schon immer etwas fragwürdig.«

Jonas:
Patreon-Gründer Jack Conte hat vor knapp drei Jahren in einem TED-Talk davon gesprochen, dass in der Musikbranche etwa hundert Jahre lang eine milliardenschwere Infrastruktur aufgebaut worden sei, die Künstlern ermöglicht habe, ihre Musik einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Diese Infrastruktur sei mit der digitalen Revolution plötzlich obsolet geworden, weil Musiker nun direkt mit ihrem Publikum in Kontakt treten könnten. War denn an dieser Infrastruktur alles schlecht – mit all ihren Plattenlabels, Artwork-Designern und Vinyl-Fabriken?

Ronny:
Jack ist ein Musiker, der immer schon sehr innovativ und radikal gedacht hat, auch weil er nicht jahrelang in dieser klassischen Industrie vertreten war. Ich persönlich bin der Meinung, dass viele Karrieren und Erfolge nicht ohne die konventionelle Musikindustrie möglich gewesen wären. Und ich glaube auch nicht daran, dass diese Peripherie in Zukunft völlig überflüssig wird. Die wenigsten Künstler haben Lust darauf, sich selbst zu managen oder ihre Buchhaltung zu erledigen, sondern wollen sich einfach nur auf ihre Musik, ihre Videos und ihre Auftritte konzentrieren.
Auf der anderen Seite ist es so, dass viele Künstlerverträge – zumindest die der Major-Labels – schon immer etwas fragwürdig waren, alleine wegen der Vielzahl an Kosten und Gebühren, die ursprünglich aus dem Zeitalter physischer Tonträger stammen und die den Künstlern auch heute noch für Digitalprodukte abgezogen werden. Darüber hinaus beinhalten sie oft extrem geringe prozentuale Beteiligungen. Diese Verträge haben sich über die letzten Jahrzehnte kaum verändert, obwohl die Welt mittlerweile eine ganz andere ist.
Ein Beispiel: Bei vielen Label-Verträgen finden sich immer noch Klauseln zu Abgaben für Fernsehwerbung oder Packaging. Dabei spielt Fernsehwerbung heute so gut wie keine Rolle mehr. Und eine besondere physische Verpackung für ein neues Album auf CD braucht in den meisten Fällen auch keiner. Daher ist es für Künstler heutzutage umso wichtiger, die Kontrolle zu behalten – ich denke, das ist auch das, was Jack mit seinem TED-Talk unterstreichen wollte.

Jonas:
Glaubst Du, dass so etwas wie Gerechtigkeit im Musikbusiness überhaupt möglich ist?

Ronny:
Ja, absolut! Auch wenn viele Künstler nach wie vor im alten System feststecken, hat sich im Laufe der letzten Jahre vieles in Richtung Fairness verschoben. Ich denke da etwa an die vielen Indielabels, die sehr familiär und transparent aufgestellt sind. Aber auch auf höherer Ebene gibt es Erfolgsbeispiele, etwa das Modell Mute Records und Depeche Mode. Die hatten für den Großteil ihrer Karriere einen fifty-fifty handshake deal – und sind heute wahrscheinlich eine der reichsten und immer noch performancestärksten Band der Welt.

»In Europa etablieren sich technologische Innovationen oft erst mit einer zeitlichen Verzögerung.«

Jonas:
Wie unterscheidet sich der europäische Markt vom amerikanischen? Ist in Europa die Bereitschaft der Leute, Künstler finanziell zu unterstützen, eine andere?

Ronny:
Das Bewusstsein, dass es im Kreativbereich überhaupt so etwas wie Membership-Plattformen gibt, ist in Europa wesentlich niedriger ausgeprägt als in den USA. Das liegt unter anderem daran, dass sich technologische Innovationen oft erst mit einer zeitlichen Verzögerung in Europa etablieren. Für uns bei Patreon bedeutet das, dass wir hier eine gewisse Aufklärungsarbeit betreiben müssen, auch weil damit unser eigener Bekanntheitsgrad verbunden ist. Davon abgesehen ist aber die grundsätzliche Bereitschaft von Menschen, für Dinge Geld auszugeben, die ihnen etwas bedeuten, überall auf der Welt dieselbe. Die Unterschiede liegen lediglich in der Höhe der möglichen finanziellen Unterstützung, was in erster Linie von Faktoren wie Einkommen oder Kaufkraft abhängig ist.

»Bei den Labels sitzen durchweg supercoole Zwanziger und Dreißiger, die sich einbilden, ganz genau zu wissen, was der Kunde will.«

Jonas:
Du bist seit 2010 auch als Gastdozent tätig und hast unter anderem an der ebam, der BIMM sowie an der Popakademie Baden-Württemberg unterrichtet. Aus welchem Grund hast Du diese Gastdozenturen angetreten?

Ronny:
Ich glaube, weil ich nie so ein Berufsjugendlicher werden wollte. Frank Zappa hat mal in einem Interview darüber gesprochen, dass in den 1960er und 70er Jahren zu beobachten war, wie immer mehr experimentelle Veröffentlichungen auf den Musikmarkt kamen, auch von Major-Labels. Der Grund für diese Releases sei gewesen, dass die verantwortlichen A&R-Manager alle um die 50, 60 Jahre alt gewesen seien und keine Ahnung davon gehabt hätten, was die Jugendlichen wollten. Dementsprechend seien sie einfach risikofreudiger gewesen und hätten gelegentlich einfach herumprobiert, was funktioniert und was nicht.
Wenn ich mir die heutige Situation in der Musikindustrie betrachte, muss ich immer wieder an diese Aussage von Frank Zappa denken. Bei den Labels sitzen durchweg supercoole Zwanziger und Dreißiger, die sich einbilden, ganz genau zu wissen, was der Kunde will – und dadurch vieles an neuer Musik oder an neuen Stilen gar nicht zulassen.
Durch meine Gastdozenturen habe ich die Chance, weiterhin einen Umgang mit jungen Kreativen zu haben und zu erfahren, wie sie tatsächlich denken. Und ich glaube, diese Tätigkeit schützt mich auch ein Stück weit davor, in eine Sackgasse zu geraten, in der ich mir mit fast 50 einbilde, noch ganz nah dran zu sein an dieser Zielgruppe. Und genau zu wissen, wie sie tickt – weil ich ja selbst mal Teenager war. Das ist eine Riesenfalle.

»Heute muss man als Künstler viel stärker um die Aufmerksamkeit der Leute kämpfen, als es noch 2010 der Fall war.«

Jonas:
Ist die Welt, in die Du deine Studentinnen und Studenten entlässt, heute eine andere als noch vor zehn Jahren?

Ronny:
Das ist sie ganz eindeutig. Die Möglichkeiten, die sich den jungen Leuten heute bieten, sind ganz andere, alleine weil es viel weniger Gatekeeper gibt als früher. Soll heißen: Wenn da vor zehn Jahren jemand saß, der einen nicht durchlassen wollte, hätte man gegen die Wand rennen können – es gab einfach kein Vorbeikommen. Diese Gatekeeper haben sich über die Jahre immer weiter aufgelöst oder wurden durchlässiger. Heute hat man als Kreativer rein theoretisch die Möglichkeit, vieles selbst zu erreichen. Es gibt für so gut wie alles technologische Lösungen und Plattformen, die erschwinglich sind und der eigenen Kreativität keine Schranken setzen. Der Nachteil an dieser Entwicklung ist allerdings, dass es dadurch viel mehr Konkurrenz gibt. Dementsprechend muss man heute als Künstler viel stärker um die Aufmerksamkeit der Leute kämpfen, als es noch 2010 der Fall war. Diese Beobachtung kann man übrigens in so gut wie allen Kreativbereichen machen.

»Wenn man fast dreißig Jahre in der Musikindustrie aktiv ist, hinterfragt man irgendwann nicht mehr alles.«

Jonas:
Bringen die Studierenden heute auch von Anfang an mehr Fähigkeiten mit als damals?

Ronny:
Das würde ich nicht sagen. Die Studentinnen und Studenten, die ich unterrichtet habe, waren schon immer sehr heterogen aufgestellt und haben auch schon immer die unterschiedlichsten Skills mitgebracht. Ich mag es übrigens auch ganz gerne, wenn ich selbst von diesen jungen Leuten gefordert werde. Ich denke da etwa an meine Erfahrung mit Master-Studierenden an der Popakademie. Wenn man wie ich fast dreißig Jahre in der Musikindustrie aktiv ist, hinterfragt man irgendwann nicht mehr alles und nimmt vieles für selbstverständlich. Aber wenn Leute da erst relativ frisch dazukommen, bringen sie eine andere Perspektive mit – und stellen Fragen, die man sich selbst seit Jahrzehnten nicht mehr gestellt hat. Und was die Studierenden an der ebam oder BIMM angeht, handelte es sich in der Regel um Menschen, die aus ganz anderen Berufszweigen oder direkt von der Schule kommen und zum ersten Mal in den Kreativbereich hineinschnuppern. Auch das finde ich sehr erfrischend.

»Meine Eltern wollten, dass etwas Ordentliches aus mir wird.«

Jonas:
In den frühen Neunzigern hast Du selbst eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und gleichzeitig als Produzent und DJ gearbeitet. Konntest Du dich nicht für eine Welt entscheiden?

Ronny (lacht):
Ich war nie wirklich daran interessiert, Banker zu werden, und hätte beruflich sehr gerne irgendetwas mit Musik gemacht. Aber zu meiner Zeit gab es einfach kein Studium, das dem entsprochen hätte. Ich hätte maximal Klavier studieren können, aber den Studiengang Musikbusiness gab es Anfang der Neunziger einfach nicht, auch keine Institution wie etwa die Popakademie in Mannheim. Meine Eltern wollten wie alle Eltern, dass etwas Ordentliches aus mir wird, und brachten diverse andere Studiengänge ins Gespräch. Da war von Mathematik über Pädagogik bis Medizin alles Mögliche dabei. Ich wollte aber unbedingt in die Musikindustrie. Warum sollte ich also sechs, sieben Jahre irgendetwas studieren, was ich gar nicht machen wollte? Für mich war Bankkaufmann deshalb interessant, weil die Ausbildung nur drei Jahre dauerte. Das konnte ich irgendwie runterrattern. Und es war für meine Familie akzeptabel, damit konnten sie leben.
Bei meinem Einstieg in die Musikindustrie stellte sich meine Ausbildung dann als echter Goldgriff heraus, weil diese Branche damals zwar sehr erfolgreich, aber oft – zumindest im wirtschaftlichen oder organisatorischen Sinne – extrem unprofessionell aufgestellt war. In meinen ersten Jahren dort habe ich fast ausschließlich mit Leuten gearbeitet, die noch nie in ihrem Leben einen klassischen Bürobetrieb mitgemacht, geschweige denn jemals in irgendeiner Form auf Zahlen geachtet hatten. So hat mir diese Ausbildung in meiner gesamten Karriere immer wieder geholfen, beide Welten zu vereinen: auf der einen Seite selbst Künstler zu sein und künstlerisch zu denken und auf der anderen Seite ein solides ökonomisches Verständnis zu haben. Das passt ja irgendwie auch ganz gut zu Patreon.