Interview — Wanda

»Mit einer Verantwortung zu leben, ist deutlich besser«

Mit ihrem sechsten Studioalbum melden sich Wanda fulminant zurück: »Ende nie« ist eine Platte voller lyrischer und instrumentaler Goldstücke, auf der die österreichische Rockband ihre gesamte Lebens- und Musikerfahrung zusammenführt – und gleichzeitig zwei private Katastrophen verarbeitet. Ein Interview über reife Musik von reifen Menschen, das Nebeneinanderstehen von Euphorie und Trauer und eine komisch-wilde Phase im Leben von Marco Wanda, in der er Harry Styles sein wollte.

8. Juni 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

„Der nächste Song ist für alle, die jemanden verloren haben“, ruft Marco Wanda mit gefasster Stimme ins Mikrofon. Es ist der Abend des 7. Mai, zusammen mit seinen Bandkollegen Reinhold „Ray“ Weber am Bass und Manuel „Manu“ Poppe an der Gitarre hat er gerade zwei Stunden lang das Potsdamer Waschhaus zum Beben gebracht.

Marco hält einen Moment inne, dann fügt er hinzu: „Das betrifft ja wahrscheinlich alle hier. Denn so ungeküsst geht niemand durchs Leben.“ Wenige Sekunden später schlägt der 37-Jährige auf dem Klavier die ersten Töne zu „Bei niemand anders“ an.

Dieses Lied, das kann man nicht anders sagen, hat es in sich. Nicht nur, weil es einem bereits nach dem ersten Hören einen Ohrwurm einpflanzt, der absolut keine Anstalten macht, sein neues Zuhause wieder zu räumen. Sondern auch, weil „Bei niemand anders“ zu dem Gefühlvollsten, Ehrlichsten und Nahbarsten zählt, was die Wiener Rockband jemals in die Welt geworfen hat.

Dieser Song war es auch, mit dem Wanda im November 2023 ein erstes musikalisches Lebenszeichen sendete, nachdem die Band innerhalb kürzester Zeit von zwei Katastrophen überrollt wurde. Zuerst starb im September 2022 der Keyboarder und Wanda-Mitbegründer Christian Hummer. Und wenige Monate später verlor Marco auch noch seinen Vater. Hätte die Band an dem Punkt alles hingeschmissen, ganz ehrlich, man hätte es verstanden.

Doch es war Sebastian „Zebo“ Adam, der Wanda half, wieder zurück ins künstlerische Leben zu finden. Der Produzent, der als Gitarrist auch Teil der Live-Besetzung ist und an diesem Abend in Potsdam mit auf der Bühne steht, schuf für die Band einen sicheren Raum, in dem Marco, Ray und Manu über Monate und ganz behutsam an einem neuen Album arbeiten konnten.

„Ende nie“ heißt das gute Stück, gerade hat es das Licht der Welt erblickt. Es ist das mittlerweile sechste Studioalbum der Österreicher, die sich 2012 als fünfköpfige Combo gegründet hatten und nach Christians Tod und dem Ausscheiden von Drummer Lukas Hasitschka im Jahr 2020 nun „nur“ noch zu dritt sind. Eröffnet wird die neue Platte von „Bei niemand anders“, es folgen elf weitere kleine und große Goldstücke, mit denen man Wanda auch mal von einer anderen Seite kennenlernen darf, stilistisch wie inhaltlich. Ganz am Ende des Albums scheint sogar mal der Geist von Rio Reiser durch die Lautsprecher zu schweben. Aber dazu später mehr.

Am 28. März 2024, dem Tag der Veröffentlichung ihrer dritten Single-Auskopplung „Jeder kann es sein“, haben wir Marco, Ray und Manu in Berlin zu einem sehr persönlichen Interview und einem noch persönlicheren Fotoshooting getroffen.

»Solange ich das Video noch nicht gesehen habe, ist der Song für mich auch noch nicht auf der Welt.«

MYP Magazine:
Wir wünschen Euch einen happy release day, wie man in der Musikindustrie so schön sagt. Aber sind solche Tage nach 14 Jahren Wanda überhaupt noch etwas Besonderes für Euch?

Marco:
Klar! Mich berührt immer noch jeder einzelne Single-Release – vor allem, wenn er mit einem Musikvideo verbunden ist. An so einem release day schnappe ich mir abends ein Fläschchen Weißwein, setze die Kopfhörer auf und habe ein großes Privatvergnügen daran, dem neuen Song mit den Augen und Ohren eines Fremden zu begegnen. Erst in diesem Moment erschließt sich mir unsere Musik zur Gänze – und solange ich das Video noch nicht gesehen habe, ist der Song für mich auch noch nicht auf der Welt. Daher ist es für mich total spannend, den Moment der Geburt live mitzuerleben.

»Das Leben zu besitzen ist die größte Komödie, die ich mir vorstellen kann.«

MYP Magazine:
„Jeder kann es sein“ – die Single, die Ihr heute veröffentlicht habt – wirkt wie die logische Ergänzung zu „De Kinettn wo I schlof“. In dem über 50 Jahre alten Song erzählt Wolfgang Ambros, wie es sich aus der Perspektive eines Obdachlosen anfühlt, für die Gesellschaft mehr oder weniger unsichtbar zu sein. Aus welchem Bedürfnis heraus habt Ihr „Jeder kann es sein“ geschrieben? Wolltet Ihr allen, die auf der Gewinnerseite des Lebens stehen, klar machen: Es hätte auch anders kommen können?

Marco:
„Jeder kann es sein“ ist das einzige Stück auf der Platte, bei dem ich selbst nicht wirklich weiß, worum es geht. Mich hat schlicht und einfach dieses Thema interessiert: die Einteilung von Menschen in Gewinner und Verlierer. Die Gewinner sind für mich gleichbedeutend mit denen, die leben. Und die Verlierer stehen für die, die sterben. Das Leben zu verlieren ist die größte Tragödie, die ich mir vorstellen kann. Und das Leben zu besitzen ist die größte Komödie, die ich mir vorstellen kann.
Aber eigentlich will ich den Text gar nicht so sezieren. Es handelt sich dabei immer noch um Lyrik – und die kann niemals eindeutig sein. Selbst wenn ich eine Zeile wie „der Himmel ist blau“ in einen Song hinein schreiben würde, gäbe es da immer noch ein riesiges Spektrum an Bedeutungen.

»Wir haben beim Arrangement der Musik darauf geachtet, dass nichts bremst.«

MYP Magazine:
Im Musikvideo zu dem Song sehen wir Euch im Smoking auf einer tropischen Insel. Habt Ihr euch von „Triangle of Sadness“ inspirieren lassen, jener erfolgreichen Kinokomödie aus dem Jahr 2022, in der das dekadente Leben der Luxus-Gesellschaft persifliert wird?

Marco:
Wir waren in der Bildsprache vor allem von „Saltburn“ beeinflusst. Die Regenschirme zum Beispiel sind eine eindeutige Hommage an diesen großartigen Film.

MYP Magazine:
Der inhaltlichen Tiefe von „Jeder kann es sein“ steht ein eher leichtfüßiger, tanzbarer und sehr eingängiger Sound gegenüber – eine Gegensätzlichkeit, die sich wie ein roter Faden auch durch die anderen Songs des neuen Albums zieht.

Manu:
Stimmt. Wir haben beim Arrangement der Musik darauf geachtet, dass nichts bremst – von der Bass Drum bis zu den Gitarren. Alles sollte ständig im Fluss sein und sich richtig schön locker-flockig anfühlen.

»Emotionen wie Euphorie und Trauer können in ihrem Extrem auch nebeneinanderstehen, und zwar permanent.«

MYP Magazine:
Dennoch ist bei allen zwölf Tracks auch eine gewisse emotionale Dringlichkeit zu spüren. Man muss immer wieder an die Katastrophen denken, die Euch in der jüngeren Zeit widerfahren sind. Aber bei all der Tragik will man sich auch permanent zu den eingängigen Hooks und Gitarrenklängen bewegen. War die Dualität aus ernsten Texten und energetischer Musik für Euch ein Weg, den Tod von Christian und Marcos Vater zu verarbeiten?

Marco:
Es gibt einen Satz von Leonard Cohen, der mich immer sehr beschäftigt hat: „There’s a crack in everything, that‘s how the light gets in.“ Das bringt es auf den Punkt. Ich glaube, man kann das Leben auf zwei verschiedene Arten leben: Man kann entweder in einer negativen Gefühlslage verharren wollen und dann in eine positive wechseln – und meistens sind beide sehr extrem. Oder man kann anerkennen, dass Emotionen wie Euphorie und Trauer in ihrem Extrem auch nebeneinanderstehen können, und zwar permanent.
Das ist übrigens etwas, das vor allem in der Wiener Kunst immer wieder zu beobachten ist. Bereits Gustav Klimt hatte in seinen Bildern den Tod in schillerndsten Farben dargestellt. Diese Ambivalenz ist zutiefst wienerisch und ich frage mich manchmal, ob so etwas in Deutschland überhaupt möglich wäre. Ich hatte mal ein Gespräch mit Sido, der mir sagte: „Hier in Deutschland musst du entweder total traurig oder total komisch sein. Irgendwo dazwischen geht nicht.“ Das ist hochinteressant, denn bei uns in Wien kann man nur Erfolg haben, wenn man genau die Mitte trifft – und nicht, wenn man nur eines von beiden Extremen bedient. Wir kommen da also aus einer gewissen Tradition.

»Ich habe schon sehr jung angefangen, mit der Musik zu weinen.«

MYP Magazine:
Nicht wenige Menschen machen die Beobachtung, dass sie mit zunehmendem Alter von Musik tiefer berührt werden und leichter mal ein Tränchen vergießen. Geht Euch das ähnlich?

Ray:
Ich habe schon sehr jung angefangen, mit der Musik zu weinen, und es gibt einige Lieder, die mich heute immer noch so berühren wie in meiner Kindheit und Jugend. Songs von Queen oder The Police zum Beispiel, die habe ich damals wirklich sehr, sehr viel gehört. Vor allem bei Queen war es so, dass ich manchmal stundenlang im Auto meiner Eltern saß und dabei drei Alben durchgehört habe, wenn wir irgendwo unterwegs waren. Ich habe zwar damals die Texte noch nicht verstanden, aber ich habe immer und immer wieder weinen müssen, wenn ich gehört habe, was Freddie Mercury da einfach so rausgehauen hat. Das ist eine Kindheitserinnerung, die mir immer noch sehr präsent ist.

Manu:
Mir geht’s da ganz ähnlich. Ich bin schon lange Fan von The Breeders und ich weiß noch gut, wie mir aus purer Freude das Wasser in die Augen geschossen ist, als ich die Band vor ein paar Jahren mal bei einem Konzert in Wien gesehen habe.

Marco: (nickt)
Für mich war das Musikhören schon in meiner Kindheit der Ort, an dem ich große Gefühle erleben konnte. Mal habe ich aus Freude geweint, mal aus Trauer, mal aus Ergriffenheit. Grundsätzlich aber hat Musik schon immer etwas in mir berührt.

»Das, was ich in letzten anderthalb Jahren erlebt habe, war auch für mich eine vollkommen neue Dimension.«

MYP Magazine:
Als Christian und kurz darauf Marcos Papa gestorben sind, wart Ihr Anfang, Mitte 30. In diesem Alter ist das Thema Tod für viele Menschen noch ganz weit weg. War die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens für Euch ebenso ein Debüt?

Marco:
Ich war damit leider schon häufiger konfrontiert – in meinem Leben sind bereits etliche Menschen gestorben. Aber das, was ich in letzten anderthalb Jahren erlebt habe, war auch für mich eine vollkommen neue Dimension. Wenn erst ein enger Freund und kurz darauf ein Elternteil geht, ist das absolut lebensverändernd. Wer so etwas noch nicht erlebt hat, steht da einfach sehr, sehr unwissend davor. Und ich glaube, diese Unwissenheit erzeugt eine gewisse Angst, da man plötzlich gezwungen ist, sich mit Tod und Vergänglichkeit zu beschäftigen. Ich persönlich würde auch empfehlen, sich mit dem Thema erst auseinanderzusetzen, wenn es wirklich so weit ist. Ansonsten würde man viel zu viel Energie und Zeit verschwenden, die man eigentlich noch als Geschenk hat – als Guthaben auf dem Konto des Lebens.

»Die Leute um uns herum hätten auch Verständnis dafür gehabt, wenn wir gesagt hätten: Wir lassen das jetzt ganz.«

MYP Magazine:
Wie haben Euer berufliches Umfeld und die Branche auf die Situation reagiert? Hattet Ihr Sorge, dass Ihr als Band in Zukunft auf das Thema Tod reduziert werdet?

Marco:
Wir haben um uns herum ein Team an fantastischen Menschen, die von Anfang an sehr unterstützend waren. Und ich erinnere mich: Nachdem wir am 30. September 2022 unsere letzte Platte veröffentlicht hatten, also wenige Tage nach Christians Tod, haben wir eine Woche lang absolut gar nichts gemacht. Erst dann ging es peu à peu weiter – ganz langsam wieder in Richtung Normalität. Dabei hätten die Leute um uns herum auch Verständnis dafür gehabt, wenn wir gesagt hätten: Wir lassen das jetzt ganz und sagen alles ab.
Wir haben das große Glück, dass unser berufliches Umfeld empathisch genug ist zu verstehen, dass man nicht alles von Menschen verlangen kann. Aber letztendlich waren wir es, die die Entscheidung getroffen haben, als Band weiterzumachen. Wir haben die Entscheidung getroffen, ein Album aufzunehmen. Wir haben die Entscheidung getroffen, innerhalb gewisser Grenzen darüber öffentlich zu reden.

»So etwas schauen Menschen in der Regel, um sich die Birne wegzuknallen. Und das ist auch völlig okay.«

MYP Magazine:
Ende 2023 seid Ihr bei der ARD-Show „Your Songs“ aufgetreten. Nachdem Ihr auf der Bühne den Song „Bei niemand anders“ gespielt habt, wurde Marco auf der Gästecouch von Moderatorin Jeannette Biedermann gefragt, wie man so ein exzessives Rockstar-Leben überstehen könne…

Marco: (lacht)
… es ist ja noch nicht überstanden!

MYP Magazine:
Auch Jeannette Biedermann lachte laut und bemerkte etwas flapsig: „Ihr habt’s überlebt!“ Das war ein sehr unangenehmer Moment, denn tatsächlich haben nicht alle von Euch überlebt. Wie ging es Dir in dieser Situation, Marco?

Marco:
In dieser Produktion wusste ich sofort, dass alle mit dem Thema überfordert sind – auf der menschlichen Ebene, nicht auf der professionellen. Mein Briefing für die Show war: Wir reden über Christian. Damit war eigentlich klar, dass sein Tod ein Thema sein wird. Aber ich habe dann sehr schnell gemerkt, dass niemand sich getraut hat, darüber zu reden. Gleichzeitig hatte ich selbst nicht das Bedürfnis, das Ganze von mir aus anzustoßen. Und so wurde in der Show über Christian einfach nicht gesprochen – wahrscheinlich auch zum Glück. Denn am Ende ist „Your Songs“ ja eine leichte Unterhaltungsshow. So etwas schauen Menschen in der Regel, um sich die Birne wegzuknallen. Und das ist auch völlig okay.

MYP Magazine:
Aber geht man dann nicht von der Bühne und denkt sich, was war das denn?

Marco: (lächelt)
Das denk‘ ich mir immer!

»Älter werden heißt ja auch, dass man lebt.«

MYP Magazine:
Marco, Du hast in einem Spiegel-Interview, das im Rahmen dieser ARD-Show entstanden ist, von einem Traum erzählt, den Du vor einer Weile hattest: Du hast dich im Wohnzimmer Deiner Eltern befunden und warst eine Playmobilfigur, die aus ihrer Perspektive auf die Welt blickte und das wunderschön fand. Du hast die Tür eines kleinen Playmobil-Schuppens geöffnet, in dem Dein Papa saß. Er hat sich gefreut, Dich zu sehen – dann bist Du aufgewacht. Diesen Moment hast Du als „Ende der Kindheit“ bezeichnet. Kannst Du, könnt Ihr bei aller Tragik diesem Ende der Kindheit etwas Positives oder zumindest Hoffnungsvolles abgewinnen?

Marco:
Wenn ein Elternteil stirbt, dann ist man kein Kind mehr – weil man kein Kind mehr von jemandem ist. So hätte ich es damals erklären sollen.

Manu:
Ich bin froh, dass ich schon älter bin und immer älter werde. Älter werden heißt ja auch, dass man lebt.

MYP Magazine:
Seid Ihr durch die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre auch angstfreier geworden?

Marco:
Ich glaube schon. Ich wüsste jetzt nicht, was da noch viel Schlimmeres kommen sollte.

»Es hat fast ein Jahr gedauert, diese Platte zu machen – für knapp 40 Minuten und ein Zehn-Euro-Abo auf Spotify.«

MYP Magazine:
Hat sich die Art und Weise, wie Ihr Musik macht, infolge der beiden Todesfälle verändert?

Marco:
Ja, und zwar fundamental – allein schon, weil wir nur noch zu dritt sind. Das ist ein völlig anderes Szenario. Daher fühlt sich die neue Platte auch wie ein Debütalbum an. Dazu kommt, dass zum ersten Mal jemand aus der Band ein Album mitproduziert beziehungsweise vorproduziert hat. Bereits vor anderthalb Jahren hatte ich Manu relativ viel Demo-Material geschickt, das er dann fast schon zu Ende arrangiert und wieder zurückgeschickt hat. Und auf dieser Grundlage sind wir überhaupt erst ins Studio gegangen. Das heißt, die neuen Songs hatten schon einen wichtigen Produktionsschritt durchlaufen, bevor sie aufgenommen wurden.
Das war für uns völlig neu. All die Jahre davor waren wir im Studio eigentlich wie die frühen Beatles. Soll heißen: ein Tag, ein Song, fertig. Alles lebte von dieser Energie, von dem Momentum, vom Rock’n’Roll, es durfte immer nur ein Take gespielt werden. Und diesmal war es so: Scheißegal, dann spielen wir halt hundert Mal das Gleiche – so lange, bis es passt. Wir haben uns also viel mehr Zeit genommen. Am Ende hat es fast ein Jahr gedauert, diese Platte zu machen – für knapp 40 Minuten und ein Zehn-Euro-Abo auf Spotify.

»Kurz bevor wir ins Studio gegangen sind, hing ich in einer sehr komischen und wilden Harry-Styles-Phase fest.«

MYP Magazine:
Dabei habt Ihr euch auch die Freiheit genommen, ein paar neue musikalische Pfade einzuschlagen. Der Song „Woher soll ich wissen“ zum Beispiel klingt wesentlich poppiger, als man von Euch gewohnt ist. Und „Niemand was schuldig“ fühlt sich an wie eine kleine Verneigung von Rio Reiser.

Marco:
Dadurch, dass das Album eine Art Debüt ist, hat sich zwangsläufig auch die Musik verändert. Ich fand es sehr reizvoll, die Chance zu nutzen und mal etwas ganz was anderes zuzulassen. Wir haben über all die Jahre mehr oder weniger innerhalb eines gewissen Baukastens operiert. Wenn man so genial wie die Beatles ist, schafft man es vielleicht, so einen Baukasten mit zwei, drei Tricks über fünf, sechs Alben zu Tode zu reiten. Aber spätesten dann muss sich konsequenterweise irgendwo ein Fenster öffnen.
Übrigens: An diesem Pop-Appeal, der unserer neuen Platte wesentlich stärker anhaftet als den vorherigen, bin ich nicht ganz unschuldig. Kurz bevor wir ins Studio gegangen sind, hing ich in einer sehr komischen und wilden Harry-Styles-Phase fest. Ich war regelrecht besessen von ihm und wollte sogar kurz mal er sein. Seine Musik hat irgendwie auf mich abgefärbt und ich habe ein bisschen was Unreines mit in die Probe gebracht. (lächelt)

MYP Magazine:
Nichts gegen Harry Styles! Immerhin hat er es geschafft, sich aus dem engen Korsett einer Boyband zu befreien.

Marco:
Im übertragenen Sinn haben wir das auch: Wir sind aus einer Boyband ausgebrochen und haben dann ein Album aufgenommen.

»In Deutschland hieß es immer, das sei der Wiener Schmäh. Dabei haben wir den gar nicht.«

MYP Magazine:
Boyband klingt sehr harmlos. Wenn man ein wenig zu Wanda recherchiert, stößt man immer wieder auf den Begriff Gang. Ist das eine Eigenbezeichnung? Oder wurde Euch das Wort unfreiwillig angedichtet?

Marco:
Der Begriff kommt unserem Lebensgefühl schon sehr nah, vor allem in den Anfangstagen der Band. Schon lange bevor wir berühmt wurden, waren wir immer sehr offen und haben gerne, wie soll ich sagen, den Gastgeber im Underground gespielt. Trotzdem waren wir fünf immer total hermetisch, allein durch den kryptischen und nach außen hin fast wirkungslosen Schmäh, den wir uns gemeinsam angeeignet haben. In Deutschland hieß es immer, das sei der Wiener Schmäh. Dabei haben wir den gar nicht, ganz im Gegenteil. Wir haben einen sehr spezifischen Cliquen-Schmäh, den auch in Wien keiner versteht.

»Das ist einfach so fucking German! Die Deutschen suchen immer irgendwo eine Message.«

MYP Magazine:
Da Ihr eben das Zehn-Euro-Abo auf Spotify angesprochen habt: Einer Eurer neuen Songs trägt den Titel „F*** Youtube“. Habt Ihr ein kritisches Verhältnis zu großen Streaming-Plattformen?

Marco: (lacht)
Überhaupt nicht! Das ist auch wieder so interessant… wie soll ich das jetzt sagen, ohne despektierlich zu sein?

MYP Magazine:
Bitte sei despektierlich!

Marco:
Okay, dann sage ich es: Das ist mal wieder so deutsch! Das ist einfach so fucking German! Die Deutschen suchen immer irgendwo eine Message. Aber der Songtitel ist keine Message, sondern einfach nur ein Teil einer Geschichte. In dem Lied geht es um jemanden, der einen bestimmten Song nicht hören kann, weil er ihn an eine schlimme Zeit erinnert. Und da dieser Song zufälligerweise auf Youtube läuft, fängt er an zu fluchen: Fuck Youtube! Ich dreh‘ das jetzt ab und spiele eine CD.

MYP Magazine:
Sorry.

Marco: (lächelt)
Es stimmt ja auch: Mit unserem Streaming-Konsum lassen wir alle uns einfach nie auf eine Sache ein. Wir haben verlernt, uns zu hyperfokussieren. Aber auch das ist keine Message, sondern einfach nur eine Tatsache. Und letztendlich ist der Song sogar eine Hommage an Youtube. Wir lieben diese Plattform, sonst würden wir dafür kaum so teure Clips produzieren. Was wir in den letzten zehn Jahren allein für die Produktion und Vermarktung von Musikvideos ausgegeben haben, kratzt mittlerweile an der Million. Das hätten wir nicht getan, wenn wir Youtube hassen würden.

»Wir machen reife Musik. Reife Musik von reifen Menschen.«

MYP Magazine:
Es gibt in Berlin einen Radiosender, der sich den Slogan „nur für Erwachsene“ gegeben hat. Da Ihr auf Eurem neuen Album etliche Themen behandelt, mit denen man sich eher mit Mitte 30 als mit 13 auseinandersetzt: Würdet Ihr sagen, dass Ihr heute schwerpunktmäßig eine Band nur für Erwachsene seid?

Ray:
Darüber haben wir erst vor Kurzem im Studio gesprochen. Wir haben festgestellt, dass wir über die letzten Jahre sehr erwachsen und reif geworden sind und mehr reife Musik machen. Der Slogan des Radiosenders würde daher auch ganz gut zu unser Band passen…

Marco:
… aber wir haben ja schon einen: „Wir machen reife Musik. Reife Musik von reifen Menschen.“ Den hat unser Produzent Zebo Adam bei der Albumaufnahme installiert.

»Für mich ist Therapie wie Staubsaugen. Ich räume ein bisschen auf und kann dann besser atmen.«

MYP Magazine:
Ein Zeichen menschlicher Reife ist es auch, offen über das Thema Therapie zu sprechen – dem habt Ihr sogar einen eigenen Song gewidmet. In dem eben erwähnten Spiegel-Artikel hast Du, Marco, die Psychotherapie als „die größte geisteswissenschaftliche Errungenschaft des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Wie nehmt Ihr die Debatte darüber in der österreichischen Gesellschaft wahr?

Manu:
Das ist eine Generationsfrage. Je jünger die Menschen sind, desto weniger Tabus und Stigmata sind mit dem Thema verknüpft. Gleichzeitig ist Therapie für viele immer noch etwas, das man machen muss, wenn man krank ist oder irgendwie kaputt. Für mich persönlich ist das eher wie Staubsaugen. Ich räume ein bisschen auf und kann dann besser atmen.

Marco:
Dabei erlebt das Thema Therapie in seinem Etablierungsmomentum aber auch eine grenzenlose Übersteigerung – was meiner Meinung nach verdammt wichtig ist. Wir alle wissen, dass etliche gesellschaftliche Themen und Strömungen gibt, die auch mal übersteigert auftreten müssen, damit sie am Ende bei zwei Prozent der Leute ankommen.
Dennoch ist Therapie natürlich nicht die Lösung, Therapie allein reicht nicht. Sie ist nur ein Tool von vielen, um als Mensch zu wachsen oder eine Krise zu bewältigen. Lustigerweise gibt es Gesellschaften, die so etwas wie Therapie gar nicht kennen. Auf den Seychellen zum Beispiel, wo wir unser Video zu „Jeder kann es sein“ gedreht haben. Ich habe mich dort mit sehr vielen Menschen unterhalten und es scheint tatsächlich so zu sein, dass es auf den Seychellen keinen einzigen Therapeuten gibt. Das ist eine Gesellschaft vollkommen ohne Therapie. Irgendwie faszinierend.

Ray:
Das habe ich auch gehört. Die Therapie der Menschen dort besteht einfach darin, am Strand zu sein, das Meeresrauschen zu hören und in die Ferne zu schauen. Und das scheint zu wirken. Die Leute, mit denen wir dort in Kontakt gekommen sind, wirkten wirklich sehr aufgeräumt.

»Vor der Band hatte ich keine Verantwortung – und damit habe ich sehr schlecht gelebt.«

MYP Magazine:
Auch Eure Musik hat für viele eine gewisse therapeutische Wirkung. Nach zwölf Jahren Wanda sind Eure Songs bei unzähligen Menschen mit ganz besonderen Momenten, Situationen und Erinnerungen verknüpft. Erwächst daraus eine gewisse Verantwortung?

Marco:
Seit es uns gibt, hören wir immer wieder sehr persönliche Sätze wie: „Hey, eure Musik hat mir wirklich geholfen in einer schweren, existenziellen Krise.“ Dementsprechend haben wir diese Verantwortung schon sehr früh gespürt – allerdings nicht auf der Bühne, wo alles immer sehr ekstatisch ist. Sondern eher hinter den Kulissen, wenn wir unseren Fans persönlich begegnen.

MYP Magazine:
Wie geht Ihr mit dieser Verantwortung um? Kann einen das nicht schnell mal überfordern, vor allem, wenn man selbst gerade in einer existenziellen Krise steckt?

Marco:
Ich bin für diese Verantwortung zu einem gewissen Grad dankbar, weil sie meinem Leben auch eine höhere Sinnhaftigkeit verleiht. Vor der Band hatte ich keine Verantwortung – und damit habe ich sehr schlecht gelebt. Mit einer Verantwortung zu leben, ist deutlich besser.

»Das neue Album allein macht uns nicht aus.«

MYP Magazine:
Zu Beginn unseres Gesprächs habt Ihr erklärt, dass Ihr „Ende nie“ als Debütalbum begreift. Wie blickt Ihr auf die vielen „alten“ Songs, mit denen Ihr bekannt und berühmt geworden seid? Entwickelt man nicht automatisch eine Distanz zu dem, was mal vor zehn, zwölf Jahren war?

Ray:
Das sind ja trotzdem immer noch wir! Klar, das neue Album ist eine große musikalische Weiterentwicklung. Aber das allein macht uns nicht aus. Sondern die Summe dessen, was wir in all der Zeit zusammen geschaffen haben.

Manu:
Ich freue mich auch jetzt schon auf den ersten Anschlag von „Bologna“, wenn wir wieder auf Tour gehen. Das spielt sich einfach nicht tot.