Portrait — Sebastian Schneider

Anleitung zum guten Leben

Was wäre die Welt ohne das geschriebene Wort? Und was wäre das geschriebene Wort ohne die Menschen, die es auf die Theaterbühne bringen? Wir haben Schauspieler Sebastian Schneider fast ein Jahr lang begleitet und erfahren, warum ein Buch wie ein bester Freund sein kann. Und wieso es wichtig ist, das Unbekannte zu umarmen.

30. Oktober 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Die folgende Geschichte – also alles, was sich über die Dauer von fast einem Jahr ereignen wird –, beginnt mit einem simplen Post auf Instagram. Am 3. November 2018 veröffentlicht dort Sebastian Schneider, Theater- und Filmschauspieler und zu dieser Zeit 27 Jahre alt, in einer Insta-Story folgende Textpassage, die er aus einem Buch abfotografiert hat:

„Popmusik ist die Form der Menschen, verstehen Sie? Wenn Intellektuelle mit den Menschen zu kommunizieren versuchen, scheitern sie in der Regel. Das ist, als versuchte man, in Japan in Althochdeutsch oder Französisch zu kommunizieren. Wenn man nach Japan geht, sollte man japanisch sprechen. Der ganze intellektuelle Müll dieses Ritual, das daraus gemacht wird, interessiert mich nicht. Man muss sich auf das wirkliche Gefühl – das einfache, menschliche Gefühl – besinnen und es in einer einfachen Sprache ausdrücken, die die Menschen erreicht. Ohne Firlefanz. Wenn ich den Menschen etwas mitteilen will, sollte ich deren Sprache sprechen. Popsongs haben diese Sprache. Sie sind eine sehr starke Form der Kommunikation.“

Es sind die Worte von Yoko Ono, die im Jahr 1980 zusammen mit John Lennon dem Journalisten David Sheff ein dreiwöchiges Interview gab. Dieses Interview, das das letzte gemeinsame des weltberühmten Künstlerpaars werden sollte, erschien am 6. Dezember 1980 im Playboy. Zwei Jahre später wurde es erneut veröffentlicht, in einem Buch mit dem Titel „Die Ballade von John und Yoko: Das letzte große Interview“. Und so fand dieses Gespräch irgendwann auch den Weg in die Hände von Sebastian Schneider, der es liebt, Texte als kleine Kostbarkeiten zu verpacken und sie anderen genauso nah ans Herz zu legen wie sich selbst. Wer ist wohl dieser Mensch? Und wie ist er?

1. Akt: Gorgonzola Club

Vier Wochen später, wir haben uns mit Sebastian zum Pizzaessen verabredet. Vorgeschlagen hat er das Restaurant Gorgonzola Club, das man im Berliner Stadtteil Kreuzberg in einer kleinen Seitenstraße zwischen Kottbusser Tor und Oranienplatz findet. Als wir das Lokal betreten, ist der junge Schauspieler bereits da und sitzt an einem kleinen Tisch mit dem Rücken zu einem großen Fenster. Seine aufrechte, leicht gespannten Körperhaltung hinterlässt zusammen mit den streng zurückgekämmten Haaren einen Eindruck, den man vor einigen Jahrzehnten wohl als aufgeräumt bezeichnet hätte. Sebastians Rücken wirkt so durchgedrückt, wie es sich bei Tisch wohl alle Omis dieser Welt von ihren bei Enkeln nur so wünschen würden.

A propos Omis: Noch bevor wir einen ersten Blick in die Karte geworfen haben, lässt uns Sebastian wissen, dass er nach der Pizza auf jeden Fall noch ein besonderes Dessert bestellen wird: Vanilleeis mit heißen Himbeeren – eine Nachtischbombe, die bei vielen von uns Erinnerungen an zuhause und an Omas gute Küche weckt.

Das Besondere an Sebastians Bestellhinweis ist nicht die Information an sich. Sondern die Art und Weise, wie er sie vermittelt. Der Schauspieler ist jemand, der die Gabe hat, das eher Beiläufige mal kurz zum Unbedingten zu erklären – allerdings ohne dabei Gefahr zu laufen, das Profane mit den wirklich großen Themen des Lebens auf eine Stufe zu stellen. Zu den wichtigsten Gehilfen seines Ausdrucks zählen außerdem die dunkle, akzentuierte Stimme und die wachen Augen, die sein jeweiliges Gegenüber im Gespräch wie Suchscheinwerfer in den Fokus nehmen – und dort lassen, bis das zu Sagende gesagt ist.

Wir bestellen Pizza und Weißwein. Sebastian greift in die Innentasche seiner Jacke, zieht ein Buch heraus und legt es vor sich auf den Tisch: Die Ballade von John und Yoko: Das letzte große Interview. „Zu der Zeit, als ich dieses Buch gelesen habe“, beginnt er zu erzählen, „habe ich auch sehr viel Musik von den Beatles gehört – wahrscheinlich, weil ich das in meiner Kindheit verpasst habe.“ Dabei sei vor allem der Song For No One bei ihm hängengeblieben. „Dieser Song handelt von einer Liebe, die vorbei ist“, erklärt Sebastian. „Die Melodie ist total einfach, der Text aber sehr tiefsinnig. Das macht den Song für mich so allgültig und zu einem der schönsten Liebeslieder, die ich je gehört habe“, gesteht er und fügt hinzu: „Dieser Song geht jedem direkt ins Herz – der Beat ist so schnell wie das Leben, das an einem vorbeirauscht, wenn man es nicht irgendwann mal packt.“

»Manchmal hat man ein Buch dabei wie einen besten Freund.«

Die besagte Textstelle, die er damals auf Instagram gepostet habe, thematisiere genau das, lässt uns Sebastian wissen. Wie in der Musik gehe es auch in der Schauspielerei darum, sich auf das wirkliche Gefühl – das einfache, menschliche Gefühl – zu besinnen und es in einer einfachen Sprache ausdrücken, die die Menschen erreiche. „Lies dieses Buch!“, stößt es aus ihm heraus. „Es ist voller großer, wichtiger Gedanken. Manchmal hat man ein Buch dabei wie einen besten Freund. Ich trage es seit Wochen in meiner Tasche und habe gerade in der U-Bahn nochmal darin gelesen. Das, was John und Yoko sagen, ist eigentlich recht einfach – aber trotzdem ist es extrem wichtig, dass es überhaupt jemand sagt.“

Bei diesem ersten Gespräch mit Sebastian Schneider trägt er einen dunkelgrauen Pullover, auf dem in Brusthöhe die Worte Don’t look back zu lesen sind. Wer in den Neunzigerjahren aufgewachsen ist und den Aufstieg und Niedergang der Band Oasis erlebt hat – und sei es nur beiläufig im Radio –, fühlt sich fast automatisch dazu hingerissen, in anger zu addieren. „Natürlich ist es auch wichtig, in die Vergangenheit zu blicken“, sagt Sebastian. „Viel interessanter finde ich es aber, nach vorne zu schauen.“ Ein Lebensmotto sei dieser Satz allerdings nicht, fügt er hinzu. „Don’t look back ist eine Verneinung. Wenn ich tatsächlich ein Motto für mich persönlich formulieren müsste, würde ich daraus immer ein Ja machen – etwas Positives.“

Aufgewachsen ist der Schauspieler im niedersächsischen Ottersberg, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bremen, wo er eine Waldorfschule besuchte. Besonders in Erinnerung geblieben, so erzählt er, sei ihm ein äußerst engagierter Klassenlehrer, der in der 8. Klasse mit den Schülerinnen und Schülern sechs Wochen lang das Theaterstück Der Herr der Fliegen von William Golding einstudierte: „Dieser Lehrer hatte vor den Proben zwei Tonnen Sand besorgt und auf die Bühne gekippt. Wir Kinder sollten dann diverse Topfpflanzen von zuhause mitbringen, mit denen wir auf dem Sand das Bühnenbild errichtet haben: einen Dschungel.“

Ein leichtes Grinsen wandert über Sebastians Gesicht. „Wenn ich mich daran zurückerinnere, waren diese sechs Wochen für mich das Geilste“, erklärt er. „In dieser Zeit habe ich gewusst, warum ich zur Schule gehe – dafür habe ich mich sonst nie so wirklich interessiert.“ Ohnehin habe er sich als Kind viel gelangweilt, gesteht er und fährt fort: „Es gab damals nichts anderes, bei dem ich so viel Kraft, Begeisterung und Schonungslosigkeit aufbringen konnte wie in dieser Theaterzeit.“

»Ich bin ein Staunender bei allem, was ich erlebe.«

Schon in der ersten Klasse spielte Sebastian einen Feuergeist. Die Aufführung fand im Freien und bei starkem Regen statt, doch das war ihm egal. „Nach der Vorstellung haben mich die Leute dafür gelobt, dass sie mich trotz des schlechten Wetters bis in die letzte Reihe verstehen konnten. Das war ein tolles Kompliment und hat mir sehr geschmeichelt.“

Durch die Schulaufführungen hatte der Junge Blut geleckt. Und so dauerte es nicht lange, bis er auch außerhalb der Schulzeit Theater spielen wollte. Er lernte das Theater am Goetheplatz in Bremen kennen und übernahm dort wenig später erste Rollen. Das altehrwürdige Haus im Bremer „Viertel“ hatte es ihm aber nicht nur als Schauspieler angetan, sondern auch als Zuschauer. „Ich habe an diesem Ort wirklich sehr viel Zeit verbracht“, erzählt er. „Oft saß ich staunend im Publikum und dachte: Mein Gott, was macht ihr da! Ich war völlig beeindruckt von diesem besonderen Kosmos, den ich dort kennenlernen durfte, und wollte unbedingt Teil dessen sein.“

Dieses Staunen, von dem Sebastian berichtet, ist etwas, was ihm in den folgenden Jahren immer wieder begegnen sollte. „Ich bin ein Staunender bei allem, was ich erlebe – vor allem in Situationen, mit denen ich nie gerechnet hätte“, erklärt er und fügt hinzu: „Ich staune sehr oft und sehr viel in meinem Leben.“ Doch er habe ebenso feststellen müssen, sagt er, dass gerade dieses anfängliche Staunen, das er als jugendlicher Zuschauer im Bremer Theater immer wieder an sich selbst erlebte, mit den Jahren abgenommen habe. „Diese Art von Staunen ist mir auf jeden Fall abhandengekommen – oder hat sich zumindest sehr verändert“, sagt Sebastian. „Manchmal passiert es zwar wieder– aber das kostet etwas.“

»Wenn man aus so einer Liebe einen Beruf macht, verändert sich der Blick darauf.«

Der Grund, warum diese Art des Staunens mit der Zeit immer seltener geworden sei, sei ganz banal, erklärt er: „Wenn man aus so einer Liebe einen Beruf macht, verändert sich der Blick darauf.“ Dass es überhaupt so weit kam in Sebastians Leben, liegt an den Darstellerinnen und Darstellern, die er am Bremer Schauspielhaus kennengelernt hatte. Von ihnen erfuhr er, dass es so etwas wie Schauspielschulen gibt, an denen man diesen Beruf von Grund auf erlernen kann. Das wusste er bis dahin nicht – und so stand für den mittlerweile 18-Jährigen relativ schnell fest, was er nach der Schule machen wollte. Sein Abitur hatte er da gerade mit Ach und Krach bestanden.

Was folgte, waren vier Jahre Ausbildung an einer der renommiertesten Schauspielschulen Deutschlands, der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. „Als ich angefangen habe, dort zu studieren, hatte ich keine Ahnung von nichts“, erinnert sich Sebastian „Ich war ein kleiner Junge. Und so war ich erst mal völlig weggefegt von dem, was mir dort entgegenkam.“

An der Schauspielschule, so erklärt er, befinde man sich in der besonderen Situation, dass man fast ununterbrochen mit Leuten zusammen sei, die das Gleiche machen und lieben wie man selbst. „Das sind Menschen, die alle einen ganz ähnlichen Weg gegangen sind – und die sich irgendwann entschieden haben, mit der Schauspielerei ernst zu machen“, sagt er und ergänzt: „Das war für mich manchmal auch schwierig, denn ich war jetzt nicht mehr der Einzige.“ Diese Zeit habe ihn sehr verändert, erzählt Sebastian. „In diesen vier Jahren Ausbildung bin ich irgendwie erwachsen geworden – falls ich überhaupt jemals erwachsen werde, ich weiß es nicht so genau.“ Und er fügt hinzu „Man lernt einen Beruf und ist gleichzeitig Teil einer Konstellation von Menschen, die alle von Anfang an das große Bedürfnis hatten, sich viel voneinander zu geben.“

»Uns hat interessiert, was wir in der heutigen Zeit mit Heiner Müller anfangen können – wir, die wir alle nach 1989 geboren sind.«

Diese Verbindung zu seinen Mitstudentinnen und -studenten war so stark, dass sie selbst bestehen blieb, als er im Jahr 2015 sein Studium an der „Ernst Busch“ erfolgreich beendete. Zusammen mit fünf anderen Schauspielern formte Sebastian eine Theatergruppe, die den Namen Neues Künstlertheater Berlin trägt und bis heute immer wieder gemeinsam Stücke erarbeitet und auf die Bühne bringt.

Ihre Geburtsstunde erlebte die Theatergruppe bereits 2014, als die jungen Künstlerinnen und Künstler sich mit dem Antikendrama Philoktet von Heiner Müller beschäftigten. Müller gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerpersönlichkeiten der DDR. „An der Busch gibt es etliche Dozentinnen und Dozenten, die in der ehemaligen DDR lebten und arbeiteten“, erklärt Sebastian. „Dementsprechend kann dort jeder ganz genau sagen, wie man Heiner Müller macht – oder besser gesagt, wie man diese Sprache spricht und wie man seine Werke inszenieren muss.“ Das habe ihm und seinen Kommilitonen damals aber nicht gereicht: „Dieser Text ist ein sehr politischer. Daher hat uns vor allem interessiert, was wir persönlich in der heutigen Zeit mit diesem Stück und dem Autor Heiner Müller anfangen können – wir mit unserer kurzen Vergangenheit, die wir alle nach 1989 geboren und in Westdeutschland aufgewachsen sind.“

Die sechsköpfige Truppe nahm sich zu Beginn der Proben zwei Wochen Zeit und ging mit dem Text in Klausur. „Wir haben uns vorgenommen“, erzählt Sebastian, „dass wir uns 14 Tage geben. Sollten es uns in dieser Zeit nicht gelingen, irgendetwas mit dem Stück anzufangen, nehmen wir ein anderes.“ Sebastian macht eine kurze Pause, dann fügt er hinzu: „Aber wir haben uns in diesen Text wortwörtlich verliebt – und so haben wir daraus eine eigene Inszenierung gemacht. Und nicht nur das, wir haben dabei auch eine ganz eigene Arbeitsweise entwickelt. In dieser intensiven Probenzeit entstand zwischen uns ein besonderer Zusammenhalt, der bis heute besteht.“

»Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass meine Arbeit in Bern nicht viel mit dem zu tun hat, was ich für mein Leben möchte.«

Seit 2014 hat das Neue Künstlertheater Berlin Heiner Müllers Philoktet immer wieder aufgeführt, in ständig wechselnden Konstellationen, Orten und Darstellungsweisen. „Unser Stück verändert sich dauernd“, erklärt Sebastian. „Das liegt daran, dass es einen inhaltlichen Bezug zur aktuellen Lage der Welt herstellt – und die verändert sich ebenso permanent.“ Was sich im Laufe der Jahre auch veränderte, war die Gruppe selbst. Bestand es 2014 aus sechs männlichen Schauspielern, verdoppelte sie in fünf Jahren nicht nur die Anzahl ihrer Mitglieder, sondern reduzierte auch signifikant die Männerquote von anfangs einhundert Prozent.

Auch wenn sich die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler mit dem Neuen Künstlertheater Berlin eine gemeinsame Plattform geschaffen hatten, trieb es sie nach ihrem Abschluss an der „Ernst Busch“ und auf der Suche nach einem festen Engagement in alle Himmelsrichtungen. Sebastian fand eine Anstellung am Konzerttheater Bern – und erlebte dort „viel Konfrontation mit der Realität“, wie er berichtet. „Nach vier Jahren Schauspielschule war ich hundertprozentig sicher, dass ich ans Theater gehen will, um dort so viel es irgendwie geht zu spielen. Ich dachte: Das ist genau das, was ich machen will.“ Doch nach einer Spielzeit beendete Sebastian sein Engagement. „Ich habe plötzlich gemerkt, dass es für mich woanders weitergeht – aber wo genau, habe ich damals noch nicht gewusst. Mein Bauchgefühl hat mir gesagt, dass meine Arbeit in Bern nicht viel mit dem zu tun hat, was ich für mein Leben möchte.“ Diesem Bauchgefühl folgte er und zog kurzerhand zurück nach Berlin. Dennoch, das sei ihm wichtig zu sagen, habe er die Zeit in der Schweiz nie bereut. Dieses Jahr sei eine sehr wichtige Erfahrung für ihn gewesen.

»Man entscheidet jeden Tag selbst, wie man leben möchte.«

Dass diese Phase des Suchens keine einfache war, merkt man ihm an, zumindest für einen Moment. Wenn es um das eigene Leben geht, kann Angst ein ständiger Begleiter sein – ein Begleiter, der mit Dauerkarte jeden Abend im Publikum sitzt. Und sitzen bleibt, auch wenn die Vorstellung schon lange zu Ende ist. „Für mich war irgendwie klar, dass ich gegen Ängste kämpfen will, und zwar dauernd“, sagt Sebastian und fährt fort: „Angst ist manchmal ein Riesenmotor und manchmal ein Riesenhindernis. Als ich noch ein Teenager war, war meine Entscheidung, in die Schauspielerei zu gehen, eine völlig unbewusste und dementsprechend angstfreie. Aber mittlerweile denke ich anders über die Dinge nach und frage mich immer wieder, was Angst bedeutet. Dabei bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Angst genau anzuschauen, sie ernst zu nehmen und zu fragen, wo sie mich hinführt. Ob sie reagiert. Ob sie mich vielleicht sogar anlächelt und sagt: Hey, ich bin auch da! Aber das ist ok. Man entscheidet ja jeden Tag selbst, wie man leben möchte.“

Es ist spät geworden an diesem ersten Gesprächstermin. Wirkte Sebastian zu Beginn noch überaus aufgeräumt, scheint es jetzt fast so, als hätte er eine zweistündige Theateraufführung hinter sich – auf der Bühne, wohlgemerkt. Die streng zurückgekämmten Haare haben sich im Laufe des Abends zu einer wilden Frisur verwandelt, seine Gestik wurde energetischer, die Mimik bestimmter, die Stimme noch entschlossener.

Die Kellnerin des „Gorgonzola Club“ serviert einen großen Eisbecher mit heißen Himbeeren und nimmt die mittlerweile leere Weinflasche mit. Ein breites Grinsen wandert über Sebastians Gesicht. Für heute soll es genügen.

2. Akt: Aunt Benny

Fünf Monate später, es ist der 28. April 2019 und Sebastian Schneider seit wenigen Tagen 28 Jahre alt. Um unser Gespräch aus dem Dezember fortzusetzen, haben wir uns mit dem Schauspieler bei Aunt Benny verabredet, einem kleinen Café zwischen Ostkreuz und Frankfurter Allee.

Wie bei unserem ersten Treffen kurz vor Weihnachten ist Sebastian bereits da und sitzt gedankenversunken und mit dem Rücken zur Wand an einem kleinen Tisch – wobei sitzt nicht das treffende Wort ist. Halb kauernd, halb lehnend hat er seinen Oberkörper so ungewohnt in einen kleinen Wandvorsprung verdreht, dass es scheint, als wolle er sich in die kahle Wand kuscheln. Von seiner eigenen Körperhaltung völlig unbeeindruckt, hat er sich in ein Reclam-Büchlein vergraben, das er mit seiner rechten Hand dicht vor seiner Nase hält. Ein Industriestrahler, der genau über seinem Kopf hängt, dient ihm dabei als Leselampe.

Während wir diese etwas skurril anmutende Situation für einen Moment beobachten, fühlen wir uns an Sebastians Worte aus dem letzten Jahr erinnert: „Manchmal hat man ein Buch dabei wie einen besten Freund.“ Und so ist es uns fast ein wenig unangenehm, dieses freundschaftliche Zwiegespräch zu unterbrechen.

Aber die Sorge ist unbegründet. Sebastian empfängt uns mit einem freundlichen Blick und legt sein Büchlein zur Seite. Und bevor wir uns versehen, befinden wir uns auch schon wieder im Gespräch. Zurzeit arbeitete er mit seinem Neuen Künstlertheater Berlin an This Is Our Youth von Kenneth Lonergan, erzählt uns der Schauspieler. Das Stück, das im New York der frühen 1980er Jahre spielt und 1996 uraufgeführt wurde, erzählt die Geschichte des 19-jährigen Warren, der von seinem Vater zuhause rausgeworfen wird, diesem vorher noch 15.000 Dollar stiehlt und bei seinem älteren Freund und Drogendealer Dennis unterkommt. Die beiden laden zwei junge Frauen ein, mit ihnen Zeit zu verbringen, doch nur eine kommt: Modestudentin Jessica. Als sie in Dennis‘ Wohnung auftaucht, entsteht eine überraschende Dynamik zwischen den drei Protagonisten. Der Verlag S. Fischer findet dafür folgende Worte: „Es ist 1982 in New York, der Beginn der Reagan-Ära. Drei kiffende Teenager aus gutem Hause an der Schwelle zum Erwachsensein in einer Zeit, in der alles in Frage gestellt wird, was man ihnen in ihrer Kindheit beigebracht hat.“

»Man fängt an, sich locker zu unterhalten, und ehe man sich versieht, ist man bei den großen politischen Themen.«

„Das tolle an dem Stück ist“, sagt Sebastian, „dass es eine ganz außergewöhnliche Freundschaft erzählt. Dennis macht den drei Jahre jüngeren Warren eigentlich die ganze Zeit gnadenlos runter. Er schreibt ihm vor, wie er zu leben hat und erklärt ihm, wie die Welt funktioniert. Gleichzeitig merkt man zwischen den Zeilen, wie dringend sich beide gegenseitig brauchen.“ An dem Stück interessiere ihn vor allem, fügt er hinzu, dass es darin so viele Situationen gebe, die man selbst aus dem eigenen, realen Leben kenne. „Man fängt an, sich locker zu unterhalten, und ehe man sich versieht, ist man bei den großen politischen Themen“, erzählt Sebastian und verrät: „Im Original, das 1982 spielt, geht’s um Reagan. Vielleicht werden wir in unserer Inszenierung eher einen Bezug zu Trump herstellen, wer weiß.“

This Is Our Youth beeindrucke ihn und alle anderen Mitwirkende wegen der besonderen Konstellation der Charaktere, erzählt Sebastian. „Irgendwann werden von den drei jungen Leuten die großen Themen unserer Zeit diskutiert. Dabei entwickeln sie – in aller Beiläufigkeit – eine gewisse Wahrhaftigkeit. Das finden wir überaus spannend.“ Außerdem sei der Text so gut geschrieben, dass man sich da als Schauspieler „einfach reinfallen lassen und direkt finden“ könne, erklärt Sebastian und fügt hinzu: „Bis jetzt gab es beim Proben keinen einzigen Moment, in dem ich dachte: Wie machen wir das jetzt? Es ging immer sofort das Spiel los.“

Die gesellschaftspolitische Diskussion zwischen Dennis, Warren und Jessica spitzt sich im Laufe des Stücks immer weiter zu. Als die Situation zu eskalieren droht, schreitet Jessica ein und schlägt vor, einfach das Thema zu wechseln und unaufgeregt anzuerkennen, dass alle Beteiligten unterschiedlicher Meinung sind. „Ich finde diese Haltung großartig, vor allem von einer 19-Jährigen“, schwärmt Sebastian. „Unterm Strich heißt das doch: Du hast deine Meinung, ich habe meine – und das sagt überhaupt nichts über uns als Menschen aus. Ich finde, das ist eine Fähigkeit, die den meisten Leuten abhandengekommen ist. Wenn man das aufs große Ganze übertragen würde, bräuchte man am Ende vielleicht keine Kriege mehr.“

»Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung davon, was ›das Böse‹ bedeutet.«

Folgender kurzer Dialog, so lässt uns Sebastian wissen, habe sich beim Lesen des Textes besonders in seine Erinnerung gebrannt: „Ich habe wirklich den Eindruck, dass in unserer Zeit das Böse triumphiert.“ – „Ja, das glaube ich auch.“

Auch wenn der Autor des Stücks, das in den frühen 1990er Jahren unter den Eindrücken der zurückliegenden Reagan-Ära entstand, nicht erahnen konnte, was in den USA und der Welt in den folgenden drei Jahrzehnten passieren sollte, wirkt dieser kurze Gedankenaustausch heute aktueller denn je. „Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung davon, was das Böse bedeutet, daher ist es schauspielerisch sehr schwer, mit dem Begriff umzugehen“, sagt Sebastian. „Allerdings wurde gerade uns Deutschen geschichtlich eingemeißelt, was passieren kann, wenn das Böse triumphiert. Wenn ich Gottfried Benn, Mascha Kaléko oder Lion Feuchtwanger lese – also Autorinnen und Autoren, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt und in Texten verarbeitet haben –, da wird mir wirklich anders, insbesondere wenn ich Parallelen zu den Entwicklungen in unserer heutigen Gesellschaft denke.“

Trotzdem sei er kein Pessimist, versichert uns Sebastian: „Ich hoffe, dass wir Menschen in der Lage sind, uns zu entwickeln und aus den Fehlern der Generationen vor uns zu lernen. Ich persönlich glaube, dass uns das gelingen kann – wie Orestes, der schon in der griechischen Tragödie den ewigen Kreislauf der Blutrache durchbricht und sagt: Ich mache dem ganzen Elend ein Ende.“

»Wichtig ist nur, dass jemand selbstständig wird durch das, was er auf der Bühne sieht.«

Sebastian schweigt für einen Moment und verrät uns dann, dass er überaus glücklich sei, dass es in Deutschland eine so vielfältige und große Theaterlandschaft gebe. Alleine durch die unzähligen Bühnen im Land habe Theater so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag. „Aber danach wird es gleich sehr individuell“, ergänzt er. „Wenn man als Schauspieler am Theater arbeitet, sucht man sich bestenfalls ein Thema, bei dem man das Gefühl hat, dass es einen etwas angeht. Und dann hat man sechs Wochen oder acht Wochen lang die Möglichkeit, sich mit diesem Thema intensiv zu beschäftigen. Als gesellschaftlich interessierter Mensch kann man durch die Konfrontation oder Auseinandersetzung mit einem Thema zu Fragen kommen, die einen mehr interessieren als man selbst“, erklärt er und fügt hinzu: „Dass man das tun darf, ist ein Ausdruck von Freiheit. Und dass man dafür sogar Geld bekommt, ein riesiges Privileg.“

Sebastian erzählt, dass es ihn mit Glück erfülle, wenn er die Zuschauer durch sein Spiel dazu bringen könne, etwas Bestimmtes zu assoziieren oder zu empfinden. „Das kann auch mal Scham oder Abscheu sein“, sagt er. „Wichtig ist nur, dass jemand selbstständig wird durch das, was er auf der Bühne sieht.“ Und er ergänzt: „Wenn allerdings niemand im Publikum etwas mit dem anfangen kann, was ich da tue, haben wir ein Problem.“ Sofort schießen einem wieder die Worte von John Lennon in den Kopf, die der junge Schauspieler damals auf Instagram gepostet hatte: „Man muss sich auf das wirkliche Gefühl – das einfache, menschliche Gefühl – besinnen und es in einer einfachen Sprache ausdrücken, die die Menschen erreicht.“

»Vielleicht wächst da eine Gesellschaft heran, die verlernt, Mitleid zu empfinden. Die verlernt, dass es etwas anderes gibt außerhalb von mir.«

A propos John Lennon: Wir kommen auf Daddy’s Car zu sprechen – ein Song im musikalischen Stil der Beatles, der im September 2016 von Wissenschaftler des SONY CSL Research Lab veröffentlicht wurde. Das Lied wurde vollständig von einer künstlichen Intelligenz komponiert und geschrieben – auf Basis eines errechneten Querschnitts aller existierenden Beatles-Songs. Und auch wenn der Song alles andere als authentisch klingt, lässt es doch erahnen, in welche Richtung sich die Welt entwickeln wird. „Ich glaube“, vermutet Sebastian, „dass wir uns in den nächsten Jahren durch neue Technologien noch viel stärker verändern werden, als wir das bereits in den letzten zwei Dekaden getan haben. Was das mit zukünftigen Generationen machen wird, weiß ich nicht. Vielleicht wächst da eine Gesellschaft heran, die verlernt, Mitleid zu empfinden. Die verlernt, dass es etwas anderes gibt außerhalb von mir – etwas, das genauso groß ist wie ich und genauso komplex.“

Sebastian sagt, er habe die Hoffnung, dass Theater dieser Entwicklung in irgendeiner Form entgegenstehen könne – da es schon immer den Menschen in den Mittelpunkt gestellt habe und das auch zukünftig tun werde. „Menschen können Fehler machen, Menschen sind nicht perfekt – und werden es auch nie sein. Maschinen vielleicht schon“, erklärt er. „Aber ein Beatles-Song ist ja nur deshalb ein wahnsinnig guter Song, weil er eben nicht perfekt ist. Wenn man wie bei Daddy’s Car alles zusammenwirft und zu versucht, daraus etwas Perfektes zu entwickeln, verliert es seine Außergewöhnlichkeit. Unvollkommen sein ist etwas, was nur wir Menschen können.“

»Glück und Elend können vielleicht im selben Moment auf dich zukommen.«

Außerdem falle ihm noch etwas anderes ein, was der Mensch einer Maschine voraushabe: das Empfinden von Neugier. Und Neugier, erklärt Sebastian, bedeute letztendlich, sich immer wieder der Unklarheit zu stellen und für sich und andere herauszufinden, was dieses Neue bedeute. Das sei eine Form von ständiger Bewegung. Und er fügt hinzu: „In Bewegung, im Wachstum zu sein – das ist das, was mich antreibt.“

Diese Neugier, so sagt er, sei etwas, was er selbst jeden Tag aufs Neue erlebe. Dabei gehe es für ihn darum, sich dem Glück genauso auszusetzen wie dem Elend. Beides sei unfassbar wichtig. „Glück und Elend können vielleicht im selben Moment auf dich zukommen. Ich glaube, dass genau diese Ambivalenz das Leben ausmacht.“

3. Akt: Treptower Park

25. August 2019, wir treffen Sebastian Schneider ein drittes Mal. Der Schauspieler hat uns eingeladen, ihn bei einem Sonntagsspaziergang zu begleiten, und so schlendern wir zusammen erst durch den Görlitzer, dann durch den Treptower Park. Eigentlich wollten wir unser Gespräch mit Fragen zum Theaterstück Herz der Finsternis beginnen, in dem Sebastian ab dem 10. Oktober an der Schaubühne Lindenfels in Leipzig zu sehen sein wird. Gerade hat er intensive Probewochen hinter sich.

Doch ein ganz anderes Thema drängt sich geradezu auf, auch weil es fast unmöglich ist, der medialen Berichterstattung dazu zu entgehen: Der brasilianische Regenwald steht in Flammen, eine Katastrophe biblischen Ausmaßes. „Ich dachte ja“, sagt Sebastian mit besorgter Stimme, „dass es keine Bilder gibt, die mich noch schockieren könnten. Aber auf diese Fotos, die die abertausenden Feuer im Amazonasgebiet zeigen, war ich wirklich nicht vorbereitet – auch nicht darauf, was das emotional mit mir macht. Ich kann das gar nicht in Worte fassen.“

»Der Mensch handelt immer erst dann, wenn es ihn persönlich angeht oder wenn es viel zu spät ist.«

Sebastian lässt seine Augen durch die sattgrüne Parklandschaft wandern. Dann fährt er fort: „Was mich extrem nachdenklich macht, ist, dass die Menschheit scheinbar immer noch nicht so weit ist, rechtzeitig zu reagieren. Es ist doch irgendwie komisch, dass der Mensch auf eine gewisse Art und Weise so gemütlich ist, oder? Er handelt immer erst dann, wenn es ihn persönlich angeht oder wenn es viel zu spät ist. Es fällt ihm extrem schwer, sich aus dieser Lähmung zu befreien, die auch unsere Generation so stark befallen hat.“ Sebastian erklärt, dass er normalerweise ein von Grund auf optimistischer Typ sei. „Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht große Sorge habe, was die Zukunft unserer Welt betrifft,“ lässt er uns wissen.

Dennoch: Das Letzte, was der Schauspieler jemals aufgeben werde, sei die Hoffnung. „Ich glaube, dass wir – insbesondere die Leute im Alter zwischen 20 und 40 – eine extreme Kraft besitzen“, sagt Sebastian. „Noch hat das Böse nicht triumphiert. Aber um das zu verhindern, müssen wir uns aktiv die Frage stellen, was wir überhaupt wollen – und uns dann sehr schnell entscheiden, was wir tun können, um das zu erreichen.“ Und er ergänzt: „Wenn’s etwa ums Klima geht, braucht es ganz konkrete Entscheidungen, Verabredungen und Gesetze. Und Leute, die mutig genug sind aufzustehen und zu sagen: Ich denke anders!“

»Greta Thunberg tut nichts anderes, als sich selbst in dem ernst zu nehmen, was sie fühlt.«

Die in der Gesellschaft weit verbreitete Einstellung, als Einzelner könne man eh nichts ausrichten, lasse er nicht gelten: „Das ist eine Ausrede, um das eigene Nichtstun zu legitimieren“, sagt er. Man könne immer etwas tun, auch als einzelne Person. „Dass ein 16-jähriges Mädchen es schafft, mit den einfachsten Mitteln eine weltweite Jugendbewegung zu starten, die die zweitgrößte nach den Beatles ist, ist das beste Beispiel“, erklärt Sebastian und fügt hinzu: „Was macht Greta Thunberg denn letztlich? Sie tut nichts anderes, als sich selbst in dem ernst zu nehmen, was sie fühlt. Dabei geht sie in einer bestimmten Radikalität mit sich selbst um und sagt: Ich kann bestimmte Dinge nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Deshalb lasse ich sie sein. Das ist das Einzige, was sie tut.“

Wir laufen an einigen Ausflugsdampfern und Hausbooten vorbei, die im kleinen Hafenbereich am nordwestlichen Ende des Treptower Parks vor Anker liegen. „Heiterkeit“ und „Frohsinn“ steht auf zweien geschrieben. Was für eine schöne, Mut machende Geste! Und was für ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl, endlich über Herz der Finsternis zu sprechen.

Der Literaturklassiker von Joseph Conrad aus dem Jahr 1899 beginnt passenderweise mit einer Szene, die sich an Bord einer Hochseeyacht auf der Themse abspielt. Dort wartet Kapitän Marlow zusammen mit ein paar anderen Männern auf die einsetzende Flut. Während sie dort ausharren, beginnt der Kapitän, eine Geschichte zu erzählen, die sich in seinem Leben vor Jahren ereignete und die er seitdem mit sich herumgetragen hat. Diese Geschichte handelt davon, wie er einst auf einem Flussdampfer im belgischen Kongo anheuerte – aus purer Abenteuerlust und Neugier. Bereits als Kind träumte er davon, die vielen weißen Flecken zu erkunden, die es damals noch auf der Landkarte gab. Das Innere des Kongo war ein solcher weißer Fleck.

Für den Kapitän wird das Erkunden dieses weißen Flecks zu einer bedrückende Reise in das „Herz der Finsternis“ eines unbekannten Kontinents, die er, so beschreibt es Joseph Conrad, „wie eine ermüdende Pilgerfahrt durch angedeutete Alpträume“ empfindet. Aber nicht nur das: Gleichzeitig entwickelt sich diese Expedition für Marlow auch zu einer Reise zu sich selbst – und er wird mitten in der unheimlichen Fremde mit seinem innersten Selbst konfrontiert.

»Im Leben geht es nicht darum, alles verstehen zu müssen. Sondern darum, das Unbekannte als etwas anderes wahr- und anzunehmen.«

„Für diese Übermacht der Natur, der der Kapitän auf seiner Reise ausgesetzt ist“, erklärt Sebastian, „fehlen ihm eigentlich permanent die Worte. Ihm gelingt es nicht zu beschreiben, was er da sieht – weil er es mit seinem westlichen Erkennungsmechanismus, der ihm inne ist, nicht greifen kann.“ Und er ergänzt: „Für mich ist dieser Roman ein Lobgesang auf das Nichtbegreifen, Nichtverstehen, Nichtordnen und Nichtunterwerfen der Natur. Wir Menschen streben ja danach, das Gegenteil zu tun – etwas zu unterwerfen, zu kontrollieren und uns an die Spitze zu setzen. Aber ist es nicht viel spannender herauszufinden, was genau passiert, wenn man das nicht tut? Wenn man diesen menschlichen Mechanismus reflektiert und versucht, das Unbekannte und Unvorhersehbare auszuhalten. Und wenn man beobachtet, was das Neue ist, das dabei entstehen kann.“

Diese Systematik könne man auf alles im Leben übertragen, sagt Sebastian – etwa auf die Liebe: „Am meisten interessiert mich doch, was mein Gegenüber von mir selbst unterscheidet. Wenn alle Menschen so wären wie ich, dann könnte ich ja permanent bei mir zuhause vorm Spiegel sitzen und mich anschauen. Das ist doch langweilig“ Und er erklärt: „Im Leben geht es nicht darum, alles verstehen zu müssen. Sondern darum, das Unbekannte als etwas anderes wahr- und anzunehmen und offen dafür zu sein, was dann passiert.“

Dieses Unbekannte war in Sebastians Leben vor einigen Jahren noch die Sparte Film und Fernsehen. Den Beruf des Schauspielers habe er in seiner Kindheit und Jugend nur über das Theater kennengelernt, erklärt er. Doch das änderte sich mit seiner Rückkehr aus der Schweiz. Kurz nachdem Sebastian in Berlin wieder Fuß gefasst hatte, übernahm er auch immer öfter Rollen in Film- und Fernsehproduktionen. „Film ist gerade etwas, was mich unfassbar umtreibt und sehr, sehr interessiert“, erzählt er. „Mich fesselt dabei vor allem die Art und Weise, wie man die Figuren anlegt und auf welche Reise man mit ihnen geht.“ Und er fügt hinzu: „Ich habe das Gefühl, dass ich da sehr viel lernen kann – nicht, dass das beim Theater nicht so wäre. Aber diese absolute Zuspitzung auf den Moment, wie es vor der Kamera passiert, empfinde ich als etwas extrem Reizvolles. Die Klappe fällt und man gibt 150 Prozent – für zwei Minuten. Dann folgt eine längere Phase der Entspannung, bis die nächsten 150 Prozent gefordert sind.“

»Was heißt es heute, im Jahr 2019, ein Mann zu sein? Was wird da von einem erwartet in unserer Gesellschaft?«

Momentan steht Sebastian für das ZDF-Format Helen Dorn vor der Kamera, in dem er „Lola, eine Frau mit männlichen Geschlechtsmerkmalen“ spielt. „Durch diese Rolle habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, was die Begriffe Männlichkeit und Weiblichkeit überhaupt bedeuten“, erklärt er und fragt: „Was heißt es heute, im Jahr 2019, ein Mann zu sein? Was wird da von einem erwartet in unserer Gesellschaft? Ich persönlich habe für mich festgestellt, dass ich mit den Männlichkeitsbildern, die man aus der Vergangenheit kennt, nicht so viel anfangen kann – obwohl ich selbst ja ein Mann bin.“ Und er verrät: „Ich merke, dass Menschen oft überrascht sind, dass ich als Mann in irgendeiner Form sehr sensibel und gefühlvoll bin. Manche können das gar nicht so richtig einordnen. Aber zu den gängigen Klischees, die es so gibt, fühle ich mich einfach nicht zugehörig. Die habe ich zwei Jahre lang zuhause in Bremen erlebt – und vor allem gelebt –, als ich bei Werder im Stadion in der Ostkurve stand. Dort habe ich immer so geschrien, dass ich danach total heiser war. Das brauche ich heute nicht mehr.“

Oft ist Sebastian nicht mehr in Ottersberg bei Bremen, wo nach wie vor der Großteil seiner Familie lebt und wo er mal zuhause war. Aber wenn er dort mal wieder zu Besuch sei, lässt er uns wissen, dann sei er dort besonders gerne. Für ihn sei das Wort Zuhause eh nicht an so etwas wie Heimat gebunden, sondern habe eine ganz andere Bedeutung: „Zuhause sein heißt doch eigentlich, dass man so sein kann, wie man ist, ohne dass es gegen einen verwendet werden kann – weil Zuhause im Idealfall ein absolut sicherer Ort ist. Und auch ein Ort, an dem Zukunft möglich ist: Weil ich dort so sein kann, wie ich bin, bin ich in der Lage, von mir aus nach vorne zu gehen.“

Nach vorne, vorbei an „Heiterkeit“ und „Frohsinn“.
In ständiger Bewegung.
Und in der Tasche ein Buch wie ein bester Freund.

Klingt wie die Anleitung zu einem guten Leben.