Reportage — Martina Geng

Geteiltes Land, geteiltes Herz

1971 verliebt sich Martina Geng in der DDR in einen Westdeutschen – und bekommt die Härte des SED-Staats zu spüren. Nach über zwei Jahrzehnten erlebt sie eine Wiedervereinigung der besonderen Art. Chronologie einer deutsch-deutschen Liebesgeschichte.

4. November 2019 — MYP N° 27 »Heimat« — Text: Katharina Weiß & Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Die Mauer. 30 Jahre ist es jetzt her, dass sie in sich zusammenfiel. Seit 1961 stand sie da, als wäre sie für die Ewigkeit gemacht. Oder zumindest für hundert Jahre, wie Erich Honecker mal fabulierte. Doch dann kam der Abend des 9. November 1989 und es dauerte nur wenige Stunden, bis ihr Beton unter dem Freiheitsdrang von Millionen Menschen einfach so zerbröselte. Und mit ihm der Beton in den alten Köpfen des SED-Regimes.

Die Mauer teilte nicht nur Ost und West, nicht nur Kapitalismus und Kommunismus, sie separierte auch Menschen voneinander. Freunde. Familien. Liebende. Wie Martina und Jens, deren Geschichte im Juli 1971 auf der Ostseewoche in Rostock begann und deren persönliches Schicksal von diesem Bauwerk bestimmt werden sollte.

Martina war damals 19 Jahre alt und arbeitete als Volontärin für die National-Zeitung, ein Ostberliner Parteiblatt. Kurz bevor die junge Frau zum Journalismus-Studium nach Leipzig gehen sollte, hatte ihre Redaktion sie zur Berichterstattung in die Hansestadt geschickt. In der DDR war die Ostseewoche ein Ereignis: eine politische Großveranstaltung, bei der man jedes Jahr alle anderen Anrainerstaaten des Baltikums zu sich einlud. Das erklärte Ziel war die Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den skandinavischen Ländern. Und in der Tat: Während dieser Woche sollten schicksalshafte Beziehungen geknüpft werden – wenn auch auf einer Ebene, die der ostdeutschen Führungsspitze kaum am Herzen gelegen haben dürfte.

Das Motto im Jahr 1971 lautete: „Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein.“ Frieden – ein groteskes Wort, wenn man an all jene denkt, die beim Versuch, die aufs Schärfste bewachte Grenze der Deutschen Demokratischen Republik zu überqueren, ihre Freiheit, ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben gelassen haben.

Daher ist die Geschichte der Mauer auch immer eine, die nicht nur auf der großen politischen Bühne erzählt werden darf. Sondern genauso auf der individuellen, persönlichen, da sie das Leben unzähliger Menschen fundamental verändert hat und noch bis heute beeinflusst.

Das Kennenlernen

»Ich war gerade mit meiner Suppe fertig, da setzte sich so ein Kerl an meinen Tisch.«

Wann und wo man sich auf dieser Erde in einen anderen Menschen verknallt, und dann noch über beide Ohren, wird wohl eines der letzten großen Geheimnisse des Lebens bleiben. Zumindest darin herrscht schon immer Einigkeit, egal ob Ost oder West.

Martina Geng sollte der berühmte Blitz treffen, als sie an einem Tag im Juli 1971 beim Mittagessen in der improvisierten Kantine des Rostocker Pressezentrums saß. „Ich war gerade mit meiner Suppe fertig, da setzte sich so ein Kerl an meinen Tisch und fing an, mich auszufragen. Er wollte wissen, wo ich herkomme und so weiter“, erinnert sich Martina Geng, die heute 68 Jahre ist und selber kaum fassen kann, dass sich diese Geschichte vor mehr als vier Dekaden zugetragen hat.

Damals, so zeigen alte Fotos, war sie blond, hatte sanfte blaue Augen und sinnliche Lippen. An jenem Tag, das weiß Martina noch, als sei es gestern gewesen, trug sie ein blau-weißes, kurzen Sommerkleid. Selbstgenäht, betont sie. Der Unbekannte mit dem spitzbübischen Lächeln, der sich ihr als Jens Jahnke vorstellte, war ganz in Cord gekleidet – inklusive der Schuhe, das war damals sehr in Mode. Martina erkannte sofort, dass der Mann aus dem Westen kommen musste.

»Abhängen! Sofort abhängen!«

Jens erzählte ihr, dass er in Frankfurt am Main arbeitete und von der Zeitung Konkret zur Berichterstattung nach Rostock geschickt wurde. Die Unterhaltung wurde immer netter und netter und mündete schließlich in einer Einladung: Jens bot Martina an, sie auf eine abendliche Schiffsfahrt mitzunehmen, die von Rostock aus aufs offene Meer führte. „Ich fand ihn sehr witzig und originell. Natürlich sagte ich sofort zu.“, erinnert sich Marina mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Doch kaum hatte sich der junge Journalist aus dem Westen verabschiedet, stellte ein Kollege der National-Zeitung seinen Schnitzelteller genau an dem Platz ab, auf dem zuvor Jens gesessen hatte. Der Mann, den Martina kaum kannte, fragte mit seltsam unterdrückter Stimme, die Lippen kaum bewegend: „Wer ist denn das?“

„Journalist aus Westdeutschland“, antwortete sie, woraufhin er hervorpresste: „Abhängen! Sofort abhängen!“

»Meine Zweifel hätte ich vor einem Wessi nie zugegeben.«

Martina, damals noch überzeugte Sozialistin, war gar nicht begeistert von dieser Aufforderung. Zuvor, im Gespräch mit Jens, hatte sie mächtig damit angegeben, wie toll doch ihrer Meinung nach in der DDR die Gesundheitsversorgung und die niedrigen Mietpreise seien und wie freiheitlich das Mehrparteiensystem sei. Auch wenn sie schon erste Skepsis gegenüber dem System hatte, gesteht sie ein: „Meine Zweifel hätte ich vor einem Wessi nie zugegeben. Ich wollte nicht ihm auch nicht verraten, dass mir ein Kollege verboten hatte, mit ihm einen Ausflug zu machen. Das wäre mir viel zu peinlich gewesen.“

Also ging sie mit ihm aufs Schiff. Und während die anderen Passagiere gemächlich Stehblues tanzten und zur Melodie von „Wie ein Stern“ schunkelten, einem Lied, mit dem sich in jenem Jahr DDR-Schlagerstar Frank Schöbel durch die ostdeutsche Hitparade schmachtete, diskutierten Martina und Jens bis in die Morgenstunden über Politik. Und sahen sich dabei tief in die Seele.

Das Verlieben

»Für intelligente Männer, die mit Sprache umgehen können, hatte ich schon immer eine Schwäche.«

Am Tag nach dem Rendezvous am See unter funkelndem Sternenhimmel hatten Martinas Schmetterlinge im Bauch schon ordentlich Wellengang: Die beiden küssten sich zum allerersten Mal auf einer Mole in Warnemünde.

„Mir hat an ihm gefallen“, sagt sie, „dass er so wahnsinnig frech war. Jens konnte Dinge sagen wie ,Wann schläfst du mit mir?’ und es war immer noch charmant.“

Zu erotischen Stunden zu zweit kam es in der Woche allerdings nie: Martina war, wie die meisten ostdeutschen Journalistinnen und Journalisten, bei Privatpersonen untergebracht und schlief in einem engen Bett bei einer sechsköpfigen Familie. Jens war zwar in den Genuss eines Hotelzimmers gekommen, doch da sich ein Besuch von Erich Honecker ankündigte, musste das Hotel kurzfristig geräumt werden. So landete er schließlich in einem Seemannsheim mit Stockbetten, in dem er sich ein Zimmer mit drei anderen teilen musste.

Aufgrund fehlender Rückzugsmöglichkeiten suchten sich die beiden ruhige Orte in der Stadt, um lange Blicke und intensive Gespräche auszutauschen. „Für intelligente Männer, die mit Sprache umgehen können, hatte ich schon immer eine Schwäche. Und er war auch viel freier als alle, die ich bis dahin kennengelernt hatte – in seiner ganzen Beurteilung der Welt und des Lebens.“

»Wenn Martina wegen dir Ärger bekommt, dann beschütze ich sie.«

Jens hatte in den Sechzigern an der Universität Tübingen bei Ernst Bloch studiert. Der berühmte deutsche Philosoph und Neomarxist, der zur Zeit des Nationalsozialismus im Exil gelebt und sich nach dem Krieg für ein Leben in Ostdeutschland entschieden hatte, war 1961 nach dem Bau der Mauer von einer Reise in den Westen nicht zurückgekehrt und nahm eine Gastprofessur in Tübingen an. Später arbeitete Jens viele Jahre lang als persönlicher Assistent von Theodor W. Adorno, ein anderer berühmter deutscher Philosoph und Soziologe, der zu den Hauptvertretern der sogenannten Frankfurter Schule zählte, eine als Kritische Theorie bezeichnete Denkrichtung.

Das Ausmaß der Gefühle war beiden schnell bewusst: „Wir haben uns richtig ineinander verliebt“, erzählt Martina. Vor dem skeptischen Kollegen hielt sie ihr Rendezvous geheim.

Zwei Tage vor der Abreise wechselte das Personal und ein neuer Gesandter der National-Zeitung kam in Rostock an. Martina kannte diesen Kollegen bereits und mochte ihn. Kurzerhand entschied sie, ihn mit Jens bekannt zu machen. Die Chemie zwischen den Dreien stimmte sofort. „Wir gingen sogar zusammen einen saufen“, erzählt sie von einem Abend in der Kogge, der ältesten maritimen Kneipe der Stadt. Das Trio prostete sich ordentlich zu. Nach ein paar Gläsern trafen sich die Männer am Urinal und der ostdeutsche Kollege versprach dem westdeutschen Journalist: „Wenn Martina wegen dir Ärger bekommt, dann beschütze ich sie.“

»Ich muss Meldung machen.«

Am Ende der Woche fuhr Martina mit Jens zurück nach Ostberlin. Er schlief eine Nacht bei seinem Bruder, der im Westteil der Stadt studierte. Am nächsten Tag folgte die tränenreiche Verabschiedung vor der Wohnung von Martinas Familie in Berlin-Karlshorst. Als sich die beiden in den Armen lagen, sah ihre Mutter vom Fenster aus auf den suspekten Westler herab und beobachtete das Geschehen mit finsterer Miene.

Wenige Stunden später, es war Sonntagabend, klingelte das Telefon. Ein Anruf des Kollegen aus Rostock: „Du Martina, ich habe nochmal mit meiner Frau darüber gesprochen“, beginnt er seinen Satz. Er habe sich überlegt, dass er doch ziemlich Ärger bekommen könnte, falls die Geschichte mit der Liebelei auffliegt. „Ich muss Meldung machen“, beschloss er daher – auf Drängen seiner Frau. In Martinas Augen flackert noch heute der Blick eines trotzigen, verliebten Teeangers auf, wenn sie von ihrer Antwort erzählt: „Ich habe dann schnippisch gesagt: Wenn es sein muss, dann mach das.“ Am nächsten Tag war nichts mehr so wie davor.

Die Strafe

»Hat der Mann Sie angefasst? Haben Sie den geküsst? Haben Sie mit dem geschlafen?«

Am Montagmorgen stöckelte Martina in die Prenzlauer Allee, wo die Büroräume der National-Zeitung lagen. Das Blatt diente als Zentralorgan der National-Demokratischen Partei Deutschlands. Da das formale Mehrparteiensystem der DDR eine Farce war, installierte die sowjetgelenkte SED mehrere andere offizielle Parteien, die sich gegenseitig künstlich Konkurrenz machten. Die NDPD war eine dieser Pseudo-Parteien, aus der das demokratische Mäntelchen der SED-Herrschaft gestrickt war. Einst war sie gegründet worden, um Alt-Nazis in das sozialistische System einzugliedern. Die Arbeitsstelle bei dem NDPD-Blatt war definitiv nicht Martinas erste Wahl, aber journalistische Volontärsplätze waren in der DDR mehr als rar.

Kaum war sie im Büro angekommen und hatte ihre Tasche auf dem Schreibtisch abgelegt, teilte ihr die Sekretärin mit: „Frau Schirrmacher, bitte zum Chefredakteur!“ Den sah die junge Volontärin normalerweise nur alle vier Wochen bei einer großen Redaktionskonferenz.

Spätestens als sie sein Büro betrat, wusste Martina, dass sie in Schwierigkeiten war. Vor ihr saßen nicht nur der Chefredakteur, sondern auch der Personalchef und sogar der Verlagsleiter. Eine Reihe alter Männer, die ihren Autoritarismus noch aus dem Dritten Reich hinüber in das neue System gerettet hatten.

Eine Stunde arbeiteten sie sich verbal an der jungen Frau ab: „Was bilden Sie sich ein? Der Mann ist ein Spion! Glauben Sie, Sie hätten ihn vom Sozialismus überzeugen können?“ Martina wurde beschimpft und zunehmend in die Enge getrieben. Dabei wurden die Fragen immer indiskreter: „Sie sind ein politischer Versager! Hat der Mann Sie angefasst? Haben Sie den geküsst? Haben Sie mit dem geschlafen?“

»Das hättest du wissen können, wenn du mit einem Westler anbandelst.«

„Die haben mich regelrecht fertiggemacht“, erinnert sich Martina heute mit zittriger Stimme. Am Ende der Tirade wurde ihr mitgeteilt: So politisch unreif, wie sie sei, könne man ihr nicht gestatten zu studieren. Sie müsse noch ein Jahr in der Obhut der National-Zeitung bleiben, um sich zu bewähren. Zudem wurde gedroht: „Nehmen Sie keinen Kontakt mehr mit dem Mann auf, wir lassen Sie ab jetzt von der Stasi überwachen.“

Auf einmal stand Martina auf der Seite jener Menschen, die keinen sicheren Platz mehr im System der DDR hatten. Was muss das für ein Staat gewesen sein, der Angst vor dem Sommerflirt einer Teenagerin hatte?

Verständnis oder gar Verteidigung konnte sie nicht erwarten, noch nicht einmal von engen Freunden oder ihrer Familie. „Die gingen auf Abstand“, erzählt Martina und fügt hinzu: „Sie vertraten die Haltung, dass ich mir das selbst zuzuschreiben hätte. Es hieß: Das hättest du wissen können, wenn du mit einem Westler anbandelst.“ Dann zögert sie eine Weile und sagt: „Es ging mir ganz fürchterlich.“ Vor allem die Reaktion ihrer Mutter brannte sich Martina ins Gedächtnis. Kreischend und zeternd machte sie ihrer Tochter Vorwürfe: „Um Gottes Willen! Deinetwegen dürfen deine Geschwister jetzt auch nicht studieren und ich verliere meinen Job.“

»Ich war gezwungen ihm zu schreiben, dass ich einen anderen Typen hätte.«

Am nächsten Tag wurde die Mutter tatsächlich zu den „alten Säcken“ bestellt, um über die Verfehlung ihrer Tochter Bericht zu erstatten. Als sie von ihrem Verhör zurückkam, nötigte sie Martina, einen handschriftlichen Brief an Jens zu verfassen: „Ich war gezwungen ihm zu schreiben, dass ich einen anderen Typen hätte und daher nichts mehr von ihm hören oder sehen wollte.“

Nachdem der erzwungene, von vorne bis hinten gelogene Text abgeschickt war, tobte es in Martina. Dabei erinnerte sich wieder an Jens’ Abschiedsworte, die ihr damals in Rostock eher unwichtig erschienen waren: Wenn sie Ärger bekomme, sagte er damals, solle sie eine Nachricht an seinen Bruder in Westberlin schicken. Adresse: Knesebeckstraße 16. In den darauffolgenden Tagen stand Martina unzählige Male am sogenannten Tränenpalast, der berühmt-berüchtigten Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße. In ihren Händen hielt sie die fertig formulierten Zeilen, doch am Ende traute sie sich einfach nicht, einen fremdem Westtouristen anzusprechen und ihn zu bitten, ihren Brief in den anderen Teil der Stadt zu schmuggeln.

„Ich gab mir selbst die Schuld an meinem Unglück“, berichtet Martina. „Ich warf mir vor, dass ich damals in Rostock so naiv war und mir keine Gedanken über die drohenden Konsequenzen gemacht hatte. Und so war ich mit meiner Situation absolut einsam und alleine“, sagt sie mit feuchten Augen. Aber trotz der enormen Einschüchterungen rebellierte Martinas eigenes Wertesystem gegen irgendeine Einsicht, gegen irgendeine Läuterung: „Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Verwerfliches gemacht zu haben, dafür hatte ich mich in diesen Mann einfach zu sehr verliebt. Daher war ich fest davon überzeugt: Die haben gar kein Recht, daran irgendetwas Falsches zu sehen!“

Die Repressalien

»Als du auf Toilette warst, hat der Typ deine gesamte Handtasche durchwühlt.«

In den Wochen nach dem Vorfall wurde Martina in ihrem Arbeitsumfeld von vielen Menschen gemieden. Reden konnte sie mit niemandem. Eines Tages ging sie mit einem entfernten Kollegen aus der Redaktion ein Bier um die Ecke des Verlags trinken. Ein paar Schriftsetzer saßen am Nebentisch. Am nächsten Morgen erzählten ihr diese Mitarbeiter: „Weißt du, mit wem du da gesessen hast? Als du auf Toilette warst, hat der Typ deine gesamte Handtasche durchwühlt und deinen Ausweis rausgenommen.“

Von da an war Martina allen Menschen gegenüber misstrauisch. „Wenn jemand freundlich zu mir war, bin ich sofort auf Abstand gegangen. Ich fragte mich immer: Ist der von der Stasi oder ist das einfach nur ein netter Mensch?“, beschreibt sie ihr damaliges Bauchgefühl. Dieses grundsätzliche Misstrauen setzte sich lange in ihr fest. Sie lernte, ihre Gedanken zurückhalten und den Blick zu senken. Außerdem versuchte sie in den folgenden Monaten, so fleißig wie möglich zu sein, um sich zu „bewähren“ und doch noch studieren zu können. Immer wieder wurde sie von ihren Vorgesetzten dazu gedrängt, endlich in die NDPD einzutreten.

Noch heute erinnert sich Martina an einen besonders unpassenden Überredungsversuch eines Parteimitglieds: „Sie müssen uns zeigen, dass wir füreinander gut sind. Das ist wie in einer guten Ehe: So kann man sich beweisen, dass man auch nach Verfehlungen wieder Vertrauen zueinander finden kann.“

»Meinen Sie denn, dass die Arbeiterklasse Schlamm wäre?«

Doch Martina weigerte sich jedes Mal, einen Mitgliedsantrag zu unterschreiben. Mit dieser Altnazi-Partei wollte das junge Mädchen nichts zu tun haben, auch nicht auf dem Papier. Die Strafe: Auch nach einem Jahr Bewährungs-Sanktion wurde ihr das Studium erneut verweigert und der Chefredakteur drohte: „Bilden Sie sich nicht ein, dass Sie irgendwo was anderes finden. Wir kennen uns hier und werden die Kollegen vorwarnen.“ In Gesamt-Ostdeutschland könne sie ohne das Wohlwollen der National-Zeitung keine Journalistin mehr werden.

Nach zwei Jahren Wartezeit und diversen Erpressungsversuchen schmiss Martina hin. Die Abschiedsworte aus dem Verlag: „Wir haben Ihnen alle Brücken gebaut, aber wenn Sie durch Schlamm waten wollen, bitte sehr!“ Martina nahm all ihren Mut zusammen und schleuderte folgende Frage zurück: „Meinen Sie denn, dass die Arbeiterklasse Schlamm wäre?“ Bevor sie sich umdrehte, sah sie noch die verdutzten Gesichter, die ihre vorbildliche sozialistische Antwort hinterlassen hatte.

Das Leben

»Das hatte nicht die gleiche Qualität wie mit Jens und mir.«

1973 fand die junge Frau eine Anstellung als Sekretärin an der renommierten Akademie der Wissenschaften. Ihr „politischer Fehler“, wie sie ihn nennt, begleitete sie auf Schritt und Tritt. Doch dann tat sich ein Jahr später eine ungewöhnliche Chance auf: An der Humboldt Universität wurde ein Lehrstuhl für Soziologie geschaffen. Martina bewarb sich umgehend um einen Studienplatz – mit Erfolg. Der Grund war simpel: An der Universität wurde die Personalakte nicht weitergeführt, sondern ein ganz neuer Ordner angelegt. Aus bürokratischer Sicht hatte sie wieder eine weiße Weste.

Auch wenn die Forschungsfelder streng von staatlicher Seite bestimmt und kontrolliert wurden, hatte Martina wenig Interesse an den Zielsetzungen der SED. So erinnert sie sich heute an glückliche und unbeschwerte Jahre, wenn sie an ihre Zeit an der Humboldt Universität zurückdenkt – auch weil sie gleich zu Beginn ihres Studiums ihren späteren Ehemann, Peter Geng, kennengelernt hatte. Jens war vergessen. Oder zumindest an einem Ort der Seele verschlossen, an den sich der Mensch im Alltag nicht mehr erinnert. Auch in Peter sei sie damals sehr verliebt gewesen, sagt Martina. „Aber das hatte nicht die gleiche Qualität wie mit Jens und mir.“

»Zu Ostzeiten war Scheidung noch viel einfacher.«

Dennoch ging das Leben seinen fast üblichen Gang. Das Paar bekam zwei Kinder, 1974 wurde die erste Tochter geboren, 1977 die zweite. Ein Jahr vor der Geburt des zweiten Kindes heirateten Martina und Peter – was übrigens zu dieser Zeit in Westdeutschland mindestens als unkonventionell angesehen worden wäre, wenn nicht sogar als unmöglich. Dem jungen Paar wurde eine eigene Wohnung zugewiesen und neben dem Studienstipendium gab’s vom Staat auch noch Geld für die Kinder. Jobben, wie man es heute auf Neudeutsch nennen würde, mussten sie nicht. Natürlich war das Geld immer knapp, dennoch hatten junge Familien im sozialistischen System oft bessere Ausgangschancen als im Westen.

Leider stellte sich im Laufe der Ehe heraus, dass Peter alkoholabhängig war. Nach Jahren der Co-Abhängigkeit ließ sich Martina 1986 scheiden. “Gott sei Dank noch vor dem Mauerfall! Zu Ostzeiten war Scheidung noch viel einfacher“, kommentiert sie den Vorgang aus der heutigen Perspektive.

Der Mauerfall

»In den letzen Jahren der DDR gab es ständig Abschiede, das waren immer große, traurige Feiern.«

Die Jahre kurz vor der friedlichen Revolution verbrachte Martina als Mitarbeiterin an der Akademie der Künste, wohin sie nach Abschluss ihres Studiums zurückkehrte. Die Akademie galt in dem sozialistischen Staat als eines der liberalsten Institute. „Für DDR-Verhältnisse war das eine Oase der Freiheit“, erinnert sich Martina. „Im Kollegium waren wir geistig frei. An den Sozialismus glaubten wir schon lange nicht mehr.“

Der Gedanke an eine Flucht kam ihr in all den Jahren aber nie. Dafür habe sie zu viel Verantwortung mit den Kindern gehabt, sagt sie. Und außerdem gab es zu viele Leute, an denen sie hing. Freunde, Bekannte, Familie. Dennoch hatte sie sich – wie viele andere – daran gewöhnt, Menschen an ein Leben im Westen zu verlieren. „In den letzen Jahren der DDR gab es ständig Abschiede, das waren immer große, traurige Feiern. Ich wäre gerne gegangen, aber das wollte ich weder meinen beiden Mädels zumuten noch mir selbst“, sagt sie.

Im Herbst 1989 beteiligte sich Martina mit Kollegen an den Ablegern der Leipziger Montagsdemos in Berlin. Als am 4. November 1989 eine Großdemonstration rund um den Alexanderplatz stattfand, lauschte sie nicht nur den Reden von Künstlergrößen wie Jan-Josef Liefers oder Ulrich Mühe. Sie wurde auch Zeugin, wie sich Günter Schabowski, damals Mitglied des Zentralkomitees der SED, auf der Bühne als einer der wenigen DDR-Führungspolitiker den tobenden Bürgern stellte.

»Ich stand im Supermarkt und wusste nicht, welche Zahnpasta ich kaufen sollte.«

Als am 9. November kurz nach 21 Uhr die Mauer schließlich fiel, war Martina überglücklich. Sie selbst wagte an diesem Abend jedoch noch nicht über die Grenze, da ihre beiden Töchter im Bett lagen und schliefen. „In diesen Stunden war alles so ungewiss, man wusste nicht genau, ob man wieder zurückkommen darf“, berichtet sie. Doch am nächsten Tag war auch ihre Neugierde so groß, dass sie sich mit Kolleginnen zu einem Spaziergang über den Grenzübergang Bornholmer Straße verabredete. Als sie die deutsch-deutsche Grenze passiert hatten, lagen sich die Frauen heulend in den Armen. Noch heute kommen Martina die Tränen, wenn sie im Fernsehen Berichte über den Mauerfall sieht.

Obwohl die alleinerziehende Mutter in der aufwühlenden Zeit nach dem 9. November 1989 auch erstmals wieder an Jens dachte, hatte für sie zunächst die Eingliederung in die neue Ordnung oberste Priorität. „Wir mussten uns ganz neu orientieren. Ich stand im Supermarkt und wusste nicht, welche Zahnpasta ich kaufen sollte“, beschreibt Martina die Erfahrungen vieler Ostdeutsche in den frühen Neunzigern. „In den Jahren war ich ganz schön damit beschäftigt, mich in diesem Wessi-Staat zurechtzufinden.“

»Der hat doch bestimmt Familie und erinnert sich gar nicht mehr an dich.«

Am meisten genoss sie die plötzliche Reisefreiheit. Nach der Grenzöffnung nahm sie die Bahn nach Hamburg oder fuhr mit ihren Töchtern von Kreuzberg aus nach Italien und Norwegen. Doch die Schattenseiten ließen nicht lange auf sich warten. Wie so viele Ostdeutsche wurde auch Martina bald nach der Wende arbeitslos. Die Akademie der Künste im Osten musste ihre Mitarbeiterzahl von 300 auf 30 reduzieren, nachdem sie mit ihrem Westberliner Pendant fusioniert war.

Ende 1992, das Leben im wiedervereinten Deutschland wurde allmählich zur Normalität, schob sich auch immer öfter das Gesicht von Jens vor Martinas geistiges Auge. Sie suchte die beiden Liebesbriefe heraus, die sie damals von ihm erhalten hatte. Die Sehnsucht nach diesem Mann pochte nach all den Jahren immer noch in ihr. „Ich habe überlegt, ob ich ihn suchen soll. Doch ich hielt mich zurück, weil ich mir dachte: Was für ein Quatsch, Martina! Der hat doch bestimmt Familie und erinnert sich gar nicht mehr an dich.“ In einem Moment des Loslassens verbrannte sie die wertvollen Briefe. „Inzwischen denke ich, dass ich ihn damit herbeigehext habe“, lacht Martina.

Die Wiedervereinigung

»Wenn das Telefon klingelt und ein Mann nach mir fragt, dann sag ihm, dass Mama nicht zuhause ist.«

Ein Vierteljahr später klingelte das Telefon zu einer ungewöhnlichen Tageszeit. Martina hatte damals einen ungewollten Verehrer, deshalb hatte sie ihrer jüngsten Tochter eingeimpft: „Wenn das Telefon klingelt und ein Mann nach mir fragt, dann sag ihm, dass Mama nicht zuhause ist.“

Als die Tochter das Telefonat annahm, saß Martina im Nebenraum und hörte, wie aus dem anfänglichen Abwimmelversuch ein immer längeres Telefonat wurde, von dem sie hier und da die bruchstückhaften Antworten ihrer Tochter mitbekam: „Mama ist nicht zuhause… Ich bin 14, meine Schwester ist 16… Nein, meine Eltern sind geschieden.“

Nachdem Martinas Tochter aufgelegt hatte, kommentierte sie den gespannten Blick ihrer Mutter wie folgt: „Ich soll dich schön grüßen – von einem Jens Jahnke. Ihr seid euch vor 22 Jahren mal begegnet. Er ruft wieder an.“

»Da ist mir schwarz vor Augen geworden.«

„Da ist mir schwarz vor Augen geworden“, erinnert sich Martina. Sie sank tief in einen Sessel und plötzlich kam alles wieder hoch: die zarte Leidenschaft der gemeinsamen Sommertage und die zerstörerischen Repressalien, die dem unschuldigen Flirt in Rostock folgten und den Lauf ihres Lebens für immer veränderten.

Marina saß wartend am Telefon. Kurz vor Mitternacht klingelte es erneut. Es war Jens. Zum ersten Mal seit 22 Jahren hörte sie wieder seine Stimme. Er sei zufällig auf einer Tagung in Potsdam, sagte er, und es sei ihm eingefallen, dass Martina in Berlin wohne. Jens hatte ursprünglich vor, das gesamte Berliner Telefonbuch nach dem Namen Schirrmacher abzutelefonieren. Da Martinas Schwester nie geheiratet hatte und mit Vornamen Andrea hieß, hatte er das Glück, gleich beim ersten Versuch an jemanden zu geraten, der ihm die Nummer von Martina nennen konnte.

In einem stundenlangen Telefonat erzählten sich die beiden, was sie in den letzen zwei Dekaden im Leben des jeweils anderen verpasst hatten. Es schmerze ihn sehr zu erfahren, dass ihre Rostocker Begegnung zu so viel Leid in Martinas Leben geführt hatte. Im Gegensatz zu Martina hatte Jens das Glück, dass er viele Jahre lang als Journalist für die Frankfurter Rundschau und das ZDF um die ganze Welt reisen durfte. Später lebte er im Rahmen längerer Projekte in Südamerika und Indien.

»Ich komme zu dir nach Hause. Du entkommst mir sowieso nicht!«

Auch wenn Jens auf der kapitalistischen Seite der Mauer ganz andere Erfahrungen gemacht hatte als Martina, so zeigten sich doch überraschende Parallelen. Beide hatten im selben Jahr geheiratet, beide wurden Eltern von zwei Kindern, die im selben Jahr und sogar im selben Monat das Licht der Welt erblickten. Jens wurde Vater eines Sohnes und einer Tochter. Dieser gab er den Zweitnamen Martina, ganz bewusst nach seiner verflossenen Sommerliebe – seine Frau kannte die Geschichte. Doch mittlerweile lag auch seine Ehe in Trümmern. Später gab er zu: Den Kongress in Potsdam hatte er nur vorgetäuscht. Er war ausschließlich nach Berlin gekommen, um Martina zu suchen.

Am Ende dieses ersten Telefonats fragte Jens, wann sie sich persönlich treffen könnten. Martina schlug ein Café im Prenzlauer Berg vor, um eine gewisse Distanz zu wahren. Doch Jens fasste einen anderen Beschluss: „Nein, ich komme zu dir nach Hause. Du entkommst mir sowieso nicht!“

Aufgeregt wie ein Teenager wartete Martina auf einen Mann, den sie zuletzt gesehen hatte, als sie gerade 19 und er 28 Jahre alt war. Sie wusste, dass sie sich auf einen Glatzkopf einstellen musste. Doch als er vor ihr stand und sein Kopf über einem riesengroßen Blumenstrauß auftauchte, entdeckte sie kaum Spuren des Alters. Stattdessen waren die Augen und das Lächeln genauso wie in ihrer Erinnerung.

»Es fühlte sich an, als hätten wir uns vorgestern zuletzt getroffen.«

Die beiden lagen sich sofort und sehr lange in den Armen: „Es fühlte sich an, als hätten wir uns vorgestern zuletzt getroffen. An dieser Begegnung war absolut nichts Fremdes.“ Nach einem langen Gesprächsabend in der Küche folgte eine leidenschaftliche Nacht – die erste von vielen. „Gefühlt ist er sofort bei mit eingezogen. Und nie wieder gegangen.“

Das wiedervereinigte Paar reiste viel zusammen und genoss einen großen, illustren Freundeskreis. Die wilden Jahre im Prenzlauer Berg wurden von schwärmerischen Ausflügen mit einem Campingbus abgelöst, ein uraltes DDR-Gefährt, das Jens eigenhändig umgebaut hatte. Irgendwann führte sie eine ihrer vielen Touren an den Werbellinkanal in Eichhorst, einem beschaulichen Brandenburger Örtchen eine Stunde von Berlin entfernt. Die beiden fanden es dort so schön, dass sie sich zuerst einen Garten an der Wasserstraße und später ein Haus in dem kleinen Dorf kauften.

Mitte der Nullerjahre wurde Jens, der Wessi, sogar Bürgermeister dieses ostdeutschen Ortes. Seine wichtigste Mission: Eichhorst hatte keine einzige Kneipe und das passte dem geselligen Lebemann überhaupt nicht. Noch in seiner Amtszeit machten drei verschiedene Gastronomien auf. Martina erzählt von einem bunten Leben in einem bunten Haus, voller Bücher und Katzen, mit einer gemütlichen Küche. Noch heute ist die Wand mit Fotos geschmückt ist, die Jens von Martina während der Zubereitung eines Festtagsvogels geschossen hatte. Auf der anderen Seite hängen zwei Portraitfotos der beiden – direkt nebeneinander. Während das Martinas Bild in jener Woche von Jens aufgenommen wurde, in der sie sich in Rostock begegneten, wurde sein Portrait von einem Freund in Kalkutta fotografiert.

»Es war nicht immer ganz einfach mit ihm. Aber mit den Dingen, die mir wichtig waren, habe ich mich durchgesetzt.«

Martina und Jens hatten noch 18 gemeinsame Jahre, bevor Jens, der Impulsmensch, 2011 an Herzversagen verstarb. Bereits Ende 1999 hatte er einen ersten Infarkt. „Es war nicht immer ganz einfach mit ihm, war er in seiner Art doch recht dominant“, sagt Martina und ergänzt: „Aber mit den Dingen, die mir wichtig waren, habe ich mich durchgesetzt.“ Sie schweigt für einen Moment, dann fährt sie mit ihren Erinnerungen fort: „Mit Jens war es immer unheimlich spannend, weil er wirklich ständig neue Ideen hatte. So einen Menschen habe ich weder zuvor noch jemals danach wieder erlebt.“

Auch wenn Martina es nie ganz verschmerzt hat, dass sie kein Leben als Journalistin führen durfte, empfindet sie sich doch als Gewinnerin über die DDR-Diktatur. „Jens wieder zu begegnen war ein später, aber toller Ausgleich für das, was ich damals verloren hatte. Es ist ein unfassbares Geschenk der Geschichte, dass wir doch noch so viele Jahre miteinander verbringen durften.“