Interview — Noah Levi

Jung und naiv

Mit seiner ersten EP »Jung & Naiv« hat Noah Levi vor kurzem sieben Songs in die Welt gesetzt, die überaus reflektiert und persönlich wirken. Wir haben den 18-jährigen Musiker in einen Klassiker aus den Swinging Sixties gesetzt und mit ihm über eine junge Generation gesprochen, die alles andere als naiv scheint.

19. November 2019 — MYP N° 27 »Heimat« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Danny Jungslund

Als die Ford Motor Company am 17. April 1964 auf der Weltausstellung in Flushing Meadows in neues Fahrzeugmodell namens „Mustang“ präsentierte, war das in den USA nicht weniger als eine Revolution. Das amerikanische Straßenbild war seinerzeit fast gänzlich durch chromblitzende Straßenkreuzer geprägt, deren Karosserien über die Jahre immer länger wurden – und die Heckflossen immer futuristischer. Der Mustang sollte eine neue Ära einläuten. Mit seinem sportlichen Look sprach er eine jüngere, modernere Käuferschicht an und unterschied sich deutlich von allem, was bisher so auf amerikanischen Straßen zu sehen war. Eine Reaktion auf den Zeitgeist, würde man heute sagen.

55 Jahre später. Ein himmelblauer Mustang der ersten Serie hat es über die Zeit und bis nach Berlin geschafft. Der Zeitgeist der Sechziger ist lange passé, dennoch wirkt der Mustang nicht wie ein Oldtimer, ganz im Gegenteil. So, wie er dasteht, umgibt ihn immer noch diese seltsam-erhabene Aura von Freiheit, Rebellion und Stil, die ihm auf ewig einen Platz in der Geschichte der Popkultur sichert. Der Mustang altert nicht. So wie James Dean nicht altert. Oder die Beatles.

Einer, der das erst noch beweisen muss, ist Noah Levi. Doch die Chancen stehen gar nicht schlecht, denn der 18-Jährige, der vor kurzem sein Debutalbum mit dem Titel „Jung & Naiv“ veröffentlicht hat, will so gar nicht in das Muster passen, das gerade auf dem deutschen Musikmarkt en vogue ist. Klar, auch Noah Levi ist jung, männlich, Instagram-tauglich und singt auf Deutsch. Doch er ist kein Interpret, sondern Vollblutmusiker, der seine Songs selbst schreibt und seine Musik so macht, wie er sie machen möchte.

Und es gibt noch einen Unterschied: Noahs Texte sind wesentlich reflektierter und der musikalische Stil deutlich experimentierfreudiger, als man das von einem so jungen Musiker erwarten würde. Dabei gelingt ihm der Spagat, auf der einen Seite eingängige Melodien zu schaffen, die einem wie bei „Drei Straßen“ einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Und auf der anderen Seite wirft er – wie etwa im Song „Jung & Naiv“ – einen nachdenklichen Blick in eine Zukunft, die für viele Menschen seines Alters noch ganz weit weg erscheint.

Führen wir also Noah Levi mit dem Mustang zusammen – zwei Vertreter ihrer Zeit, mit einem eigenen Stil und einer eigenen Haltung. Nur dass der eine schon ein Klassiker ist. Und der andere alles dafür tut, mal einer zu werden.

»Ich wollte den Menschen, die meine Musik hören, auch etwas zum Anschauen geben.«

Jonas:
Du hast vor einigen Monaten eine kleine YouTube-Serie mit dem Titel „Straßen von mir“ gestartet, in der du deine Fans mit auf eine kleine Retro-Tour durch Berlin nimmst und ihnen Orte zeigst, die eine besondere Bedeutung in deinem Leben haben. Was war deine Motivation, fremden Menschen einen so tiefen Einblick in dein Privatleben zu geben?

Noah:
Ich wollte den Menschen, die meine Musik hören, auch etwas zum Anschauen geben: So, wie meine Songs einen Einblick in mein Leben ermöglichen, so sollte das auch die Cam tun – natürlich ohne dabei meine intimste Privatsphäre preiszugeben. Ich glaube dennoch, dass ich mit „Straßen von mir“ etwas sehr Persönliches von mir offenbare, wenn ich genau die Orte näher vorstelle, die in meiner Vergangenheit eine besondere Rolle gespielt haben. So kann ich den Leuten zu zeigen, wer ich bin, was ich gemacht habe und wie ich aufgewachsen bin.

Jonas:
Was hast du empfunden, als du diese besonderen Orte für deine Webserie wieder besucht hast?

Noah:
Das war ganz schön verrückt, vor allem, als wir an meiner alten Schule gedreht haben. Da kamen direkt die Erinnerungen hoch. Ich habe das Gefühl, dass ich in der Schule irgendwie ein ganz anderer Mensch war. Ich hatte viel weniger Erfahrungen in allem und einen ganz anderen Blick auf die Welt. In dieser Hinsicht hat sich in nur wenigen Jahren sehr, sehr viel verändert.

»Die Musik war etwas, bei dem ich zum ersten Mal positiv hervorgestochen bin – ganz im Gegensatz zur Schule.«

Jonas:
In einem der Videos sagst du, dass dir die Musik die Bestätigung gibt, die du in der Schule nicht gefunden hast. Was genau meinst du damit?

Noah:
Die Musik war etwas, bei dem ich zum ersten Mal positiv hervorgestochen bin – ganz im Gegensatz zur Schule: Ich habe nie zu den besten Schülern gehört, hatte oft Probleme mit den Lehrern und manchmal auch mit den Mitschülern. Es fiel mir immer schwer, mich im Unterricht zu konzentrieren und dem zu folgen, was die Lehrer gesagt haben. Und ganz davon abgesehen hatte ich auch nie eine besonders große Motivation. Insgesamt bin ich mit dem Konzept Schule ziemlich kollidiert. Und wie das so ist: Wenn man nichts tut, kommt natürlich auch nichts zurück. Meine Noten waren meistens schlecht, worüber sich meine Mutter auch nicht wirklich gefreut hat. Dementsprechend gab es zuhause oft Stress. Mittlerweile streiten wir uns gar nicht mehr – ich gehe ja auch nicht mehr zur Schule (Noah grinst).

»Ich bin immer noch der hitzköpfige, naive Typ, der immer alles aus dem Affekt entscheidet und nicht über die Konsequenzen nachdenkt.«

Jonas:
Auf YouTube finden sich Clips, die zeigen, wie du als 14-Jähriger auf der Bühne stehst. Wie geht’s dir, wenn du heute diesen Menschen von vor vier Jahren siehst? Was habt ihr beide gemeinsam? Worin unterscheidet ihr euch?

Noah:
Charakterlich habe ich mich in den letzten vier Jahren wahrscheinlich kaum verändert. Ich bin immer noch der hitzköpfige, naive Typ, der immer alles aus dem Affekt entscheidet und nicht über die Konsequenzen nachdenkt. Ich bin nach wie vor total verplant, schusselig und schlecht mit Zahlen – all das ist bis heute geblieben. Eigentlich hat sich im Laufe der Jahre nur geändert, mit welchen Leuten ich arbeite und in welchem Umfeld ich mich bewege. Heute gibt es in meinem Leben Menschen, die gezielt meine Stärken fördern. Das war vor vier Jahren noch nicht so.

Jonas:
Wir haben eben über besondere Orte deines Lebens gesprochen. Wenn du auf die letzten 18 Jahre deines Lebens schaust: Welche Menschen gibt es, die eine ebenso besondere Bedeutung in Bezug auf den Weg, den du gegangen bist?

Noah:
Ich hatte verschiedene musikalische Mentoren, die mich geleitet haben. Am meisten haben mich aber immer meine Eltern und meine Freunde unterstützt. Vor allem in der Zeit, als ich noch zur Schule gegangen bin und die Arbeit an der Musik ziemlich hart war. Da war es immer das beste Gefühl, zu meinen Freunden oder Eltern zu kommen, die mich total verstanden haben. Sie waren ja nicht verpflichtet, mich da durchzuboxen.

»Nicht schlimm, wenn es scheiße klingt. Hauptsache, du kannst fühlen, was du da spielst.«

Jonas:
In deinen „Straßen von mir“-Videos erzählst du auch von deinem Gitarrenlehrer sowie deinem Klassenlehrer. Welche Bedeutung haben diese beiden Personen für dich?

Noah:
Mein Klassenlehrer hat mich sehr unterstützt und war darüber hinaus immer auf dem neuesten Stand in Bezug auf das, was bei mir außerhalb der Schule so abgeht. Ihm gegenüber konnte ich immer alles ganz offen ansprechen, was mich bewegt. Und wenn ich mal wieder nicht für eine Klassenarbeit lernen konnte und genau wusste, dass ich eine Fünf oder Sechs schreiben werde, weil ich am Wochenende davor drei Tage lang durchgearbeitet hatte, konnte ich ihm ehrlich sagen, was los war. Das hat viel ausgemacht.
Was meinen Gitarrenlehrer angeht, hatte ich mit ihm ebenfalls riesiges Glück. Ich hatte da jemanden erwischt, der mich so gepuscht hat, wie ich’s gebraucht habe. Nicht dadurch, einfach nur Noten abzulesen und zu spielen. Ihm war es wesentlich wichtiger, dass ich so spiele, wie ich es fühle, und wollte, dass ich nur meiner Emotion folge. Er sagte immer: „Nicht schlimm, wenn es scheiße klingt. Hauptsache, du kannst fühlen, was du da spielst.“
Übrigens: Dadurch, dass ich angefangen habe, Gitarre zu spielen, bin ich überhaupt erst aktiv an die Musik geraten: Mein Gitarrenlehrer hatte zufällig auch ein kleines Studio zuhause, wo ich meine ersten Aufnahmen machen durfte. Das hat mir sehr viel gebracht, weil ich mich plötzlich viel mehr mit Musik befasst habe – und weil es in einer Zeit passiert ist, in der ich ohnehin auf der Suche war nach etwas, was mich begeistert.

»Die wenigsten Menschen – mich eingeschlossen – hinterfragen ihr eigenes Leben.«

Jonas:
Springen wir in die Gegenwart. Du hast vor kurzem deine erste EP „Jung & Naiv“ herausgebracht, die dich – wie deine YouTube-Serie – von einer sehr nahbaren und persönlichen Seite zeigt. Der gleichnamige Song „Jung & Naiv“ wirkt dabei besonders intim. Wie schaust du selbst auf dieses Lied?

Noah:
Eigentlich wollte ich den Song über ein sehr hübsches Mädchen schreiben, das ich gerade kennengelernt hatte. Mir fiel an ihr auf, dass sie sich überhaupt nicht festlegen wollte. Immer wieder wechselte sie ihre Freundeskreise und hing mit den unterschiedlichsten Leuten ab. Das empfand ich irgendwie als Stärke: immer neue Menschen zu finden und sich an neue Situationen anpassen zu können – wie ein Chamäleon. Diese Beobachtung hat mich ziemlich beschäftigt, denn mir ist aufgefallen, dass es in unseren Persönlichkeiten gewisse Überschneidungspunkte gibt. So ist aus dem Song über sie am Ende ein Song über mich geworden, in den ich all die persönlichen Gedanken über mich selbst hineingeschrieben habe, die mir beim Nachdenken über mich selbst zugeflogen sind.

Jonas:
In dem Song gibt es die Zeile „Was uns fehlt, ist Reflexion“. Was bringt dich zu der Feststellung?

Noah:
Ich glaube, dass die Menschen einfach so sind, wie sie sind, und tun, was sie tun. Da ist etwas ganz Natürliches. Aber die wenigsten – mich eingeschlossen – hinterfragen ihr eigenes Leben. Die wenigsten denken wirklich darüber nach, welche Konsequenzen ihr eigenes Handeln haben kann, genauso wenig wie sie ihre Wirkung auf andere Menschen infrage stellen. Deshalb ist diese Zeile nicht nur eine allgemeine Aussage, sondern vor allem auch eine Frage an mich selbst.

»Was mich bewegt, ist das Gleiche wie bei vielen anderen Jugendlichen auch – nur dass ich nebenbei noch Musik mache.«

Jonas:
Dein Song „Jung & Naiv“ beginnt mit folgenden Worten: „Vielleicht sehen wir uns in zehn Jahren / Und sagen, dass am Ende alles richtig und gut war / Haben gefunden, was wir in uns gesucht haben / Blicken drauf zurück, als wir noch jung und naiv waren“. Wonach genau suchst du gerade in dir?

Noah (lächelt):
Jetzt gerade? Momentan suche ich die goldene Mitte, in der ich mich gut zwischen Arbeit und Privatleben positionieren kann. Ich suche nach einer gewissen Sicherheit in meiner aktuellen Lebenssituation und hoffe, dass ich in zehn Jahren ein bisschen Stabilität in mein Leben gebracht habe. Momentan passiert einfach wahnsinnig viel – und genauso viel steht noch in den Sternen. Die meiste Zeit denke ich über all die Dinge des Alltags nach, die auch alle anderen Menschen beschäftigen. Was mich bewegt, ist das Gleiche wie bei vielen anderen Jugendlichen auch – nur dass ich nebenbei noch Musik mache.

»Es gibt so viel zu sehen auf dieser Welt, doch alles hängt davon ab, wie abgesichert man in der Heimat ist.«

Jonas:
Wenn du einen Blick in die Zukunft wirfst: Was genau wünschst du dir für dein Leben?

Noah:
Ein Haus mit Garten vielleicht nicht unbedingt, aber eine eigene Wohnung, in der ich eine Familie gründen kann – das wäre schon schön! Ich will das alles sehr früh haben, ich will mir sehr früh Sicherheiten schaffen. Daher ist es auch mein Ziel, das Maximum aus meinem Leben herauszuholen. Je früher ich mich wirtschaftlich abgesichert habe, desto früher kann ich mich damit beschäftigen, was ich noch von der Welt erfahren kann. Es gibt so viel zu sehen auf dieser Welt, doch alles hängt davon ab, wie abgesichert man in der Heimat ist.
Davon abgesehen versuche immer, im Hier und Jetzt zu leben und das in vollem Maße zu genießen. Wir alle haben ja keine andere Chance, als das Beste aus diesem einen Leben herauszuholen. Ich bin aber auch ständig mit dem Kopf in der Zukunft, um mir selbst den Huzzle zu stellen, dass bestimmte Dinge laufen und passieren müssen. Gleichzeitig frage ich mich aber auch permanent: Braucht es das wirklich? Muss es das eigentlich? Ist es das, worum es wirklich geht? Ich habe immer mehr das Gefühl, dass die Kleinigkeiten, die so überaus wichtig sind, im Jetzt stattfinden – und die materiellen Dinge in der Zukunft. Bin ich jetzt glücklich, weil ich mit mir selbst zufrieden bin, bin ich vielleicht in der Zukunft glücklich, weil ich eine Wohnung habe, die mir meine Unterkunft sichert. Beides ist wichtig.

»Es gibt heute viel mehr junge Menschen, die darüber nachdenken, wie ihre Zukunft aussehen wird – oder ob es überhaupt eine Zukunft für sie gibt.«

Jonas:
Hast du das Gefühl, dass du in deiner Generation eher alleine stehst mit dieser Form des Reflektiertseins?

Noah:
Ganz im Gegenteil! Ich glaube, dass das Bewusstsein für das, was um einen herum geschieht, enorm zugenommen hat bei den Leuten, die so alt sind wie ich. Es gibt heute viel mehr junge Menschen, die darüber nachdenken, wie ihre Zukunft aussehen wird – oder ob es überhaupt eine Zukunft für sie gibt. Ich erlebe, wie viele meiner Freunde konkret darüber nachdenken, wie sie ihre jetzige Situation verändern können, um ihre Zukunft positiv zu beeinflussen. Und für mich sieht es so aus, als würde das immer früher einsetzen. Was übrigens alles andere als cool ist! Wenn sich 14- oder 15-Jährige darüber Gedanken machen müssen, wie man den Planeten retten kann oder wie es ihnen gelingen soll, später mal die Miete zu bezahlen, läuft etwas gewaltig schief. Solch abgefuckte Gedanken sollte man sich als junger Mensch nicht machen müssen, nirgendwo auf der Welt. Trotzdem finde ich gut, dass das passiert. Bewusstsein ist nichts Schlechtes.

»Es gibt nichts Geileres, als etwas zu entscheiden oder zu tun, nur weil man es gerade fühlt.«

Jonas:
Kommen wir nochmal „Jung & Naiv“ zu sprechen. Gerade der Begriff naiv ist in unserer Gesellschaft eher negativ besetzt. Welchen positiven Aspekt kann es haben, naiv zu sein?

Noah:
Ich liebe es, naiv zu sein! Es gibt nichts Geileres, als etwas zu entscheiden oder zu tun, nur weil man es gerade fühlt. Und nicht, weil die Umstände mit Blick in die Zukunft und in Verknüpfung mit der Vergangenheit das erfordern. Das ist alles Bullshit. Sobald du glücklich bist mit dem, was du tust, und sich das richtig anfühlt, sobald du emotionalen Mehrwert daraus ziehen kannst, ist scheißegal, was dabei herauskommt. Dieses überlegte Handeln kann einen weit bringen, macht einen aber nicht immer glücklich. Zumindest nicht mich. Ich brauche es, freigeistig zu sein.

»Oft ist es eine Verdichtung unterschiedlichster Gedanken und Gefühle, die in diesem einen Moment im Studio alle zueinander finden.«

Jonas:
Du hast für dieses Album mit einer Reihe erfahrener Writer und Producer zusammengearbeitet. Gleichzeitig schreibst du an deinen Texten auch selbst. Wie entsteht letztendlich ein echter Noah-Levi-Song?

Noah:
Ich muss gerade daran denken, wie meine Mutter immer wieder gesagt hat: „Noah, du hast am Wochenende eine Writing Session. Bereite dich doch endlich mal darauf vor!“ Aber sich auf eine Session vorzubereiten heißt nicht, sich irgendwelche Notizen zu machen. Sondern rauszugehen und irgendetwas zu erleben. Am Ende kann man eh nicht beeinflussen, welchen Vibe so eine Session hat, wie die Emotionen gerade stehen und worüber man wirklich schreiben will. Das Einzige, was funktioniert, ist, sich so viele Gedanken wie möglich zu machen, bis dann beim tatsächlichen Schreiben alles aus einem herausbricht. Ob man will oder nicht. Sobald man das Papier vor sich liegen hat und die Töne hört, ist es eine organische Sache. Jedenfalls bei mir. Das kommt ganz automatisch aus mir heraus – daher kann ich einfach nicht sagen, wie so ein Song typischerweise bei mir entsteht. Oft ist es eine Verdichtung unterschiedlichster Gedanken und Gefühle, die in diesem einen Moment im Studio alle zueinander finden und zu einem großen Ganzen werden.
Wenn ich mit anderen Songwritern zusammenarbeite, ist das oft wie eine Stunde beim Psychologen: Man setzt sich hin, ich sage, was ich mir textlich und musikalisch vorgestellt habe, und dann spricht man einfach ganz viel darüber. Gerade komme ich aus Hamburg, wo ich für eine dreitägige Writing Session war. Am ersten Tag haben wir uns erst mal für ein paar Stunden in den Garten gesetzt und über alles geredet, was uns gerade in dem Moment beschäftigt oder bedrückt hat. Nach so einem Gespräch fühlt man sich absolut frei und muss einfach nur noch machen, machen, machen. Das ist eine rein emotionale Sache, dafür gibt es kein Konzept.

»Sich bei der Arbeit so nahe zu kommen, ohne sich dabei physisch zu berühren, ist wirklich ein Phänomen.«

Jonas:
Die Leute, mit denen du zusammenarbeitest, sind oft ein ganzes Stückchen älter als du. Gibt es etwas, was du von den „alten Hasen“ gelernt hast?

Noah:
Absolut! Sobald ich mit wesentlich Älteren zusammenarbeite, kann ich sekündlich lernen und mich weiterentwickeln. Diese Leute sagen und tun Dinge, die mich sehr inspirieren. Und ich habe gemerkt, wie ich Vieles von ihnen ganz automatisch angenommen habe, ohne dass es mir in dem Moment bewusst gewesen wäre. In der Zeit, in der die Platte entstanden ist, habe ich so unendlich viel dazugelernt – nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich. Musik verbindet auf einer ganz besonderen, intimen Ebene, ohne dass es körperlich wird. Das ist wirklich ein Phänomen: sich bei der Arbeit so nahe zu kommen, ohne sich dabei physisch zu berühren. Am Ende sind sowieso alle Musiker gleich, wir haben alle dieselben Ticks und Probleme. Daher kommt es auch nicht immer aufs Alter an. Ich habe vor kurzem beispielsweise mit einem 19-jährigen Producer zusammengearbeitet, das war eine absolut geile Zeit und gleichzeitig total entspannt. Und wir haben ein paar Tage lang wirklich coole Tracks gebaut.

»Es gehört zu mir, dass ich darüber spreche, wie es mir geht, auch in meiner Musik.«

Jonas:
Es gibt drei Arten von Musikern: die einen, die wirklich meinen, was sie in und mit ihren Songs sagen. Die anderen, die nicht meinen, was sie mit ihren Songs sagen, und die dritten, die mit ihren Songs gar nichts sagen. Erinnerst du dich, wann dir in deinem Leben zum ersten Mal eine Musikerin oder ein Musiker begegnet ist, bei der oder dem du das Gefühl hattest: Der oder die eine meint im Moment wirklich, was er oder sie gerade singt?

Noah:
Das weiß ich gar nicht genau. Auf jeden Fall ist aber die Musik von Ed Sheeran eine riesige Inspiration für mich. Vor einigen Jahren war ich zusammen mit meiner Mutter auf einem seiner Konzerte in der Berliner Max-Schmeling-Halle. Ed Sheeran stand ganz alleine mit seiner Gitarre auf der Bühne vor diesem riesigen Publikum, das hat mich sehr beeindruckt – und ich wusste, dass die Musik, die ich selbst machen wollte, auch für konkrete Inhalte stehen sollte.
Davon abgesehen erinnere mich immer daran, dass mir meine Eltern mal gesagt haben: „Bleib bei dir und verändere dich nicht, nur weil du das vielleicht bei jemand anderem siehst.“ Das habe ich mir immer zu Herzen genommen und trage es nach wie vor in mir. Es gehört zu mir, dass ich darüber spreche, wie es mir geht, auch in meiner Musik.

»In den Sozialen Netzwerken kann man nie das Richtige tun – egal, wie man sich entscheidet.«

Jonas:
Du hast dir in den letzten Jahren eine veritable Reichweite in den Social Networks aufgebaut. Welchen Stellenwert hat diese große Online-Bühne für dich?

Noah:
Social Media macht auf jeden Fall den Kopf kaputt. Das ist eine Welt, die mich nie wirklich weitergebracht hat. Noch vor wenigen Jahren habe ich mir wahnsinnig viele Gedanken darüber gemacht, was ich dort posten soll und wie ich dadurch wirke. Aber das bringt einem nichts. Social Media ist, was es ist. Man kann dort weder die Reaktionen noch die Auswirkungen beeinflussen, das sind alles Personen hinter Zahlen – egal, um welche App oder welches Netzwerk es sich handelt.
Für mich erwächst aus dieser Reichweite eine riesige Verantwortung. Und die nehme ich ernst. Trotzdem fühle ich mich immer in einem Zwiespalt gefangen. Auf der einen Seite will ich den Leuten zeigen, wie ich wirklich bin und was ich tue. Aber gleichzeitig frage ich mich auch, ob sich dadurch nicht irgendwer gestört fühlt. In den Sozialen Netzwerken kann man nie das Richtige tun – egal, wie man sich entscheidet. Ich wünschte, das alles würde nicht existieren. Aber es ist nun mal da. Und man findet dort ja auch Inspiration – aber das ganze Konzept dahinter basiert letztendlich nur auf Werbung. Alles, was man auf Social Media sieht, ist nicht einfach da, um zu sein – es ist da, um dich zu verändern: um dich zum Lachen bringen, zum Weinen, zum Nachdenken, zum Neiden. Das finde ich irgendwie nicht so geil.

Jonas:
Und trotz Hunderttausenden von Followern kann es trotzdem passieren, dass man sich einsam fühlt…

Noah:
Ja, total!

»Auch wenn dich andere Menschen vielleicht nicht verstehen können, können sie dir immer noch beistehen.«

Jonas:
In welchen Situationen begegnet dir selbst diese Einsamkeit?

Noah:
Wenn ich das Gefühl habe, dass ich in meiner Situation alleine bin und dass es keine Person gibt, die das gerade nachvollziehen kann. Jeder Mensch ist einzigartig. Er fühlt einzigartig und denkt einzigartig. Das alleine impliziert, dass jeder mit sich und seiner Situation alleine ist. Damit will ich nicht sagen, dass man dabei auch zwangsläufig alleine dasteht. Auch wenn dich andere Menschen vielleicht nicht verstehen können, können sie dir immer noch beistehen. Und dir weiterhin Kraft und Hoffnung schenken. Genau das ist es doch, was menschliche Beziehungen so wichtig macht.

Jonas:
Was ist deiner Meinung nach das beste Rezept gegen Einsamkeit?

Noah:
Für mich war es immer Musik. Aber ich kann anderen kein Rezept dafür geben, auch wenn ich es wünschte. Man muss sich das suchen, was einen glücklich macht. Etwas, bei dem man im Hier und Jetzt ist. Und was einen erfüllt. Nur das kann einen Menschen aus der Einsamkeit ziehen.