Interview — Jannik Schümann

Anfang einer neuen Zeit

Jannik Schümann zählt zu einer jungen Generation deutscher Schauspieler, für die Haltung nichts ist, was man sich leisten können muss. Sondern etwas, das diesen Beruf erst möglich macht. Ein Interview über die Frage, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt. Und wie man sich darin als Künstler positionieren kann.

17. März 2018 — MYP N° 22 »Widerstand« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Als Max Frisch mit seinem „Tagebuch 1946–1949“ eine literarische Bestandsaufnahme Europas nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste und damit eines seiner bedeutendsten Werke schuf, notierte er: „Wir leben auf einem laufenden Band, und es gibt keine Hoffnung, daß wir uns selber nachholen und einen Augenblick unseres Lebens verbessern können. Wir sind das Damals, auch wenn wir es verwerfen, nicht minder als das Heute – die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.“

Das, was in Europa in der Mitte des letzten Jahrhunderts passierte, wird auch – soviel sei bereits verraten – Gegenstand des folgenden Interviews mit Jannik Schümann sein. Es wird aber auch um ein anderes, sehr persönliches Damals gehen, das von dem Heute nicht ganz so weit entfernt liegt wie die Jahre 1946 bis 1949.

Bei dem persönlichen Damals handelt es sich konkret um den Nachmittag des 11. Mai 2011, als wir Jannik zum ersten Mal in Berlin begegneten. Der junge Schauspieler war gerade von Hamburg in die deutsche Hauptstadt gezogen und redete mit uns in seinem ersten Interview über das Fernsehdrama „Homevideo“ – ein Film, der auf das Thema Mobbing an Schulen aufmerksam macht und für den Jannik die Rolle eines 15-Jährigen schlüpfte, der einen Mitschüler mit einem kompromittierenden Video erpresst und diesen letztendlich in den Selbstmord treibt.

Ein weiteres, ebenfalls sehr persönliches Damals bezieht sich auf den 28. Mai 2013, als wir Jannik zu einem zweiten Interview trafen, diesmal in New York. Im Central Park unterhielten wir uns über sein bis dato jüngstes Engagement: Für den Kinofilm „Spieltrieb“ übernahm er die Rolle des 17-jährigen Alev, der keine moralischen Skrupel kennt und es genießt, andere Menschen zu manipulieren und sie als Marionetten zu missbrauchen.

Steigen wir aber ein ins Heute, genauer gesagt in das noch junge Jahr 2018 – und in unser drittes Interview mit dem bemerkenswerten Schauspieler. Mit seinen gerade einmal 25 Jahren kann Jannik Schümann bereits auf zwölf Jahre Film- und Fernseherfahrung zurückgreifen. Was insbesondere die letzten beiden Jahre angeht, hat Jannik einen regelrechten Produktionsmarathon hinter sich: Bis vor wenigen Tagen stand er für die Fortsetzung der ZDF-Serie „Charité“ vor der Kamera, davor drehte er unter anderem für die ARD-Serie „Die Diplomatin“ sowie für die internationale Produktion „The Aftermath“ an der Seite von Keira Knightley und Alexander Skarsgård.

Auch im Kino war der Schauspieler in letzter Zeit mehr oder weniger dauerpräsent: etwa im Film „Die Mitte der Welt“, einem international vielfach ausgezeichneten Liebesdrama, in dem Jannik an der Seite von Louis Hofmann in einer der Hauptrollen zu sehen ist. Oder in „High Society“, einer ulkigen Gesellschaftskomödie mit Iris Berben, Emilia Schüle und Jannis Niewöhner, die fast zeitgleich mit dem dystopischen Drama „Jugend ohne Gott“ Premiere feierte.

„Jannik has an actor‘s face“, würde man in der Branche wohl sagen. Doch wer den schauspielerischen Werdegang dieses jungen Mannes nur en passant betrachtet, wer nicht mehr wagt als einen flüchtigen Blick, wer die Bandbreite seiner Charaktere vorschnell auf den „fiesen Schönling“ reduziert, der tappt in eine Falle.

Man muss nur ein kleines bisschen genauer hinsehen, um zu bemerken, dass sich Jannik Schümann mit vielen seiner Rollen genau die Themen aussucht, zu denen es in unseren Zeiten etwas zu sagen gibt. Wie beispielsweise 2015, als er in „Mein Sohn Helen“ eine transsexuelle Jugendliche spielte. Oder wie vor kurzem in „Jugend ohne Gott“, wo er mit seiner Figur des Titus zeigt, wie es ist, wenn eine Gesellschaft nur noch aus leistungsgetriebenen Individuen besteht, denen jegliches Mitgefühl abhandengekommen ist.

Seit unserem letzten Interview mit Jannik ist viel passiert auf der Welt. Als wir im Juni 2013 im Central Park saßen und uns unterhielten, hatten die USA noch keinen „Travel Ban“ gegenüber Muslimen mit bestimmter Nationalität verhängt, Hollywood wusste noch nichts von dem Hashtag #metoo und im Deutschen Bundestag war noch keine rechtspopulistische Partei vertreten. Wenn es in der jüngeren Vergangenheit eine Zeit gab, in der man gezwungen war, erwachsen zu werden, dann war und ist es diese. Und wie schnell es mit dem Erwachsenwerden gehen kann, zeigt der Welt gerade eine Gruppe 17-Jähriger aus Parkland, Florida.

Jannik Schümann – wir spoilern erneut – ist in den letzten fünf Jahren sehr erwachsen geworden. Und Gott sei Dank ist er nicht alleine. Jannik zählt zu einer jungen Generation deutscher Schauspieler, für die Haltung nichts ist, was man sich leisten können muss. Sondern etwas, das es erst ermöglicht, diesen Beruf ernsthaft auszuüben. Wie hat es Max Frisch 1946 beschrieben? „Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.“

»Meistens ist es bei einem neuen Film so, dass ich mich selbst nicht wirklich mag, wenn ich mich zum ersten Mal auf der Leinwand sehe.«

Jonas:
Im letzten Jahr warst du fast zeitgleich in zwei Kinofilmen zu sehen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Ende August lief „Jugend ohne Gott“ an, eine Verfilmung des gleichnamigen Buchs von Ödön von Horváth aus der Zeit des Nationalsozialismus. Und gerade einmal zwei Wochen später startete die schräge Komödie „High Society“ in den Kinos. Kann einem Schauspieler aus PR-Sicht überhaupt etwas Besseres passieren?

Jannik:
Klar, medial war das für mich selbst natürlich ein glücklicher Umstand. Für die Zuschauer dagegen ist es eher ungünstig, wenn sich bei zwei Filmen, die im Abstand von zwei Wochen ins Kino kommen, gleich drei Schauspieler decken – wenn man Iris Berbens Gastauftritt mitrechnet, dann sogar vier. Eigentlich war geplant, dass einer der Filme bereits im März starten sollte und der andere erst im Herbst. Dann ist aber der zweite nachgezogen und man stand wieder vor dem gleichen Problem.
Aus inhaltlicher Sicht fand ich es persönlich aber gar nicht schlimm, dass beide Filme fast zeitgleich gelaufen sind. Ganz im Gegenteil: Ich mag beide Filme sehr und konnte aus beiden auch sehr viel mitnehmen. „High Society“ hat mir zum Beispiel die Möglichkeit gegeben, mich zum ersten Mal in meinem Leben komödiantisch auszutoben. Darüber hinaus war es eine große Ehre, an der Seite von Iris Berben spielen zu dürfen. Daher bin ich auf diesen Film auch irgendwie stolz. Und mindestens genauso stolz bin ich auf „Jugend ohne Gott“. Das ist einer der wenigen Filme in meiner Karriere, bei denen ich tatsächlich mal stolz auf meine eigene Performance bin. Denn meistens ist es bei einem neuen Film so, dass ich mich selbst nicht wirklich mag, wenn ich mich zum ersten Mal auf der Leinwand sehe. Ich muss einen Film erst zwei- oder dreimal anschauen, um mich selbst überhaupt betrachten zu können. Und ich brauche weitere zwei, drei Male, um kritisch beurteilen zu können, was ich da fabriziert habe.
Bei „Jugend ohne Gott“ war ich tief beeindruckt von dem Gesamtwerk. Nicht nur, weil die Dreharbeiten außergewöhnlich waren und ich alleine deshalb eine krasse Verbindung zu dem Film entwickeln konnte. Sondern auch, weil alle Leute, die in dem Film mitgespielt haben, einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen gewonnen haben. Das, was wir da gemeinsam auf die Beine gestellt haben, finde ich immer noch beeindruckend. Ich bin nicht nur stolz auf mich selbst, sondern auf uns alle. Vielleicht ist es mir deshalb auch leichter gefallen, mich selbst in dem Film anzuschauen, weil ich mich dabei weniger als einen einzelnen Schauspieler, sondern vielmehr als Teil eines tollen Ensembles wahrgenommen habe.

Jonas:
Warst du auch stolz auf den inhaltlichen Anspruch, den dieser Film hat?

Jannik:
Natürlich! Ich finde den Film wahnsinnig wichtig, nicht nur für Schulklassen. Was „Jugend ohne Gott“ für mich so besonders macht, ist die Tatsache, dass es uns nicht nur gelungen ist, die wichtigen gesellschaftspolitischen Inhalte des Romans zu transportieren. Der Film ist dabei auch sehr unterhaltsam und hat einen tollen Look. Insgesamt ist er so gemacht, dass die Teenies – unsere Hauptzielgruppe – ihn sich gerne anschauen. Und nebenbei können sie noch etwas lernen.

»Es macht mir grundsätzlich Angst, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, das kann man gar nicht anders wahrnehmen oder auffassen.«

Jonas:
Und was genau kann man von „Jugend ohne Gott“ lernen?

Jannik:
In dem Film zeigen wir eine stark leistungsorientierte Gesellschaft. Es geht um eine Gruppe von Schülern, die in einer Art Leistungs-Sportcamp gegeneinander antreten müssen. Nur die Besten und Stärksten haben am Ende die Chance, an einer Elite-Universität aufgenommen zu werden. Soll heißen: Die Starken bilden die Elite, die Schwachen fallen zurück und bleiben liegen.
Ich glaube, dass sich da alle Schülerinnen und Schüler schnell an persönliche Situationen erinnert fühlen, in denen sie viel zu viel Druck von außen erhalten und man ihnen sagt, was sie zu leisten haben. Und dass sie, wenn sie das nicht leisten, nicht mit den anderen mithalten können.
Im Roman gibt es übrigens eine Metapher, die im Film nicht so stark herausgestellt wird: Ödön von Horváth zeichnet die jungen Leute als einen großen Schwarm stummer Fische, die sich gehorsam von außen leiten lassen und völlig emotionslos zur Kenntnis nehmen, was um sie herum geschieht. Nur wenige von ihnen haben den Mut, ihre Richtung zu ändern und gegen den Schwarm anzuschwimmen.

Jonas:
Vielleicht liegt das an den Zeiten, in denen „Jugend ohne Gott“ entstanden ist. Veröffentlicht wurde der Roman im Jahr 1937, vier Jahre nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Er zeigt uns, wie Jugendliche damals durch das NS-Regime zu teilnahmslosen Mitläufern erzogen wurden. Aber auch ohne die Metapher des Schwarms blinder Fische ist der Film ein dystopischer: Er zeichnet eine düstere Zukunft und wirkt mit seinem Bild der gnadenlosen Leistungsgesellschaft in unseren Zeiten eher real als fiktional: Bereits heute neigt unsere Gesellschaft dazu, jeden Einzelnen an seiner Leistung und Performance zu messen. Macht dir der Film Angst vor der Zukunft?

Jannik:
Es macht mir grundsätzlich Angst, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, das kann man gar nicht anders wahrnehmen oder auffassen. Aber darauf hat mich nicht erst dieser Film gebracht – ich denke darüber schon sehr viel länger nach.

Jonas:
Dabei scheint der Roman von 1937 auch aus politischer Sicht gerade aktueller denn je zu sein: Momentan erleben wir, wie immer mehr Länder in Europa nach rechts rücken – ein Trend, vor dem auch Deutschland nicht verschont bleibt. Die Zahl rechter Gewalttaten steigt rapide an, völkisch orientierte Jugendliche organisieren sich in Gruppen wie der „Identitären Bewegung“ und seit wenigen Monaten sitzt eine rechtspopulistische Partei im Deutschen Bundestag. Verändert sich dadurch die Verantwortung, die man als Schauspieler trägt? Ist es in Zeiten wie diesen umso wichtiger, in Filmen wie „Jugend ohne Gott“ mitzuspielen?

Jannik:
Leider haben Filme wie „Jugend ohne Gott“ im deutschen Kino keinen so großen Erfolg wie beispielsweise Komödien. Sie werden hauptsächlich von Menschen gesehen, die ohnehin schon für dieses Thema sensibilisiert sind. Aber die große Masse, die man mit derartigen Themen eigentlich erreichen müsste, schaut sich solche Filme einfach nicht an.
Dennoch halte ich es für wichtig, als Schauspieler in Filmen wie „Jugend ohne Gott“ mitzuspielen und seine Bekanntheit, die man vielleicht durch kommerziellere Produktionen erlangt hat, dafür zu nutzen, um auf ernstere Themen aufmerksam zu machen.

»Jede Form von Kunst kann eine Art von Widerstand sein.«

Jonas:
Kann Schauspielerei eine Art von Widerstand sein?

Jannik:
Du meinst, weil man als Schauspieler bestimmte Charaktere darstellen kann, die gegen Ungerechtigkeit ankämpfen? (überlegt ein paar Sekunden)
Ich glaube, dass jede Form von Kunst eine Art von Widerstand sein kann. Ich finde auch, dass Kunst stellenweise sogar dafür gemacht ist und dass sie in diesem Fall geradezu dafür verantwortlich ist, Widerstand zu leisten. Ich persönlich übe meinen Beruf jedenfalls nicht nur aus, um mich als Schauspieler auszutoben und in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Ich übe diesen Beruf auch für andere Menschen aus, um sie mit auf eine Reise zu nehmen. Mit dem, was ich tue, kann ich sie aus ihrem Alltag herausreißen und sie in Bereiche blicken lassen, die sie vorher nicht kannten. Und ich kann sie dazu bringen, über das Leben nachzudenken.

Jonas:
In „Jugend ohne Gott“ hattest du deinen ersten großen Filmmord. Werden die Charaktere, die du spielst, in Zukunft noch böser und martialischer?

Jannik:
Nö! Noch habe ich keinen neuen Bösewicht im Programm. Und jetzt gerade bin ich ziemlich froh, mal einen totalen Gutmenschen zu spielen – bei den Dreharbeiten zur zweiten „Charité“-Staffel, die zur Zeit des Dritten Reichs spielt. Meine Figur ist ein junger Sanitäter, der 1943 aus einem Lazarett an der Front zurück nach Berlin geholt wird. Damals herrschte in allen Krankenhäusern großer Ärztemangel. Aus diesem Grund gab man beispielsweise Kriegssanitätern die Möglichkeit, innerhalb eines halben Jahres ihr Examen im Schnelldurchlauf zu machen. Hatten sie bestanden, durften sie als Ärzte in den Krankenhäusern arbeiten. Wenn nicht, wurden sie als einfache Soldaten abkommandiert und mussten zurück zur Front.

Jonas:
Was macht diesen jungen Sanitäter zu einem Gutmenschen?

Jannik:
Auf der einen Seite ist er total traumatisiert von dem, was er an der Front erlebt hat. Auf der anderen Seite versinkt er nie in seinem Schmerz, sondern schiebt diese schlimmen Erlebnisse beiseite und versucht, nicht nur selbst glücklich zu sein, sondern auch den Menschen um sich herum Mut zu machen.

»Bei der Nachsynchronisation musste ich an einer Stelle ›Heil Hitler!‹ flüstern. Das war ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl.«

Jonas:
Du hast im letzten Jahr bei einem anderen Projekt vor der Kamera gestanden, das ebenfalls im Deutschland der 1940er Jahre spielt: „The Aftermath“, eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Rhidian Brook. Das Drama kommt wahrscheinlich Anfang 2019 in die Kinos. Spielst du dort auch einen Gutmenschen?

Jannik:
Nein, in „The Aftermath“ spiele ich einen Trümmerjungen, der 1948 während der britischen Besatzung in Hamburg lebt und dabei hilft, die in Schutt und Asche liegende Stadt wiederaufzubauen. Gemeinsam mit vielen anderen Kindern und Jugendlichen wohnt er selbst in einer Ruine und nimmt als Ältester von ihnen die Rolle des Bandenführers ein.
Dieser Junge ist ein „Werwolf“, das heißt, er war Mitglied einer ehemaligen nationalsozialistischen Untergrundorganisation, die kurz vor Ende des Krieges gegründet wurde. Das Ziel dieser Geheimgruppe war es, hinter den feindlichen Linien Sabotage zu verüben und die Bevölkerung von einer Zusammenarbeit mit den Besatzungstruppen abzuhalten – nicht selten durch Ermordung. Nach dem Krieg hielten sich viele Werwölfe versteckt, die meisten von ihnen waren nach wie vor glühende Hitler-Verehrer. Daher ist auch auf dem Arm des Jungen, den ich spiele, ist die Zahl „88“ eingebrannt. Als ich bei der Nachsynchronisation war, musste ich an einer Stelle „Heil Hitler!“ flüstern. Das war ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl.

Jonas:
Verändert es die eigene Wahrnehmung, wenn man bei gleich drei Filmen hintereinander so tief in die Materie des Nationalsozialismus beziehungsweise des Zweiten Weltkriegs eintaucht?

Jannik:
Diese Materie ist wahnsinnig spannend. Ganz davon abgesehen macht es meinen Beruf auch aus, dass ich mich mit den unterschiedlichsten Zeiten und Epochen so stark auseinandersetzen darf. Und das meine ich nicht nur historisch-thematisch. Ich lerne beispielsweise auch viel darüber, wie die Menschen damals den Alltag gemeistert haben oder – ganz profan – welche Kleidung sie getragen haben. Alleine die Recherche der Kostümbildnerin eröffnet mir ein Wissen, zu dem in allgemeinen Geschichtsbüchern kaum etwas zu finden ist. Dabei ist gerade der Aspekt der Kleidung super wichtig: Je besser das Kostüm und die Ausstattung eines Films sind, desto einfacher ist es für mich als Schauspieler, mich visuell in die entsprechende Zeit hineinzuversetzen und meiner Rolle gerecht zu werden.
Bei „The Aftermath“ zum Beispiel haben wir in einem tschechischen Dorf gedreht, das etwa eine Stunde von Prag entfernt liegt. Dort gibt es ganze Straßenzüge, die immer noch aussehen, als wäre der Krieg gerade erst zu Ende gegangen. Nachdem wir alle Komparsen in Trümmerfrauen-Klamotten gesteckt, die Nebelmaschine angeworfen und das Ganze noch mit etwas Schnee, Wind und großen Steinen dekoriert hatten, fühlte es sich am Set auf einmal so an, als würden wir tatsächlich Kriegsstraßen aufräumen.

Jonas:
In „The Aftermath“ spielst du an der Seite von Keira Knightley und Alexander Skarsgård deine erste internationale Rolle. Produziert wird der Film von der Firma „Scott Free Productions“, hinter der der renommierte Regisseur Ridley Scott steht. Was ist bei einer internationalen Produktion anders als bei einer deutschen?

Jannik:
Der Besetzungsvorgang ist sehr viel aufwendiger, weil die Tapes erstmal nach Amerika geschickt werden müssen und der Produzent entscheiden muss, ob er den vorgeschlagenen Cast will oder nicht. Was die Produktion selbst angeht, gibt es Drehtage, an denen es absolut genauso abläuft wie an einem deutschen Set und man keine Unterschiede merkt. Dann wiederum gibt es Tage, an denen einem plötzlich bewusst wird, was für ein immenses Budget hinter so einer amerikanischen Produktion steht – etwa, wenn es darum geht, in einem riesigen Studio ein komplettes Elbufer nachzubauen. Oder wenn man selbst kleine Stunts super aufwendig produziert, die man in Deutschland ganz anders filmen würde. Daher habe ich mich bei „The Aftermath“ stellenweise gefühlt, als wäre ich an einem Making of-Set von „Harry Potter“. Alles war absolut irre und riesengroß!

»Ich hoffe sehr, dass alle Menschen, die in diesem Geschäft in irgendeiner Weise tätig sind, nun mit einem neuen Empfinden durch die Welt gehen und auch offener sind, die Dinge anzusprechen, wenn sie nicht so laufen, wie sie laufen sollten.«

Jonas:
Nun ist es gerade Hollywood, aus dem in den letzten Monaten eher negative als positive Schlagzeilen zu lesen waren…

Jannik:
… wegen der #metoo-Debatte.

Jonas:
Genau. Glaubst du, dass diese Enthüllungen das Business nachhaltig verändern?

Jannik:
Ich glaube leider nicht, dass das der Fall sein wird. Auch wenn viele Frauen den Mut gefunden haben, mit ihren Anschuldigungen an die Öffentlichkeit zu treten, sind diese beschämenden Missbrauchsfälle letztendlich nichts, was die große Mehrheit verblüfft hat. Dennoch hoffe ich sehr, dass alle Menschen, die in diesem Geschäft in irgendeiner Weise tätig sind, nun mit einem neuen Empfinden durch die Welt gehen und auch offener sind, die Dinge anzusprechen, wenn sie nicht so laufen, wie sie laufen sollten.

Jonas:
Unser letztes Interview haben wir vor über vier Jahren in New York geführt. In diesen vier Jahren ist neben der #metoo-Bewegung noch viel mehr passiert, was es gesellschaftspolitisch in sich hatte – und immer noch hat. Wie hast du ganz persönlich die Zeit seit unserem letzten Treffen erlebt? Was hat sich in deinem Leben verändert?

Jannik:
Die letzten Jahre sind total schnell verflogen – und nicht nur die letzten vier: Es ist jetzt schon sieben Jahren her, dass ich nach Berlin gekommen bin. Wenn man diese Zahl auf ein Blatt Papier schreibt, sieht es nach einer wahnsinnig langen Zeit aus. Aber meine sieben Jahre fühlen sich einfach nicht wie sieben Jahre an. Dafür ist beruflich und privat zu viel passiert, es gab zu viele Aufs und Abs. Dennoch frage mich, was ich sieben Jahre lang gemacht habe. Klar, ich habe immer wieder gedreht. Aber was habe ich dazwischen gemacht?
Vor wenigen Monaten erst habe ich angefangen zu studieren. Diese Idee hatte ich zwar schon vorher, aber ich frage mich, warum es ganze sieben Jahre gedauert hat, bis ich wirklich den Entschluss gefasst habe, aktiv ein Studium anzufangen. Zwar habe ich zwischendurch mal kurz versucht, über eine Fernuni zu studieren, aber ich habe schnell gemerkt, dass das ein System ist, das mir nicht besonders liegt. Ich brauche einfach einen Ort, an dem ich physisch anwesend sein kann und echte Leute kennenlernen kann.
Vor allem was mein Privatleben angeht, hat sich in den letzten Jahren recht viel verändert. Um mich herum hat sich ein großer und vertrauter Freundeskreis aufgebaut, der sich mittlerweile total gesetzt hat. Das ist ein sehr schönes Gefühl. Für mich ist mein Privatleben das A und O, denn es lässt mich zur Ruhe kommen und abschalten. Ich habe mittlerweile das Gefühl, in meinem Leben wirklich tolle Freunde und die perfekte Zahl an engen Vertrauten zu haben. Das bringt mir ein großes Maß an Stabilität – und ich bin dadurch sehr ausgeglichen, vielleicht heute noch etwas mehr als vor vier Jahren.

Jonas:
Dabei hast du beruflich seit 2013 ein enormes Pensum absolviert und sehr viel gedreht – unter anderem hast du in der Romanverfilmung „Die Mitte der Welt“ eine der Hauptrollen übernommen. Nach der Premiere im Herbst 2016 hat der Film national wie international etliche Preise eingesammelt. Welches Résumé ziehst du heute, wenn du mit dem Abstand von über einem Jahr auf den Film zurückblickst?

Jannik:
Dass „Die Mitte der Welt“ weltweit alle möglichen Preise gewinnt, ist wunderbar und freut mich sehr – denn dieser Film ist eine der größten Perlen meiner Vita. Ich bin wahnsinnig stolz, bei diesem Projekt dabei gewesen zu sein – alleine deshalb, weil ich den Streifen filmisch so toll finde. Ich glaube, wenn ich diesen Film nur privat im Kino gesehen hätte, hätte ich ihn ebenfalls sehr gemocht. Das liegt an so vielen Dingen: etwa an der Art, wie Jakob M. Erwa das Drehbuch geschrieben hat. Oder an der tollen Kameraführung von Ngo The Chau. Oder an dem außergewöhnlichen Schnitt und der total modernen Montage von Carlotta Kittel. Und davon abgesehen ist „Die Mitte der Welt“ einfach eine wahnsinnig schöne Liebesgeschichte.

»Ich würde zwar ebenfalls von mir behaupten, dass ich ein Mindestmaß an Selbstbewusstsein habe, aber der Charakter von Nicholas übersteigt das um ein Vielfaches.«

Jonas:
Im Gegensatz zu deinen Rollen in „Jugend ohne Gott“ und „The Aftermath“ ist Nicholas – der Charakter, den du in „Die Mitte der Welt“ spielst – weder ein Mörder noch ein Werwolf, sondern ein ganz normaler Jugendlicher, der lediglich dadurch auffällt, dass er sich seinen Mitmenschen gegenüber unsozial verhält. Braucht es für eine Rolle wie Nicholas weniger schauspielerischen Aufwand?

Jannik:
Tatsächlich habe ich in meinem Leben Rollen gespielt, die viel weiter von meiner eigenen Persönlichkeit entfernt sind als diese. Nicholas ist kein Mensch, der besonders böse ist – dafür ist er aber wahnsinnig selbstbewusst und weiß ganz genau, wie er die Leute rumkriegt. Und hier liegt auch der größte Unterschied zu mir selbst: Ich würde zwar ebenfalls von mir behaupten, dass ich ein Mindestmaß an Selbstbewusstsein habe, aber der Charakter von Nicholas übersteigt das um ein Vielfaches. Dementsprechend musste ich mich auf meine Rolle in „Die Mitte der Welt“ genauso vorbereiten wie auf jede andere.

Jonas:
Neben diversen Kino- und Fernsehfilmen gibt es seit 2015 eine weitere, riesgengroße Bühne, die du bespielst: Instagram. Als wir uns vor gut vier Jahren zu unserem letzten Interview getroffen hatten, warst du auf Instagram noch nicht aktiv. Welche Bedeutung haben Soziale Netzwerke heute für dich und deinen Beruf?

Jannik:
Ich habe mich sehr lange dagegen gesperrt – und das hatte auch einen guten Grund. Ich dachte mir immer: Wen interessiert’s, wenn ich auf Instagram oder Facebook ein Foto poste? Mittlerweile weiß ich zwar, dass es genügend Leute gibt, die das interessiert. Aber das ändert nichts daran, dass es mir wahnsinnig schwerfällt, dort die Balance zu finden zwischen einerseits dem Anspruch, als ernstzunehmender Schauspieler wahrgenommen zu werden, und andererseits dem, was man als – ich hasse das Wort – Influencer bezeichnen würde.
Heutzutage ist es einfach so, dass es in bestimmten Kreisen immer wichtiger wird, viele Follower zu haben. Das kann auch ich nicht ignorieren. Ich habe mich daher ausführlich mit dem Ganzen beschäftigt und für mich akzeptiert, dass ich in den Sozialen Netzwerken irgendwie stattfinden muss. Und nach gut zwei Jahren Instagram stelle ich fest, dass die Leute es scheinbar wahnsinnig spannend finden, einen klitzekleinen Einblick in mein Privatleben zu erhalten. Alleine durch diesen kleinen Einblick kann ich viele Follower glücklich machen.

»Die Genugtuung, mich auf bestimmte Kommentare einzulassen, gebe ich den entsprechenden Usern nicht.«

Jonas:
Wenn man sich die Kommentare auf deinem Instagram-Account genauer anschaut, liest man Einiges, was weit über die reguläre Fan-Liebe hinausgeht und stellenweise richtig unangenehm wirkt. Wie gehst du damit um, wenn man dir im digitalen Raum zu nahetritt?

Jannik:
Ich bin ganz ehrlich: In meinen ersten Monaten auf Instagram hatte ich keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte. Anfangs habe ich derartige Kommentare noch selbst kommentiert, später habe ich sie nur noch gelöscht. Aber irgendwann kommt man mit dem Löschen nicht mehr hinterher. Also habe ich wieder damit aufgehört und beschlossen, dass ich von jetzt an einfach akzeptieren werde, dass so etwas passiert, auch wenn ich es nicht gut finde. Die Genugtuung, mich auf bestimmte Kommentare einzulassen, gebe ich den entsprechenden Usern jedenfalls nicht. Sonst würden vielleicht noch mehr von ihnen darauf anspringen.
Insgesamt überwiegt auf meinem Instagram-Account aber das positive Feedback – und zwar deutlich. Dafür bin ich wirklich dankbar. Ich finde es toll, dass ich dort von meinen Fans direkt mitbekommen kann, was sie an einem Film mögen. Außerdem gibt es immer wieder Nachrichten, von denen ich total gerührt bin: Als etwa „Die Mitte der Welt“ in den Kinos anlief, haben mir Menschen aus der ganzen Welt geschrieben, wie sehr ihnen der Film in ihrer persönlichen Lebenssituation geholfen hat und wie dankbar sie dafür sind. Das hat mich nicht nur riesig gefreut, sondern mir auch sehr viel Kraft gegeben.

Jonas:
Etwas, was du im Jahr 2013 ebenfalls noch nicht hattest, war ein Netflix-Account – der Streamingdienst kam erst 2014 nach Deutschland. Wie bewertest du das, was sich da in den letzten Jahren parallel zum linearen Fernsehen – und auch zum Kino – entwickelt hat?

Jannik:
Netflix ist in meinem Leben fest verankert und nicht mehr wegzudenken. Das Fantastische daran ist, dass man als Konsument die Möglichkeit hat, Serien aus der ganzen Welt zu schauen, die man sonst nie sehen würde – vor allem nicht im linearen deutschen Fernsehen.
Ich würde sagen, dass Netflix, Amazon und andere Plattformen in nur wenigen Jahren die Serienlandschaft in ganz Deutschland total verändert haben. Gerade jetzt erleben wir, wie hier in Deutschland immer mehr Serien und Filme gedreht werden, die sich sehr an den amerikanischen Netflix-Formaten orientieren. Ich denke da etwa an „Dark“: Diese Serie gibt uns etwas, was wir in Deutschland immer wollten: einen neuen Look und neue Erzählstrukturen. „Jugend ohne Gott“ ist da ebenfalls ein super Beispiel. Der Film hat ebenfalls keinen deutschen Look und sieht in Bezug auf seine Bildgewalt sehr amerikanisch aus.

Jonas:
Und ein wenig skandinavisch.

Jannik:
Nein, dafür hat der Film zu viel Glanz. Skandinavische Filme sind ausschließlich rau und düster – aber das ist natürlich auch ziemlich geil! Davon abgesehen gibt es in „Jugend ohne Gott“ auch keine lineare Erzählstruktur, das ist für einen deutschen Kinofilm absolut untypisch.
Meiner Meinung nach ist diese neue Netflix-Serienwelt auch dafür verantwortlich, dass man in den letzten Jahren immer mehr verschiedene Erzählstrukturen kennengelernt hat und mittlerweile auch geübt darin ist, so etwas zu schauen. Und das meine ich wörtlich: Das muss sich das Augen antrainieren. Daher hätte wahrscheinlich „Jugend ohne Gott“ mit seiner modernen Erzählstruktur vor zehn Jahren gar nicht funktioniert.

Jonas:
Hast du eine Lieblingsserie?

Jannik:
Meine absolute Top-Serie ist „Stranger Things“ – wie für so viele von uns. Ich finde die Charaktere einfach großartig, vor allem die Kids. Danach kommen in meiner Liste direkt „Fargo“ und „The Crown“.

Jonas:
Es ist interessant, wie schnell sich scheinbar das Seh- und Mediennutzungsverhalten einer ganzen Bevölkerung verändern kann. Ist diese Dynamik in der der Film- und Fernsehlandschaft einer der Gründe, warum du angefangen hast, Medienwissenschaften zu studieren?

Jannik:
Mein ursprünglicher Plan war, Englische Literatur und Anglistik zu studieren. Schon in der Schule war Englisch mein Lieblingsfach – vor allem das Shakespeare-Semester hatte es mir total angetan, weil ich diese Sprache so wundervoll finde.
Dann ist Folgendes passiert: Seit zehn Jahren bin ich Synchronsprecher bei „Drei Fragezeichen Kids“, wo ich die Stimme von Justus Jonas spreche. Als ich vor einigen Monaten wieder mal im Studio saß, habe ich mich mit meinem Kollegen David Wittmann – die Stimme von Bob Andrews – darüber unterhalten, dass ich Englische Literatur und Anglistik studieren will. Die Idee, ein Studium anzufangen, fand er irgendwie auch gut und entschied sich spontan, sich ebenfalls für diesen Studiengang einzuschreiben. Daraufhin haben wir die Abmachung getroffen, dass er sich nun ein zweites Fach aussuchen darf, dass wir gemeinsam belegen. David hat sich für Medienwissenschaften entschieden, also wurde es das. Und jetzt, da mein erstes Semester an der Uni so gut wie vorbei ist, muss ich zugeben, dass ich das Fach Medienwissenschaften sehr viel spannender finde als Englische Literatur.

»Das Studium gibt mir eine Routine und Tagesordnung, die ich in dieser Stringenz in meinem Leben als Schauspieler nicht habe.«

Jonas:
Du drehst und arbeitest sehr viel. Warum wolltest du neben deinem Vollzeitjob noch ein Studium beginnen?

Jannik:
Ja, ich arbeite sehr viel, aber es gibt auch sehr viele Tage im Jahr, an denen ich nicht arbeite. Und an diesen Tagen tut es wahnsinnig gut, seinen Kopf mit anderen Dingen zu füllen als mit Film. Darüber hinaus gibt mir das Studium eine Routine und Tagesordnung, die ich in dieser Stringenz in meinem Leben als Schauspieler nicht habe. Etwas Besseres hätte mir gerade nicht passieren können.

Jonas:
Angenommen, wir treffen uns in vier Jahren wieder zu einem Interview. Was ist in dieser Zeit idealerweise in deinem Leben passiert?

Jannik:
Was ich bis dahin schauspielerisch erreicht haben will, weiß ich gar nicht so genau. Ich könnte jetzt eine langweilige Standardantwort geben wie „Ich wünsche mir die verschiedensten Rollen, in denen ich mich austoben kann“. Aber das tue ich ja schon. Idealerweise habe ich in vier Jahren einen Bachelor in der Tasche. Und idealerweise bin ich in vier Jahren von den gleichen tollen Menschen umgeben, die mich jetzt auch umgeben. Mehr braucht es gar nicht.