Interview — Kida Khodr Ramadan

Kreuzberg, Übersee

Kida Ramadan ist ein Kreuzberger Urgestein. In seinem Lieblingscafé am Paul-Lincke-Ufer sprach er mit uns darüber, wie er im Kiez sozialisiert wurde, was er von Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen hält und warum er Angela Merkel bewundert.

3. Mai 2016 — MYP N° 20 »Mein System« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Wer aus seiner Heimat flieht, hat meistens einen Grund. Der eine lässt sie hinter sich, weil er die Schwere der Provinz nicht mehr erträgt. Der andere versucht nichts weiter, als dem nackten Elend zu entkommen. Persönliche Befindlichkeiten versus Hunger, Krieg und Unterdrückung. Seltsam ist die Welt geworden. Und paradox.

Leider erreicht nicht jeder Fliehende sein Ziel. Der eine scheitert, weil er nicht zu seiner Mitte findet. Der andere, weil er im kalten Meer ertrinkt. Was existenzielle Not bedeutet, ist nicht einfach eine Frage der Perspektive. Sie wird bestimmt vom Schicksal und vom Glück. Und von der Gnade der Geburt.

Ganz egal, um welche Art von Fliehenden es geht, in einem sind sich alle gleich: Wer es geschafft hat anzukommen, baut sich irgendwie ein neues Leben auf. Und formt sich darin ein Zuhause. Denn zuhause sein bedeutet, einen festen Platz zu haben – einen ganz bestimmten Ort, an den man hingehört. Oder einen ganz bestimmten Menschen, bei dem man sich geborgen fühlt.

Es ist Sonntagabend. Gemeinsam mit Schauspieler Kida Khodr Ramadan sitzen wir in der hinteren Ecke einer sympathischen Café-Bar am Berliner Paul-Lincke-Ufer, die den verheißungsvollen Namen „Übersee“ trägt. Vor dem Eingang ist ein mit Pflanzen bewachsener Metallpavillon installiert, aus dessen Dach Dutzende kleiner Lampen hervorragen. Zusammen mit dem gold-gelb illuminierten Schriftzug der Café-Bar spiegelt sich ihr Licht in der nachtschwarzen Oberfläche des Landwehrkanals.

Es fällt uns etwas schwer, mit dem Gespräch zu starten, denn ständig kommt jemand an unseren Tisch, der mit Kida ein paar Worte wechseln will. Der 40-Jährige lebt bereits seit seiner frühesten Kindheit in dieser Gegend, er kennt hier jeden und jeder kennt ihn. Und spätestens seit dem Jahr 2014, als er für seine Rolle in „Ummah – Unter Freunden“ sowohl für den Deutschen Filmpreis als auch für den Deutschen Schauspielerpreis nominiert war, kennt man ihn auch über Kreuzberg hinaus.

Jonas:
Als wir dich vor kurzem gefragt haben, ob es hier in Berlin einen Ort gäbe, der dir besonders am Herzen liegt, hast du ohne zu zögern das Café Übersee genannt. Bist du oft hier?

Kida:
Ja, sehr oft – ebenso wie viele meiner Schauspielkollegen. Frederick Lau oder Numan Acar zum Beispiel, die kommen regelmäßig ins Übersee. Oder Herbert Knaup, der hat sich auch schon ein paar Mal hier blicken lassen. Wir nennen diesen Ort „unsere Base“, denn es ist total familiär und gemütlich hier. Und Firat, der Chef, ist ziemlich cool.
Irgendwie hat es sich auch so entwickelt, dass wir alle hier mittlerweile ganz gerne unsere Interviews abhalten. Das Übersee ist daher so etwas wie unser Büro. Und unser Jugendclub.

Jonas:
Euer Plan ist also, ewig jung zu bleiben?

Kida:
Genau das ist es. Ewige Jugend!

Jonas:
Trägt man nicht ohnehin eine gewisse Jugend in sich, wenn man wie du in Kreuzberg lebt und aufgewachsen ist?

Kida:
Da ist schon was dran. Allerdings wohne ich mittlerweile gar nicht mehr hier. Vor wenigen Wochen bin ich von Kreuzberg nach Schöneberg gezogen.

Jonas:
Du hast tatsächlich als waschechter Kreuzberger deinen geliebten Kiez verlassen?

Kida:
Ja, ich wollte meiner Frau und meinen fünf Kindern einfach mehr Platz und Freiheit schenken. Und zumindest einmal im Leben sollte man sich eine schönere Wohnung leisten, oder? Außerdem hat mich dieses überdrehte Hipster-Leben hier in der Ecke genervt. Das wird von Tag zu Tag schlimmer.

Jonas:
Deine Familie stammt ursprünglich aus dem Libanon. Wegen des Bürgerkriegs musstet ihr Ende der 70er Jahre von heute auf morgen aus Beirut fliehen und seid am Ende in Kreuzberg gelandet. Was ist deine früheste Erinnerung an diesen Stadtteil und seine Menschen?

Kida:
Der Zusammenhalt. In Kreuzberg gab es damals viele Leute, die so waren wie wir. Sie waren in einer ähnlichen Situation, hatten eine ähnliche Geschichte. Hier im Kiez habe ich als Kind viel Freundschaft und Liebe erfahren. Als ein Flüchtlingsjunge, der ich damals ja war, wurde ich gut behandelt. Das hat mich sehr geprägt.

Man hat das Gefühl, in Deutschland sei das Wort Flüchtling mittlerweile gleichbedeutend mit kriminell.

Jonas:
Fühlst du dich durch das, was zur Zeit in Deutschland und Europa passiert, an die Situation von damals erinnert?

Kida:
Für die Leute, die vor dem Krieg fliehen, sind die heutigen Umstände noch viel brutaler. Man hat das Gefühl, in Deutschland sei das Wort Flüchtling mittlerweile gleichbedeutend mit kriminell. Dabei kann doch niemand etwas dafür, in welches Land und in welche Lebensverhältnisse er hineingeboren wird. Das ist einfach pures Schicksal. Daher ist meiner Meinung nach auch jeder Mensch dazu verpflichtet, jeden anderen ebenfalls als Mensch zu sehen und ihn mit Respekt zu behandeln.

Jonas:
Du hast in den letzten 40 Jahren immer an Orten gelebt, an denen sich zu der jeweiligen Zeit sehr viel verändert hat: Der Libanon wurde durch den Bürgerkrieg zu einem anderen Land, Berlin durch den Mauerfall zu einer anderen Stadt, Kreuzberg durch die Gentrifizierung zu einem anderen Kiez. Und gerade jetzt erleben wir, wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Gesellschaft zu einer anderen zu werden scheint. Wie schätzt du diese Entwicklung ein?

Kida (grinst):
Siehst du, mich zieht es immer dahin, wo was los ist. Aber im Ernst: Ich glaube, dass wir in Deutschland sehr privilegiert, frei und sicher leben. Wir können uns glücklich schätzen, dass es hier immer noch den einen oder anderen Respekt gibt. Und die eine oder andere Regel, Disziplin und Struktur, an die man sich hält, damit das Ganze nicht kippt.

Jonas:
Was glaubst du, wie hätte sich dein Leben entwickelt, wenn du nicht in einer Metropole aufgewachsen wärst, sondern irgendwo anders – beispielsweise auf dem platten Land?

Kida:
Allein beruflich hätte ich wahrscheinlich etwas komplett anderes gemacht. Ich bin absolut davon überzeugt, dass ich nur deshalb Schauspieler geworden bin, weil es hier in Kreuzberg eine so lebendige künstlerische Szene gibt. Wenn man wie ich ständig in Jugendzentren gechillt hat und ununterbrochen von Kunst und Kultur umgeben war, ist es ganz automatisch passiert, dass man in diese Welt hineingezogen wurde. Schicksal eben. Und fucking Glück.

Ich habe mir angewöhnt zu sagen,
dass ich der Beste bin: der beste
Schauspieler und der Beste überhaupt!
I am the greatest!

Jonas:
Hattest du auf Schule keinen Bock?

Kida:
Nein! Auf Schule und Studium hatte ich deshalb keinen Bock, weil mir seit der frühen Pubertät klar war, dass ich einmal Künstler sein werde. Ich hatte das Gefühl, dass mir Schule dabei nicht helfen würde – kein Abschluss dieser Welt hätte etwas an meinem Lebensplan geändert: Ich wollte Leute entertainen und sie zum Lachen oder Weinen bringen.
Daher wusste ich schon sehr früh, dass ich mein Geld auf andere Weise verdienen werde. Und wenn es mit der Schauspielerei nicht geklappt hätte, hätte ich immer noch als Tellerwäscher oder Kellner anfangen können. Damit hätte ich kein Problem gehabt. Firat würde mir hier im Übersee bestimmt einen Job geben, wenn ich ihn fragen würde.

(Kida lächelt und bestellt bei Firat eine Cola)

Weißt du, man muss im Leben Ziele haben. Und man muss früh genug und aktiv damit anfangen, sie zu verwirklichen. Wenn man sich von vornherein sagt, man ist ein Gewinner, dann ist man auch ein Gewinner. Aber wenn man immer nur wartet und wartet, bis irgendetwas passiert, dann ist und bleibt man zwangsläufig ein Loser. Daher habe ich mir angewöhnt zu sagen, dass ich der Beste bin: der beste Schauspieler und der Beste überhaupt! I am the greatest!

Jonas:
Einer deiner wichtigsten Wegbereiter ist der deutsch-türkische Regisseur Neco Çelik, der in den 90er Jahren auch als Sozialarbeiter in einem Kreuzberger Jugendzentrum gearbeitet hat. Wie genau hat er dich zum Film gebracht?

Kida:
Neco ist ein super Typ. Schon damals war er hier in Kreuzberg für viele ein Vorbild, weil er sich als Sprüher in der HipHop-Szene einen Namen gemacht hatte. Ich habe ihn im Jahr 2002 kennengelernt, als er sein Fernsehfilmprojekt „Alltag“ vorbereitet hat – in der Story geht es um zwei Jungs, die ein Kreuzberger Wettbüro überfallen. Neco ist auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte mitzumachen. Daher ist er sozusagen mein Entdecker.
Ich habe ihm sehr viel zu verdanken – vor allem, was meine Zukunft angeht. Egal wie alt ich bin und in welcher Situation ich mich gerade befinde, Neco ist einer der wichtigsten Antreiber meiner Karriere. Daher nutze ich jede Chance, die sich bietet, um ihm zu danken: Danke, dass du an mich geglaubt hast, lieber Neco!

Jonas:
Da kommt also jemand und fragt dich, ob du in seinem Film mitspielen willst, und plötzlich stehst du mit Mitte 20 zum ersten Mal an einem Filmset. Hattest du Lampenfieber?

Kida:
Nö. Das Filmset ist für mich wie ein Boxring. Und wenn ich in den Ring steige, steige ich als Gewinner in den Ring und nicht als Verlierer. Wie ich schon gesagt habe: Meine Einstellung ist: Ich bin der Beste. Das war bei meinem ersten Film so und das wird auch bei meinem letzten Film so sein. Das heißt natürlich nicht, dass ich tatsächlich der Beste bin, aber ich brauche für mich einfach diese ganz spezielle Tonalität, diesen Spirit. Es bringt mir ja nichts, wie ein kleines Kind in der Ecke zu stehen und die ganze Zeit andere Schauspieler anzuhimmeln.

Jonas:
Kann man von den Kollegen, mit denen man zusammenarbeitet, nicht auch etwas lernen?

Kida:
Selbstverständlich, diese Chance nutze ich ja auch. Es gibt immer etwas zu lernen, bei jeder Produktion: zum Beispiel wie unterschiedlich die einzelnen Arbeits- und Herangehensweisen der Kollegen sind. Allerdings ist das nichts, was exklusiv der Schauspielerei vorbehalten wäre. In jedem Beruf ist es doch so, dass man versucht herauszufinden, an welcher Stelle man seine Arbeit optimieren kann – ganz egal, ob man vor einer Kamera steht, im Supermarkt an der Kasse sitzt oder irgendwo am Fließband arbeitet.

Kreuzberg ist ein sehr ambivalentes Pflaster, wo viele crazy Motherfuckers herumlaufen. Hier ist man einfach nicht so prüde wie etwa in Zehlendorf.

Jonas:
Ich bin bei der Vorbereitung auf unser Gespräch auf deine Äußerung gestoßen, dass Kreuzberg deine beste Schauspielschule war. Wie ist dieser Satz gemeint?

Kida:
Kreuzberg ist ein sehr ambivalentes Pflaster, wo viele crazy Motherfuckers herumlaufen. Hier ist man einfach nicht so prüde wie etwa in Zehlendorf. Nichts gegen Zehlendorf, da gibt es bestimmt auch viele nette Leute. Aber in Kreuzberg sind die Menschen irgendwie am wenigsten eintönig. Es gibt hier sehr viel Trara, man sieht viel und hört viel. Dementsprechend kann man sich viel abschauen, wenn es darum geht, andere Charaktäre darzustellen.

Jonas:
Wie funktioniert das genau?

Kida:
Man muss in Kreuzberg einfach aktiv den Alltag erleben. Egal ob man morgens zum Bäcker geht oder in die Ubahn steigt. Die Art und Weise, wie die Menschen hier reden und sich verhalten, ist reines Entertainment. Das ist in Istanbul oder Beirut übrigens nicht anders.
Dazu kommt, dass ich als Jugendlicher nicht gerade ein Engel war: oft in schlechter Gesellschaft, viel auf der Straße unterwegs – da lernt man viel. Man wird aber auch zwangsläufig zum Schakal.

Jonas:
Für einen Schakal wirkst du sehr offen und menschenfreundlich.

Kida:
Vor Menschen soll man ja auch keine Angst haben. Warum auch? So wie man sich selbst gibt, so kommt es auch zurück. Das Leben ist wie ein Boomerang.
Ich bin immer gut zu den Leuten: Wenn ich merke, dass jemand der tollste Mensch der Welt ist, dann versuche ich, mindestens genauso toll zu ihm sein. Das ist eine Sache des gegenseitigen Respekts. Es kommt einfach auf die Tonalität an. Wir sind doch alle gleich: Der Mensch ist Mensch, ich bin nicht besser als du und du bist nicht besser als ich. Nur eines darf man nicht: sich wie eine Ratte verhalten. Dann werde ich auch zur Ratte.

Jonas:
Kurz nach „Alltag“ hast du noch für ein weiteres Projekt von Neco Çelik vor der Kamera gestanden: „Urban Guerillas“. Und nur wenig später konntest du bereits wichtige Rollen in den Kinofilmen „Yugotrip“ und „Kebap Connection“ übernehmen: Bei „Kebap Connection“ war dein Name zum ersten Mal auf Filmplakaten zu lesen. Dieser Erfolg ist auf der einen Seite natürlich super, auf der anderen Seite reichen wenige Engagements im Jahr nicht aus, um damit den Kühlschrank füllen zu können. Wie hast du die ersten Jahre als Schauspieler erlebt?

Kida:
Ganz ehrlich: stellenweise als eine schlimme und harte Zeit. Zwar waren für mich vor allem die Kinoproduktionen richtig große Dinger – mit wichtigen Rollen, vielen Drehtagen, bekannten Produktionsfirmen und viel Lob von allen Seiten. Doch wenn so ein Film erstmal abgedreht ist, ist plötzlich alles vorbei: nichts mehr zu tun, Stillstand. Vor allem, wenn es keine weiteren Anfragen gibt. In solchen Situationen fragt man sich: Alter, warte mal, was ist denn los? Warum geht es nicht mehr voran? Ich bin also kein richtiger Schauspieler, oder?
Ein halbes Jahr lang ist nichts passiert – ich wusste einfach nicht, wie’s weitergehen soll. Und so habe ich hier mal gekellnert, dort mal als Tellerwäscher gearbeitet, um mich über Wasser zu halten.

Jonas:
Irgendwie geht es immer weiter.

Kida:
Man darf eben nicht aufgeben. Und man muss Geduld haben: Irgendwann ging es auch bei mir wieder ganz langsam los.

Jonas:
Und aus dir wurde ein hauptberuflicher Schauspieler.

Kida:
Aber was heißt das denn? Wenn man eine Ausbildung zum Elektriker macht, ist man irgendwann Elektriker von Beruf. Aber ist das bei einem Schauspieler wirklich genauso? Wenn man zehn Jahre an der HFF studiert hat oder 15 Jahre an der Ernst Busch war, kann man dann sagen, dass man Schauspieler ist?
Ich habe mir diese Frage in meinem Leben immer wieder gestellt: Ab welchem Punkt kann man von sich behaupten, Schauspieler zu sein? Irgendwie gibt’s diesen Beruf doch gar nicht. Das ist alles Lüge. Wie viele sogenannte Schauspieler können letztendlich von dem leben, was sie da tun? 15 bis 20 Prozent?

Jonas:
Soweit ich weiß, sind es in Deutschland weniger als zehn Prozent, die allein von der Schauspielerei leben können.

Kida:
Weniger als zehn Prozent? Das ist erschreckend. Wirklich brutal.

Jonas:
Kannst wenigstens du allein von der Schauspielerei leben?

Kida:
In meinem Leben gab es Zeiten, da wäre dieser Gedanke für mich unvorstellbar gewesen. Aber heute gehöre ich tatsächlich zu diesen zehn Prozent, die irgendwie Glück mit ihren Agenten hatten und ins Business gekommen sind. Daher geht es mir im Moment auch einfach sehr gut. Aber man weiß ja nie, was morgen ist. Man hat keine Ahnung, welche Jobs kommen und welche wieder platzen. Die Schauspielerei ist einfach unberechenbar. Daher wiegt dieses Wort für mich auch so schwer.

Jonas:
Im Vergleich zu einem 20-jährigen Jungschauspieler trägst du als Familienvater auch eine ganz andere Verantwortung. Deine Kinder brauchen jeden Tag etwas zu essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf.

Kida:
Ganz genau. Trotzdem hat bei mir Existenzangst nie eine Rolle gespielt. Wenn ich mal drei Monate keine Arbeit habe, schaue ich einfach, was ich sonst noch so machen kann – ganz egal, wie groß die Rolle war, die ich vorher gespielt habe. Versteh mich nicht falsch: Mein Ziel im Leben ist es, gute Filme zu machen. Aber manchmal geht es auch einfach nur darum, den Kühlschrank zu füllen.

Ich wusste bei meinem ersten Tatort nicht, was das ist. Ich bin mit Denver Clan und Dallas groß geworden. Und mit Bonanza und Glücksrad.

Jonas:
Du bist jemand, den man immer mal wieder im Tatort sieht. Viele Millionen Menschen in Deutschland sind mit diesem TV-Format aufgewachsen. Du auch?

Kida:
Ganz ehrlich? Ich wusste bei meinem ersten Tatort nicht, was das ist. Ich bin mit Denver Clan und Dallas groß geworden. Und mit Bonanza und Glücksrad. Aber Tatort? Ich wusste zwar, dass es jeden Sonntag um 20:15 Uhr im Fernsehen immer wieder so einen Einspieler mit Fadenkreuz gab, aber dass um diese Serie bis heute so ein Hype gemacht wird, war mir lange nicht bewusst.

Jonas:
Ich finde es sehr bemerkenswert, wie sich dieses TV-Format in über 40 Jahren entwickelt hat.

Kida:
Ja, voll modern geworden, oder? Welcher ist dein Lieblings-Tatort?

Jonas:
Mir gefällt der neue Berliner Tatort mit Meret Becker. Gut erzählt, tolle Dynamik. Außerdem mag ich die sechs Episoden mit Mehmet Kurtuluş als Ermittler in Hamburg, die bis 2011 ausgestrahlt wurden – alleine schon wegen der Bildsprache. Dagegen fand ich beispielsweise den Saarland-Tatort nie so berauschend.

Kida:
Was sagst du da? Nichts gegen den saarländischen Tatort mit Devid Striesow! Der ist wirklich gut. Als Devid im Jahr 2009 seinen allerersten Fall gedreht hat, war ich übrigens dabei. Ich habe damals einen Gangster gespielt, der ein kleines Kind entführt.

Jonas:
Schon wieder einen Gangster.

Kida:
So sieht’s aus.

Jonas:
Stört es dich nicht, dass du immer wieder solche Charaktäre spielen sollst? Ich muss gerade an das denken, was uns deine Kollegin Ulrike Folkerts erzählt hat, als wir sie im Sommer 2014 interviewt haben: „Das deutsche Fernsehen hat noch etliche andere Großbaustellen: So findet beispielsweise der Ausländeranteil, den wir in unserem Alltag erleben, im Fernsehen einfach nicht statt […] Da werden etwa türkischstämmige Schauspieler immer noch ausschließlich für flache Klischeerollen besetzt, obwohl sie in ihrem Leben vielleicht ein einziges Mal nach Anatolien gereist sind, weil von dort ihre Großeltern kommen. Auch hier muss das Fernsehen endlich anfangen, moderner zu werden und den Spiegel der Gesellschaft an sich zu reißen. Es wird sich nichts ändern, wenn man immer wieder gängige Klischees bedient und beispielsweise einen Schwulen eine Tucke spielen lässt oder einen Schauspieler mit ausländischen Wurzeln für die Rolle des Dönerverkäufers oder Gemüsehändlers besetzt.“ Siehst du das ähnlich?

In Deutschland traut man sich einfach nicht, jemanden wie mich beispielsweise für die Rolle eines deutschen Lehrers Michael Meier zu besetzen.

Kida:
Ich küsse die Hände dieser Frau! Sie hat es auf den Punkt gebracht. In Deutschland traut man sich einfach nicht, jemanden wie mich beispielsweise für die Rolle eines deutschen Lehrers Michael Meier zu besetzen. Aber es ist auch schon besser geworden, zumindest was den Erfolgsstatus von Schauspielern wie etwa Elyas M’Barek oder Fahri Yardim angeht.

Jonas:
Aber auch die sind nicht davor geschützt, in der Öfferntlichkeit immer wieder mit seltsamen Fragen konfrontiert zu werden. Elyas M’Barek etwa wurde Ende 2013 in einer „Wetten, dass..?“ Sendung von Markus Lanz darauf angesprochen, warum er kein Arabisch spricht, wo doch sein Vater aus Tunesien stammt. Es scheint, als würde man bestimmte Denkmuster einfach nicht aus den Köpfen der Leute bekommen.

Kida:
Ich verstehe das Problem auch nicht. Für mich als Zuschauer wäre doch die Spielstärke eines Darstellers viel wichtiger als sein kultureller Hintergrund. Wenn jemand den Lehrer Michael Meier richtig gut spielen kann, warum sollte man ihn dann nicht für die Rolle besetzen?

Jonas:
Was müsste man denn tun, um das Publikum zu sozialisieren?

Kida:
Mehr Mut haben! Die Förderanstalten, die Geldgeber, die Sender – alle müssten mutiger sein. Aber sie trauen es den Schauspielern immer noch nicht zu. Dabei muss man sich nur Fahri Yardim im Hamburger Tatort anschauen, der an der Seite von Til Schweiger einen der beiden Hauptkommissare spielt. Fahri kommt da als absolut waschechter Hamburger rüber – mehr Lokalpatriot geht nicht.

Jonas:
Würdest du auch gerne mal eine große Hauptrolle übernehmen?

Kida:
Ich habe kein Problem damit, immer wieder gute Nebenrollen zu spielen. Ich bin ja auch eher der markantere Typ und weniger der typische Hauptrollen-Schönling. Aber klar, wenn das Angebot für eine interessante Hauptrolle kommen würde, würde ich auf jeden Fall zuschlagen. Wer würde das nicht tun?

Jonas:
Eine Hauptrolle der ganz anderen Art hast du vor einigen Monaten in dem Kurzfilm „The Huntingtons“ übernommen, in dem auch Kollegen wie Samuel Schneider, Frederick Lau, Jella Haase, Alice Dwyer oder Franziska Knuppe zu sehen sind. Mit dem Film, in dem du einen trauernden englischen Patriarchen spielst, hat der Berliner Modedesigner Kilian Kerner seine neue Herbst-Winter-Kollektion vorgestellt. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Kida:
Bei Kilian konnte ich einfach nicht nein sagen, er ist einfach ein so wahnsinnig toller Mensch. Es gab mal eine Situation, in der ich wegen einer Premierenfeier gut aussehen musste und niemand einen Anzug für mich hatte. Ich war ein Nichts, niemand hätte mir nur einen einzigen Fetzen Stoff gegeben. Aber Kilian war für mich da und hat an mich geglaubt. Das werde ich ihm nie vergessen.

Ich war ein Nichts, niemand hätte mir nur einen einzigen Fetzen Stoff gegeben.

Jonas:
Wie habt ihr euch kennengelernt?

Kida:
Über meinen guten Freund Frederick Lau.

Jonas:
Frederick Lau ist ein großer Anker in deinem Leben, richtig?

Kida:
Du meinst Frederick Ramadan.

Jonas:
Oder Kida Lau.

Kida (lacht):
Genau. Wer Freddy kennt, der weiß, was für eine Granate dieser Kerl ist. Er hat zwar wie jeder Mensch seine Ecken und Kanten, aber dafür ein riesengroßes Herz. Als wir uns kennengelernt haben, haben wir schnell gemerkt, dass wir auf einem Level sind.

Jonas:
Ein mindestens genauso großer Anker wie Freundschaft ist die Familie. Was gibst du deinen Kindern mit, damit sie für diese Welt gewappnet sind?

Kida:
Ich möchte, dass meine Kinder lernen, alle Menschen zu respektieren und friedlich mit ihnen zusammenzuleben – egal ob sie hier geboren sind oder nicht. Man muss immer daran denken, dass die Menschen, die fliehen, nicht Deutschland als Ziel haben, sondern den Frieden.
Vor kurzem hatte ich mit meiner ältesten Tochter eine Diskussion darüber, in welchen glücklichen Verhältnissen wir eigentlich leben. Ich versuche meinen Kindern immer wieder zu erklären, dass es Menschen auf der Welt gibt, für die es purer Luxus ist, jeden Tag zu duschen oder sich ein Bad einzulassen. Während es für uns total normal ist, einen Schokoriegel aus dem Schrank zu nehmen, wenn man Lust darauf hat, kämpfen anderswo die Menschen um’s nackte Überleben.
Nach diesem Gespräch hat meine Tochter plötzlich angefangen zu weinen. Sie sagte, sie hätte Angst, dass in Deutschland das Gleiche passieren könnte wie im Libanon oder in Syrien.

Jonas:
Was hast du ihr geantwortet?

Kida:
Dass ich so etwas natürlich nicht hundertprozentig versprechen kann. Aber dass ich fest daran glaube, dass es in Deutschland nicht so kommen wird, jedenfalls mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit.

Jonas:
Dennoch ist die Situation an vielen Orten in Deutschland und Europa zur Zeit bitterernst. Da werden Flüchtlingsheime angegriffen, Menschen verängstigt und in übelster Weise auf den Staat und die Presse geschimpft. Was geht deiner Meinung nach gerade schief in so vielen Köpfen?

Kida:
Ich weiß es nicht. Vielleicht hat man versäumt, ihnen schon im Kindergarten oder in der Schule klar zu machen, dass es Menschen gibt, die vor dem allergrößten Elend fliehen müssen, während man selbst genug zu fressen hat. Ich finde, diese Aufklärung sollte genauso selbstverständlich zum Lehrplan gehören wie der Sportunterricht.
Im Moment fühle ich mich sehr stark an die Zeit erinnert, als Anfang der 90er der Mob in Rostock-Lichtenhagen tobte. Die Stimmung im Land war ziemlich aufgeheizt, das war wirklich hässlich. Aber danach wurde es wieder ruhiger, es kamen viele schöne Jahre. Nur leider kocht jetzt das Ganze wieder hoch.
Ich glaube, das Problem liegt ganz allgemein darin, dass sich die Menschen zu wenig austauschen. Statt miteinander zu reden, rennen sie aus falscher Angst zu irgendeiner neuen Partei, die ihnen das Blaue vom Himmel verspricht. Aber lass die mal ein Jahr lang im Parlament sitzen. Die verkacken, Alter! Die verkacken hochgradig. Und dann sind sie bald wieder weg vom Fenster.

Jonas:
Du scheinst ein politischer Mensch zu sein.

Kida:
Nö, eigentlich nicht. Aber in diesen Zeiten wird man das einfach automatisch – vor allem, wenn man Kinder hat.

Jonas:
Vor kurzem hast du gemeinsam mit dem Regisseur Detlev Buck eine Berliner Justizvollzugsanstalt besucht, um euren Film „Knallhart“ von 2006 zu zeigen. Das Drama erzählt die Geschichte eines 15-jährigen Jungen, der von einer kriminellen Jugendbande drangsaliert wird. Dieser Film ist damals vielfach ausgezeichnet worden und dient Pädagogen heute noch als Arbeitsmaterial für ihren Unterricht. Würdest du sagen, dass du ein Vorbild bist?

Kida:
Ich würde sagen, dass ich zumindest für diejenigen Jugendlichen ein Vorbild sein kann, die es schaffen wollen. Ich fühle mich selbst ja immer noch als einer von ihnen – das versuche ich ihnen zu vermitteln. Aber wenn ich für diese Jungs wirklich ein Vorbild sein kann, dann will ich es als Familienvater sein und nicht als das, was ich beruflich mache.
Diese jungen Leute haben Detlev und mir erzählt, dass sie keine Träume mehr haben. Sie haben gesagt, dass sie einfach kaputt sind und das Lachen verloren haben. Das hat uns wirklich schockiert. Daher habe ich ihnen angeboten, mir auf Facebook zu schreiben, sobald sie wieder draußen sind. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mit ihnen einen Kaffee trinken gehe und mir Zeit für sie nehme. Das mache ich wirklich gerne. Am Ende war es ein ziemlich komisches Gefühl, dass wir wieder nachhause gehen dürfen und die Jungs dort bleiben müssen.

(Kida schweigt für einen Moment)

Es geht mir echt nicht aus dem Kopf. 18, 19 Jahre alt und keine Träume mehr. Kann man sich das vorstellen?

Jonas:
Was sind denn deine Träume?

Kida:
Ich bete jeden Tag zu Gott und wünsche mir, dass meine Kinder gesund und aufrecht durch’s Leben gehen. Und ich wünsche mir, dass meine Frau und meine Mutter gesund bleiben. Der Rest ist purer Luxus für mich. Ich hab’s dir ja gesagt: Ich könnte morgen hier im Übersee in der Küche anfangen, kein Problem. Das Einzige, was ich will, ist irgendwann Opa werden.

Jonas:
Vor einigen Jahren ist dein Vater gestorben. Wie ist er damit umgegangen, dass du in deinem Leben Schauspieler geworden bist?

Kida:
Ich glaube, dass mein Vater letztendlich froh war, dass ich bei dem sozialen Umfeld, das ich als Jugendlicher hatte, nicht kriminell geworden bin. Und dass die Kunst meinen Arsch gerettet hat. Er war sogar ein wenig stolz, als er mich zum ersten Mal auf einem Filmplakat an einer Litfaßsäule gesehen hat.
Aber das, was mein Vater geleistet hat, werde ich selbst nie erreichen können. Er hat Tag und Nacht für uns gearbeitet und hat sich persönlich nie etwas gegönnt. Mein Vater hat nie vom Amt gelebt, hat alles aus dem Nichts aufgebaut und eine Familie mit sieben Kindern durchgebracht. Zeitweise hatte er sogar zwei Jobs gleichzeitig gehabt – alles nur, damit es uns gut geht und wir immer einen vollen Kühlschrank haben.

Echtes Leid kenne ich einfach nicht – das kennen übrigens auch die nicht, die gerade überall so laut schreien.

Jonas:
Aber du selbst hast doch auch viel erreicht in deinem Leben.

Kida:
Ja, aber ich habe diesen riesigen Sprung nicht gemacht, bin diesen steinigen und weiten Weg nicht gegangen. Mein Vater war Mitte der 70er Jahre ein erfolgreicher Geschäftsmann in Beirut. Aber plötzlich wurde er aus seinem etablierten, sicheren und guten Leben herausgerissen: Bam! Krieg! Raus hier! Da ging es vom einen auf den anderen Moment nur noch darum, die Familie zu retten.
Ich selbst bin hier in Deutschland aufgewachsen. Ich habe hier meine Frau kennengelernt. Hier wurden unsere Kinder geboren. Dementsprechend habe ich noch nie wirklich gelitten. Echtes Leid kenne ich einfach nicht – das kennen übrigens auch die nicht, die gerade überall so laut schreien.
Mein Vater hat immer gesagt: „Als wir nach Deutschland gekommen sind, haben wir mit allem gerechnet. Aber nicht damit, dass wir mal hier sterben werden.“ All die Jahre hat er sich gewünscht, irgendwann wieder in sein altes Leben zurückkehren zu können. Er hatte einfach das Gefühl, dort hinzugehören – zu seinem Land, zu seiner Heimat.