Interview — Louis Hofmann

Von Zeit und Wahrheit

In Staffel 2 der Erfolgsserie »Dark« erzählt Louis Hofmann auf Netflix gerade die Geschichte seiner Rolle Jonas Kahnwald weiter. Im Interview verrät uns der Schauspieler, wie man bei so einer komplexen Serie den Überblick behält. Und er erklärt uns, was es braucht, um einer Rolle die Wahrheit eines echten Menschen zu geben.

22. Juli 2019 — MYP N° 26 »Stil« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Die Zeit ist ein sonderbares Wesen. Wer sie in seine Gedanken lässt, muss damit rechnen, dass sie alles Vergangene in Frage stellt. Dabei war sie es doch selbst, die in der Vergangenheit genau die Realität schuf, die seitdem auf immer und ewig gilt und nicht mehr beeinflusst werden kann. Oder etwa nicht?

Man muss dieses Wesen nur ein bisschen in seinen Gedanken wüten lassen und schon sind sie da, die quälenden Fragen, wie sich der Lauf der Dinge verändert hätte, wenn man damals in seinem Leben links abgebogen wäre und nicht rechts. Wenn man „Ich liebe dich“ gesagt hätte, statt zu schweigen. Wenn man geblieben wäre, statt zu gehen.

Noch sonderbarer wird es, wenn man die Zeit in den Kontext bestimmter Orte setzt. Wie etwa den Volkspark Humboldthain im Berliner Norden. Die Parkanlage, deren Bau am 14. September 1869 – dem 100. Geburtstag von Alexander von Humboldt – begann, wurde zu Ehren des großen Naturforschers angelegt. Ihr oberstes Ziel war es, die Schönheit der Natur zu unterstreichen. 1941, 72 Jahre später, war es damit vorbei. In der wohl dunkelsten Zeit Berlins entstand hier eine gigantische Hochbunkerlage, deren Flakgeschütze vor allem nachts ein ohrenbetäubendes Granaten-Stakkato in die Luft tackerten. Heute ist der Park ein beliebtes Areal für Freizeitaktivitäten aller Art, insbesondere Kletterer und Fitnessfanatiker haben an und auf dem ehemaligen Bunker ihr ganz persönliches Paradies gefunden. Und Fotografen.

Und so haben wir diesen geschichtsträchtigen Ort gewählt, um uns hier mit Louis Hofmann zu treffen, dem 22-jährigen Schauspieler, dessen Gesicht spätestens seit der Netflix-Erfolgsserie „Dark“ auf der ganzen Welt bekannt sein dürfte – oder zumindest dort, wo die Streaming-Plattform freigeschaltet ist und es schnelles Internet gibt.

Die Serie, die gemeinsam von Jantje Friese und Baran bo Odar entwickelt wurde, ist das erste Netflix-Gewächs, das in Deutschland entwickelt, produziert und gefilmt wurde. Sie erzählt die Geschichte des kleinen Städtchens Winden und seiner Bewohner, und zwar in den Jahren 2019, 1986 und 1953. Das Besondere daran: Die Story zeigt nicht nur, wie Gegenwart und Zukunft von der Vergangenheit abhängen, sondern auch umgekehrt. In der zweiten Staffel, die am 21. Juni veröffentlicht wurde, addieren sich dazu zwei weitere Handlungsstränge, 1921 und 2053. Im Mittelpunkt der Story steht der – im Jahr 2019 jugendliche – Jonas Kahnwald, gespielt von Louis Hofmann, der durch die Zeit reist, um einen Weg zu finden, den sich gegenseitig beeinflussenden Zyklus der Zeiten zu durchbrechen.

Die Serie bezieht ihre Komplexität aus der Vielzahl der dargestellten Charaktere und ihrer individuellen Erzählstränge. Kurz gesagt: „Dark“ ist mehr als Jonas Kahnwald. Und genauso ist Louis Hofmann mehr als „Dark“. Viel mehr. Der feinsinnige Schauspieler hat in den letzten Jahren in einer Vielzahl besonderer Filme brilliert, die man im positiven Sinne nicht mehr los wird. Ob „Freistatt“, „Mitte der Welt“, „Unter dem Sand“ oder „1000 Arten Regen zu beschreiben“ – Louis hat die Gabe, über seine Rollen etwas zu erzählen, was Denis Scheck wohl mit „das Gute, Schöne, Wahre“ etikettieren würde. Die Figuren, die er spielt, lässt er verletzlich sein und gleichzeitig stark, gedankenverloren und gleichzeitig reflektiert, unbeschwert und gleichzeitig den gesamten Weltschmerz auf den Schultern tragend.

Wollte man sich ausführlich mit dem Gesamtwerk des noch so jungen Schauspielers befassen, könnte man wortwörtlich Bücher füllen. Aber fangen wir mal mit „Dark“ an.

Jonas:
Als im Dezember 2017 die erste „Dark“-Staffel veröffentlicht wurde, haben Zuschauer wie Kritiker in ihrer Begeisterung förmlich überschlagen. Eine solche Qualität hatten viele bis dahin nicht von einer deutschen Produktion erwartet, vor allem nicht in Bezug auf Dramaturgie und Visualität. Wie hast du als Netflix-Konsument den Serienstart damals erlebt?

Louis:
Glücklicherweise konnte ich die Serie bisher als relativ normaler, objektiver Zuschauer genießen – das gilt auch für die aktuelle zweite Staffel. In „Dark“ gibt es etliche Rollen und Erzählstränge, in denen meine Figur Jonas nicht stattfindet und die ich dementsprechend von den Dreharbeiten her auch noch nicht kannte. Während des Drehs habe ich ohnehin versucht, alle anderen Erzählstränge zur Seite zu schieben und mich nur auf den von Jonas Kahnwald zu konzentrieren. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich ziemlich durcheinandergekommen, weil der Inhalt der Serie so komplex ist.

Jonas:
Was unterscheidet die aktuelle zweite Staffel von der ersten?

Louis:
In Staffel 1 ist es in erster Linie so, dass mit den jeweiligen Figuren irgendetwas passiert und sie damit umgehen müssen. In der zweiten Staffel werden diese Figuren um Einiges aktiver, das gilt insbesondere für Jonas. Ganz am Anfang der Serie ist er noch sehr passiv und muss im Laufe der Episoden erst lernen, das Heft selbst in die Hand zu nehmen. In der zweiten Staffel weiß er bereits viel besser, wer er ist, welche Bedeutung er hat und was er tun muss, um seine Ziele zu erreichen – und natürlich, was er dafür zu opfern hat. Aber auch alle anderen Charaktere lernen dazu, insgesamt wird das Wissen der einzelnen Figuren im Laufe der zweiten Staffel sehr viel größer. Darüber hinaus würde ich sagen, dass diese zweite Staffel auch emotionaler ist. Es werden nun deutlich mehr Informationen an andere weitergegeben, was für diese Menschen nicht weniger als weltbildverändernd ist.

»In Deutschland neigt man eher dazu, auf Nummer sicher zu gehen.«

Jonas:
Auf der Plattform kino.de gibt es einen Episodenguide zur ersten Staffel, in dem es heißt, dass ein einmaliges Schauen der Serie nicht genüge, um alle Zusammenhänge und Hinweise zu erkennen: „Oft reicht eine kurze Ablenkung wie der Griff zum Getränk oder der Blick zur Uhr, um ein wichtiges Detail zu verpassen.“ Siehst du das ähnlich?

Louis:
Die Serie ist definitiv komplex, da stimme ich zu. Und dadurch, dass in Staffel 2 so viele Informationen vermittelt werden müssen, um die Story voranzutreiben, ist diese zweite Staffel vielleicht noch komplexer als die erste. Jantje Friese und Baran bo Odar haben immer betont, dass sie mit „Dark“ eine Serie schaffen wollten, die die Zuschauer auf eine bestimmte Art und Weise herausfordert. Auch das gab es übrigens bis dahin noch nicht in Deutschland – hier neigt man ja eher dazu, auf Nummer sicher zu gehen. Nach Veröffentlichung der ersten Staffel gab es lustigerweise auf der einen Seite Kritiker, die uns vorgeworfen haben, dass die Serie zu kompliziert sei. Und gleichzeitig gab es auf der anderen Seite Kritiker, die sich beschwert haben, dass wir die Zuschauer viel zu sehr an die Hand nehmen würden.

Jonas:
Wie bist du mit der hohen Komplexität umgegangen, die allein innerhalb der Figur Jonas Kahnwald angelegt ist? Behält man da immer den Überblick, auch wenn man sich nur auf seinen eigenen Erzählstrang konzentriert?

Louis:
Natürlich haben wir alle beim Dreh immer mal wieder den roten Faden verloren. Aber Gott sei Dank gibt es Jantje, die den kompletten Durchblick hat. Sie weiß bis ins kleinste Detail, wie, wo, was, wann passiert. Bei den Dreharbeiten für die zweite Staffel hatten wir zusätzlich einen Script Supervisor, an den man sich immer wenden konnte. Außerdem gab es am Set spezielle Bildschirme, auf denen man die gesamte erste Staffel ausspielen konnte – für den Fall, dass man mal nachschauen wollte, auf welche bestimmte Stelle eine Szene Bezug nimmt, für die man gerade vor der Kamera steht.

»Heute ist es wesentlich leichter, aus dem Hollywood-Zwang auszubrechen.«

Jonas:
Lars Montag, Regisseur der Netflix-Serie „How To Sell Drugs Online (Fast)“, hat uns vor kurzem im Interview verraten, dass er das Gefühl habe, dass es seit Fassbinder eigentlich keine deutsche Erzählweise mehr gebe. Er sagte: „Alle versuchen nur noch, in irgendeiner Form Hollywood nachzumachen.“ Braucht es deiner Meinung nach eine besondere deutsche Erzählweise – so, wie man etwa den Skandinaviern, Franzosen oder Engländern eine ganz eigene filmische Erzählweise zuschreibt?

Louis:
Eindeutig nein. Ich glaube, wir leben in Zeiten, in denen alle versuchen, etwas Besonderes zu schaffen. Alleine dadurch werden immer mehr Erzählweisen aufgebrochen. Das kann man selbst bei den Skandinaviern beobachten, denen man einen besonders starken Stereotyp bei Bildsprache und Erzählweise nachsagt. Der Grund für diese Entwicklung ist, dass wir alle immer internationaler erzählen – was aber explizit nicht bedeutet, dass wir uns dabei mehr an Hollywood orientieren. International erzählen heißt für mich, dass wir durch bestimmte Erzählweisen länderübergreifend Zuschauer ansprechen können und uns deswegen nicht auf unsere lokalen Schemata reduzieren müssen.
Natürlich braucht es nach wie vor unterschiedliche Erzählweisen im Film – aber nicht, um die nationale Verortung hervorzuheben, sondern um die unterschiedlichsten Zuschauertypen ansprechen zu können. Ganz davon abgesehen gibt es auch nicht das eine große Geheimrezept der Hollywood’schen Erzählweise, die man zwingend anwenden muss, um die Leute zu erreichen. Ich glaube vielmehr, dass es heute wesentlich leichter ist, aus diesem Hollywood-Zwang auszubrechen – einfach, weil die Zuschauer viel diverser geworden sind.

Jonas:
Der Trailer der zweiten „Dark“-Staffel macht mit einer düsteren, postapokalyptischen Landschaft auf, in der ein zerstörtes Atomkraftwerk zu sehen ist. Ist es nicht seltsam, wie realitätsnah und durchaus vorstellbar solche fiktionalen Bilder wirken, wenn man sie im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um den Klimawandel und drohende Umweltkatastrophen betrachtet?

Louis:
Wenn über die Zukunft gesprochen wird, gibt es hauptsächlich zwei Szenarien, die möglich erscheinen: Das eine beschreibt eine extrem moderne und florierende Science-Fiction-Welt mit fliegenden Autos, in der alles blinkt und leuchtet. Das andere ist genau das Gegenteil: ein düsteres Szenario, in dem alles zerstört ist – weil wir Menschen uns selbst kaputt gemacht haben. In diesem Szenario gewinnt die Natur wieder ganz langsam die Oberhand und überrollt uns. Bei „Dark 2“ gab es nicht unbedingt die Absicht, Parallelen zu diesem zweiten möglichen Szenario zu schaffen. Aber es ist tatsächlich auffällig, dass diese Bilder in der heutigen Zeit gar nicht so unrealistisch wirken.

»In Anbetracht der bedrohlichen Situation verstehe ich nicht, warum sich in Deutschland gerade junge Politiker nicht viel stärker einbringen.«

Jonas:
Vor kurzem warst du zusammen mit der niederländischen Schauspielerin Hannah Hoekstra in der Arte-Kurzfilmreihe „Paare“ zu sehen. Ihr spielt dort ein junges Pärchen, das darüber diskutiert, ob es angebracht ist, sich die Deutschland-Fahne ins Gesicht zu malen, etwa bei einem Spiel der Nationalmannschaft. Er regt sich wahnsinnig darüber auf, sie versteht sein Problem nicht. Wie blickst du persönlich momentan auf dieses Land?

Louis:
Mit Scham und mit Sorge, weil das wichtigste und bedrohlichste Thema der Welt – der Klimawandel – nicht ernst genommen wird. Es scheint zwar aktuell eine Art Sinneswandel zu geben, der sich auch dadurch ausdrückt, dass die Grünen zeitweise in den Umfragen führen. Trotzdem schnürt es mir immer die Kehle zu, wenn ich merke, wie Klimaziele ignoriert werden und Deutschland – das eine gewisse Vorbildfunktion hat – dermaßen verkackt. Das finde ich richtig traurig. Ich hoffe sehr, dass dieser grüne Trend kein kurzlebiger bleibt und weitergeht, weil wir einfach dafür sorgen müssen, dass diese Erde nicht in 30 Jahren dem Untergang geweiht ist. Wenn ich mich mit den prognostizierten, katastrophalen Folgen des Klimawandels auseinandersetze, macht mir das Angst. In Anbetracht dieser bedrohlichen Situation verstehe ich nicht, warum sich in Deutschland gerade junge Politiker nicht viel stärker einbringen. Durch ihren Job ist ihnen doch eine riesige Bühne gegeben! Nur leider wird diese Bühne nur von den Wenigsten genutzt. Dabei hätten sie jetzt die Chance, endlich Wahrheiten auszusprechen. Aber es wird nur gelabert. Wenn man einigen von diesen Politikern zuhört, will man sie am liebsten schütteln und wachrütteln.

»Wahrscheinlich habe ich eh schon lange die Chance verpasst, den Leuten meine Meinungen ans Herz zu legen.«

Jonas:
Du hast in den letzten Jahren deine Social-Media-Aktivitäten sehr stark reduziert. Dabei könntest du deine Popularität und die damit verbundene Reichweite nutzen, um bestimmten Themen mehr Raum im öffentlichen Diskurs zu geben. Warum hast du dich entschieden, dich aus den Sozialen Netzwerken zurückzuziehen? Hast du nicht das Gefühl, damit einen gewissen Einfluss abgegeben zu haben?

Louis:
Natürlich ist es ein Stück weit so, dass man mit einer gewissen Anzahl an Followern und der damit verbundenen Reichweite die Möglichkeit hat, seine eigenen Meinungen zu verbreiten und die von anderen Menschen zu beeinflussen. Für mich war es aber schon immer schwierig, mich in den Social Networks zu konkreten politischen Fragen zu positionieren. Zwar ist es mir im Vorfeld der Europawahl relativ leichtgefallen, mit meinen Posts dazu aufzurufen, zur Wahl zu gehen. Ansonsten bin ich da aber eher vorsichtig. Wahrscheinlich habe ich eh schon lange die Chance verpasst, den Leuten meine Meinungen ans Herz zu legen. Anderen gelingt das übrigens wirklich toll, was ich sehr bewundere. Aber in meinem Fall war es eine sehr egoistische Entscheidung, meinen Facebook-Account zu löschen und mich auf Instagram stark zurückzuziehen.

»Ich hatte immer das Gefühl, etwas posten zu müssen, um die Leute zu entertainen oder bei der Stange zu halten.«

Jonas:
Inwiefern?

Louis:
Es hat mir einfach nicht gutgetan. Ich hatte immer das Gefühl, etwas posten zu müssen, um die Leute zu entertainen oder bei der Stange zu halten. Das hat mich total verunsichert und unter Druck gesetzt. Daher habe ich entschieden, mich davon zu befreien. Facebook hielt ich ohnehin nicht mehr für notwendig. Die Entscheidung, auch Instagram nicht mehr zu benutzen, habe ich letztes Jahr während des Drehs zur zweiten Staffel von „Dark“ getroffen. Damals stand ich generell sehr stark unter Druck. Und wenn sich dazu noch weitere Komponenten wie etwa Soziale Netzwerke addieren, durch die ich mich zusätzlich unter Druck gesetzt fühle, wird mir das alles zu viel. Mein Instagram-Account existiert zwar noch und ich poste dort ab und zu Bilder, aber dafür muss ich jedes Mal die App neu installieren, weil ich sie nach jedem Post gleich wieder lösche. Im Prinzip habe ich selbst auch gar keinen Zugang zu meinem Instagram-Profil. Wenn ich etwas posten will, muss meine Freundin daneben sitzen – denn die hat das Passwort.

»2018 hat mich komplett überrollt – durch den extremen Erwartungsgdruck, der plötzlich von allen Seiten zu spüren war.«

Jonas:
Was war der Grund, dass du letztes Jahr so unter Druck gestanden hast?

Louis:
In meinem Leben gab es bisher keine Zeit, in der ich mehr Druck empfunden habe als in 2018 – Druck war mein Wort des Jahres. Das liegt daran, dass das Jahr davor das abgefahrenste und krasseste Jahr war, das ich je erlebt habe, und zwar in jeglicher Hinsicht. Ich habe versucht, mir selbst immer wieder zu sagen: „Louis, 2017 wird sich nicht wiederholen. Pass auf dich und mach dich darauf gefasst!“ Aber ich war nicht gefasst. 2018 hat mich komplett überrollt – durch den extremen Erwartungsgdruck, der plötzlich von allen Seiten zu spüren war. Für das Publikum, die Journalisten und die Kritiker ist es ja eine selbstverständliche Gegebenheit, dass man immer gut ist. Wenn man ein paar gute Rollen gespielt hat, erwarten alle, dass man seinen Job auch weiterhin ordentlich macht. Diese Selbstverständlichkeit hat mich viel stärker tangiert, als sie mich hätte tangieren sollen.

»Einen Film wirklich genießen kann ich als Zuschauer nur, wenn ich nicht meine eigene Arbeit bewerten muss.«

Jonas:
Wie geht es dir damit, dich selbst auf der Leinwand zu sehen?

Louis:
Das ist im Prinzip ok – ich möchte ja auch unbedingt die Arbeit sehen, die ich gemacht habe. Aber einen Film wirklich genießen kann ich als Zuschauer nur, wenn ich nicht meine eigene Arbeit bewerten muss. Ich bin insgesamt sehr kritisch mit mir selbst und dementsprechend auch schnell unzufrieden. Manchmal würde ich mir wünschen, dass ich nicht ganz so hart zu mir selbst bin, weil mich das freier machen würde in dem, wie ich arbeite. Es schränkt einen enorm ein, wenn man zu große Angst vor dem Versagen hat oder sich zu viel Druck macht – du merkst schon, Druck ist ein großes Thema in meinem Leben.

Jonas:
In wenigen Monaten startet der Film „Deutschstunde“ in den Kinos, für den Du eine Nebenrolle übernommen hast. In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Siegfried Lenz geht es um einen expressionistischen Maler, dem 1943 von den Nazis ein Berufsverbot auferlegt wird. Dieses Repressionsmittel gab es in Deutschland nicht nur zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch in der ehemaligen DDR. Und in manchen Ländern wie China werden sogar heute noch Berufsverbote ausgesprochen. Wie würdest du selbst reagieren, wenn es dir nicht mehr erlaubt wäre, Schauspieler zu sein?

Louis:
Ich habe mir diese Frage noch nie gestellt. Dabei macht es total Sinn, sich damit zu befassen. Ich vermute, dass ich mich mit der Frage nie auseinandergesetzt habe, weil wir uns hier in Deutschland in einer sehr privilegierten Situation befinden, in der wir das als Beruf ausüben dürfen, was wir möchten. Wenn das verboten würde, stünde ich richtig krass auf dem Schlauch. Schauspielerei ist das, was ich von allen Tätigkeiten wohl am besten kann und was ich am liebsten mache. Es gab in meinem Leben auch nie einen Plan B – daher wüsste ich nicht, wohin mit mir.

»Wenn man selbst keine Wahrheiten mehr hat, kann man diese auch nicht spielen.«

Jonas:
Kann man als Schauspieler überhaupt „nichtschauspielern“?

Louis:
Klar, im Alltag kann man damit natürlich aufhören. Allerdings ist es so, dass jeder Schauspieler dazu veranlagt ist, auch permanent sein Spiel an den Tag zu legen, etwa in Form von Witzen, Gesten oder bestimmten Verhaltensweisen. Man trägt es einfach in sich, sich auszudrücken. Ich glaube, um einer Rolle die Wahrheit eines echten Menschen geben zu können, muss man aus Wahrheiten von sich selbst schöpfen. Und wenn man selbst keine Wahrheiten mehr hat, kann man diese auch nicht spielen. Auf der anderen Seite habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich Teile meiner Figuren immer mit in mein eigenes Leben nehme oder durch sie neue Seiten an mir entdecke. Oder anders gesagt: Durch die Rolle öffne ich eine Kiste, die danach ein Stück weit offenbleibt. Dadurch verändern meine Rollen auch mich persönlich immer ein wenig. Ich habe beispielsweise das Gefühl, dass ich durch die vielen sensiblen Figuren, die ich spielen durfte, die sensible Seite in mir selbst mehr embraced habe – ich finde leider kein Wort im Deutschen, mit dem ich das besser ausdrücken könnte. Was ich damit meine: Hätte ich nicht so viele sensible Figuren gespielt, wäre ich heute zwar auch ein sensibler Mensch, aber nicht in dem Maße, wie ich es letztendlich geworden bin.

»Bis zu diesem Film hatte ich nie das Bedürfnis, wütend zu sein, geschweige denn einen Zugang zu dieser Emotion zu finden.«

Jonas:
Welches deiner Projekte hat dir emotional bisher am meisten abverlangt?

Louis:
Ich würde sagen, das war der Film „Prélude“ von Sabrina Sarabi, der am 29. August ins Kino kommt. In dem Film spiele ich den jungen Klavierstudenten David, der an starken Selbstzweifeln leidet und sich einen enormen Erwartungsdruck ausgesetzt fühlt – eine Situation, die ich wie bereits erwähnt sehr gut nachvollziehen kann. Allerdings ist es bei David so, dass er die Kontrolle über sein Leben verliert und an dem ganzen Druck zu zerbrechen droht.
Dieser Film ist der erste, den ich zusammen mit einem Coach vorbereitet habe. Bei der Arbeit mit Schauspiel-Coach Frank Betzelt ging es insbesondere darum nachzuspüren, wie sich die Energie zwischen den einzelnen Figuren anfühlt, was diese Energien wollen und wie sie die Figuren beeinflussen. Das hat mir sehr geholfen, mich richtig tief in meine Rolle hineinzugraben. Ich habe dadurch beispielsweise einen viel größeren Zugang zum Gefühl der Wut entdeckt, hauptsächlich zur Wut auf sich selbst. Dieses Gefühl kannte ich von mir persönlich vorher noch nicht. Ich hatte bis dahin nie das Bedürfnis, wütend zu sein, geschweige denn einen Zugang zu dieser Emotion zu finden.
Insgesamt habe ich in dieser Zeit die Gefühlswelt von David sehr nah an mich herangelassen – und habe sie auch wortwörtlich mit nach Hause genommen. Das hat mich nicht nur während der Vorbereitung und des Drehs sehr belastet, sondern auch über fast ein ganzes Jahr darüber hinaus.

»Ich war irgendwie aggressiv und sehr schlecht drauf – und bin abends einfach zusammengebrochen.«

Jonas:
Wie genau hat sich das geäußert?

Louis:
Es gab beispielsweise einige Monate nach den Dreharbeiten einen Vorfall, der sich ereignet hat, als ich zusammen mit meiner Freundin bei meinen Eltern in Köln zu Besuch war. Nachdem ich an einem Abend ein paar Folgen von „Babylon Berlin“ mit Liv Lisa Fries geschaut hatte – Liv spielt in „Prélude“ meine Freundin –, habe ich am nächsten Morgen ein extremes Unwohlsein in mir gespürt. Ich war irgendwie aggressiv und sehr schlecht drauf, was sich über den Tag immer weiter gesteigert hat, bis ich schließlich abends einfach zusammengebrochen bin. Wahrscheinlich hat mir die Situation bei meinen Eltern zuhause und mit meiner Freundin an der Seite einen so sicheren Raum gegeben, dass ich diese ganze Thematik nochmal verarbeiten konnte. Dafür gab es vorher scheinbar keine richtige Gelegenheit, weil nach dem „Prélude“-Dreh permanent aufregende Dinge passiert sind. Ich habe den Eindruck, als hätte ich diese Thematik über all die Monate verschleppt und erst bei meinem Besuch in Köln alles rausgelassen. Aber richtig losgeworden bin ich das Ganze trotzdem nicht. Als ich einige Zeit später den Film zum ersten Mal gesehen habe, war ich danach zwei, drei Tage lang richtig traurig und wusste nicht, warum. Also habe ich Frank Betzelt angerufen, der mich damals gecoacht hatte. Er hat mir nur eine einzige Frage gestellt: „Was stört dich eigentlich wirklich? Die Tatsache, dass du so traurig bist, oder dass du nicht weißt, warum du traurig bist?“

Jonas:
Was für eine kluge Frage!

Louis:
Eine unglaublich kluge Frage! Meine Antwort war: „Weil ich nicht weiß, warum das gerade mit mir passiert.“ Und dann sagte Frank, dass das völlig in Ordnung sei und ich mich nicht dagegen wehren müsse. Der Grund dafür liege darin, dass ich die Figur so liebgewonnen habe und dadurch den Leidensweg dieses jungen Künstlers noch viel intensiver erlebt habe. Wir haben uns noch eine ganze Weile darüber unterhalten – und nach diesem Telefonat war es ok.

Jonas:
Von Kat Frankie, einer Singer-Songwriterin, die hier in Berlin lebt, stammt der interessante Satz: „People that write sad songs are a little happier.“ Ist das bei Schauspielern, die traurige Rollen spielen, ähnlich?

Louis:
Man sagt das ja auch andersherum – siehe Robin Williams, der in seinem Spiel urkomisch war, aber privat extrem traurig gewesen sein muss und sich schließlich das Leben genommen hat. Grundsätzlich glaube ich, dass Schauspieler, die sehr viele melancholische Rollen spielen, dafür auch eine gewisse Faszination brauchen. Und wenn man diese Faszination generell hat, hat man sie auch, wenn man nicht spielt.

Jonas:
Wenn du mal die Erwartungshaltung anderer Menschen kurz außer Acht lässt: Welcher eigene Anspruch an dich selbst kommt da zum Vorschein?

Louis:
Ich habe einen sehr hohen Anspruch an mich selbst und bin extrem ehrgeizig.

»Ich finde es seltsam, wenn es überhaupt keine Kritik gibt.«

Jonas:
Das heißt, du bist auch anfällig für Kritik?

Louis:
Ich versuche, das nicht zu sein. Es ist eh etwas komisch bei mir: Ich freue mich total über Kritik und finde es manchmal eher seltsam, wenn es überhaupt keine gibt – vor allem, wenn ich selbst ganz genau weiß, dass es etwas zu kritisieren gäbe. Gleichzeitig ist es für mich nicht so einfach, mit Kritik umzugehen, wenn sie tatsächlich geäußert wird – insbesondere, wenn sie von mir selbst kommt. Ich wünschte, das fiele mir leichter.

Jonas:
Bist du jemand, der sich Dinge von Kollegen abschaut?

Louis (lächelt):
Ab oder an? Nein, im Ernst: Ich glaube, man muss für sich selbst sicherstellen, dass man sich auf seine eigene Arbeit konzentrieren kann und sich nicht zu sehr von dem Hype verunsichern lässt, der – oft auch gerechtfertigt – um manche Kollegen gemacht wird. Aber ich finde es auch genauso richtig, als Schauspieler immer die Augen offen zu halten und von dem inspirieren zu lassen, was an anderer Stelle gemacht wird. Aber das sollten wir ohnehin alle auf dieser Welt, ganz egal ob Schauspieler oder nicht.

Jonas:
In „Deutschstunde“ gibt es diesen Satz: „Brauchbare Menschen müssen sich fügen.“ Man fühlt sich sofort an Victor Klemperers Buch „LTI“ („lingua tertii imperii“, die Red.) erinnert, das sich mit der Sprache des Nationalsozialismus befasst. Angenommen, man würde diesen Satz in die heutige Zeit verfrachten und ins Positive spiegeln – wie müssten sich Menschen deiner Meinung nach verhalten, um die Welt ein Stückchen besser zu machen?

Louis (überlegt einige Augenblicke):
Auf jeden Fall reflektiert – für meine Begriffe fängt bei der Reflexion alles an. Wer wirklich reflektiert, bemerkt relativ schnell, was man tun könnte und was wirklich gebraucht wird. Und wer wirklich reflektiert, spürt auch eine Verantwortung. Wenn mehr Menschen diese Verantwortung spüren würden – für unser gemeinsames Miteinander, für ein glückliches Zusammenleben und für unseren Planeten –, dann würden auch mehr Menschen handeln.