Interview — Ulrike Folkerts

Traumstadt

Seit 1989 kennen wir sie als Lena Odenthal, doch über die Schauspielerin hinter der Tatort-Kommissarin ist wenig bekannt. Wir sprechen mit Ulrike Folkerts über Reisen durch die Zone, Homophobie im TV-Geschäft und ihre WG mit Schauspieler Matthias Brandt.

31. August 2014 — MYP N° 15 »Meine Heimat« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Durch den Wedding zu laufen bedeutet, dem Leben so zu begegnen, wie es wirklich ist: manchmal etwas schroff, manchmal etwas laut, dafür aber meistens ehrlich und nicht selten überraschend. Die berühmte ungeschminkte Realität trifft man hier an jeder Ecke – ohne Glitzern zwar, aber mit einem hohen Maß an Authentizität. Und so sieht es hier im Gegensatz zu manch anderen Stadtteilen nun wirklich nicht nach Identitätskrise aus.

Der Wedding kommt, so heißt es: Bald soll hier alles anders werden – irgendwie szeniger, mittiger, cooler. Aber warum jemanden ändern wollen, der sich so mag, wie er ist?

Demjenigen, der den Wedding als Inbegriff von traurig-trister Betonkultur versteht, zeigt der stolze Stadtteil schnell die kalte Schulter – und grinst. Denn diese ach so graue Gegend hat noch ein ziemlich grünes Ass im Ärmel: Vom Plötzensee bis zur Afrikanischen Straße breitet sich auf 70 Hektar so viel Natur aus, dass der Erholungswert des Wedding plötzlich Kurzurlaubniveau erreichen kann. Der Volkspark Rehberge, der hier von 1926 bis 1929 errichtet wurde, steht mit seinen weitläufigen Wald- und Wiesenflächen für das Gegenteil von Urbanität – mitten in Berlin.

Und so fühlt es sich an diesem Augustnachmittag auch irgendwie wie Urlaub an, als wir den „Kastaniengarten“ an der Westseite des Plötzensees betreten und von Patrick Neideck mit einem herzlichen Hallo begrüßt werden. Der Geschäftsführer dieses einladenden Ausflugslokals führt uns an eine Biergarnitur unter einer alten Kastanie, wischt noch einmal über die eh schon saubere Tischplatte und stattet die Bänke mit geblümten Sitzpolstern aus.

Kaum haben wir es uns gemütlich gemacht, betritt auch schon Ulrike Folkerts den „Kastaniengarten“. Nachdem die Schauspielerin ihr Fahrrad angeschlossen hat, kommt sie uns mit neugierigem Blick entgegen: „Ist ja echt ganz nett hier!“, bemerkt sie kurz und lässt sich freundlich lächelnd an unserem Tisch nieder. Auch wir sind immer noch ein wenig überrascht, dass wir mitten in der Hauptstadt einen so unaufgeregten, zutiefst bodenständigen Ort gefunden haben – einen Ort, wie es ihn im Rest der Republik zu Hunderten und Tausenden gibt, aber dessen Alltäglichkeit in Berlin mehr und mehr dem Dogma der Uniqueness weichen muss.

Jonas:
Du wohnst schon dein halbes Leben lang in Berlin. Kannst du dich erinnern, wann du zum allerersten Mal hierher gekommen bist?

Ulrike:
Ja, da war ich 14 Jahre alt. Gemeinsam mit einer Schulfreundin und ihren Eltern bin ich für einige Tage nach West-Berlin gereist, unter anderem weil wir uns ein Theaterstück anschauen wollten. Ich fand die Stadt schon damals einfach toll, mich zog es immer hierher. Daher habe ich nach meinem Abi im Jahr 1980 auch direkt versucht, nach Berlin zu kommen: Ich wollte hier Schauspiel studieren, aber leider habe ich die Aufnahmeprüfung total vermasselt – ich bin sofort durchgeflogen.
Aus Berlin wurde also erst einmal nichts – und so kam ich über einige Umwege nach Hannover, wo ich letztendlich meinen Traumberuf erlernen konnte: An der Hochschule für Musik und Theater hat es im zweiten Anlauf geklappt, ich wurde Schauspielerin!

Jonas:
Du sprichst so schön von „Traumberuf“ – dabei ist es vielen Menschen immer noch nicht klar, dass „Schauspieler“ eine feste Berufsbezeichnung ist. Nach wie vor haben vor allem Jungschauspieler damit zu kämpfen, dass ihr Beruf in Teilen der Gesellschaft, des Freundeskreises oder der Familie nicht als eine ernsthafte berufliche Tätigkeit verstanden wird. Hast du in dieser Hinsicht ähnliche Erfahrungen gemacht? In Kassel, wo du aufgewachsen bist, war das in den 1960er und 70er Jahren sicher auch nicht einfacher.

Ulrike:
Ja und nein – meine Mutter war der Ansicht, dass ich machen soll, was mir gefällt. Mein Vater allerdings fand das total scheiße. Da hieß es nur: „Geh’ was Ordentliches arbeiten und beschäftige dich nicht mit so einem Blödsinn!“ Aber ich wollte unbedingt Schauspielerin werden und wurde von meiner Mutter in meinen Plänen unterstützt, weshalb ich mich umso mehr angestrengt habe. Trotzdem stand ich als Jugendliche ziemlich alleine da: Ich hatte keinen Schauspielunterricht und es gab niemanden, der mir zeigen konnte, wie man sich auf eine Rolle vorbereitet.
Das hat sich erst mit einer Theater-AG in der Oberstufe des Gymnasiums geändert. Wir hatten damals eine richtig tolle Lehrerin, die mit uns Stücke gelesen oder sie uns zur Auswahl gegeben hat. Diese Lehrerin hat mich noch viel stärker mit dem Virus der Schauspielerei infiziert – und so war die Theater-AG meine erste echte Berührung mit dieser Welt. In der Oberstufe gab es für mich ja sonst nur den Mathe- und Bio-LK.

Jonas:
Mit Mathe und Bio hättest du es ja auch zu etwas bringen können.

Ulrike:
Weißt du, was ich herausgefunden habe? Diese Fächer sind deshalb gut, weil man da einfach den Stoff auswendig lernen und hinschreiben kann. Wenn man das mal drauf hat, ist das gar nicht so schlecht – immerhin hilft es einem später sehr beim Drehbuchlernen.
Etwas anderes hätte ich damals aber auch nicht belegen können: Englisch, Geschichte, Deutsch – in keinem der Fächer war ich wirklich gut. Also habe ich mich auf die Naturwissenschaften gestürzt und dazu noch Sport und Kunst gewählt.

Jonas:
Die Frage aller Fragen nach dem Abi lautet ja: Was fange ich mit meinem Leben an?

Ulrike:
Für mich stand fest: Ich wollte so schnell wie möglich aus Kassel weg. Doch leider hat das mit der Schauspielausbildung in Berlin nicht funktioniert. Und in Hannover, wo ich mich parallel beworben hatte, wurde ich im ersten Anlauf ebenfalls abgelehnt. Wenigstens war man dort so nett und sagte mir, ich solle dran bleiben und es wieder versuchen. Also habe ich zunächst ein wenig gejobbt und bin anschließend drei Monate lang durch die USA gereist.
Als ich wiederkam, sagte ich mir: Das mit der Schauspielerei muss doch irgendwie klappen! Und so habe ich mich in Erlangen für Theaterwissenschaft eingeschrieben: An der dortigen Hochschule wurde kostenloser Schauspielunterricht angeboten, das fand ich super – denn dadurch konnte ich weiter üben und mich vorbereiten.

Ich wollte wissen, was auf der Welt so geht, und war unendlich neugierig – auch auf die Schauspielerei. All das ging für mich in Kassel einfach nicht.

Jonas:
Was war denn so schlimm an Kassel?

Ulrike schweigt.

Jonas:
Ich möchte dir jetzt kein negatives Statement über Kassel abringen…

Ulrike:
Nein, darum geht es auch gar nicht – Kassel hat ja schon irgendwo seine Reize. Ich fand es nur für mich persönlich dringend notwendig, endlich von zuhause wegzugehen. Mir war es total wichtig, mein eigenes Leben zu suchen, zu finden und auch zu leben. Nach der Scheidung meiner Eltern bin ich mit meiner Mutter in eine winzige Wohnung gezogen, dort hatte ich ein absolutes Mini-Zimmer. Ich musste da einfach raus, ich wollte nicht eingeengt sein, sondern etwas anderes sehen und mein eigenes Leben aufbauen. Ich wollte wissen, was auf der Welt so geht, und war unendlich neugierig – auch auf die Schauspielerei. All das ging für mich in Kassel einfach nicht.

Jonas:
Wie hast du dich damals finanziell über Wasser halten können?

Ulrike:
Ich habe immer gejobbt – abends nach dem Studientag, am Wochenende und in den Semesterferien. Manchmal hat mir auch meine Mutter etwas gegeben, aber ansonsten habe ich immer gearbeitet, hauptsächlich in netten Kneipen.

Jonas:
Kneipen, Bars oder Cafés sind auch dankbare Orte, wenn es darum geht, sich auf eine Rolle vorzubereiten: Man kann dort stundenlang Menschen beobachten und ihr Verhalten studieren.

Ulrike:
Stimmt, das funktioniert an solchen Orten bestens. Oder U-Bahn fahren – das ist auch super, um sich ein genaues Bild von Menschen zu machen. Das klappt zwar in Kassel nicht, aber dafür hier in Berlin. Da gibt es in der Öffentlichkeit auch die interessanteren, außergewöhnlicheren Menschentypen.

Jonas:
Nur leider hat es mit Berlin und dir im ersten Anlauf noch nicht funktioniert, die Stadt hat dich damals nicht behalten wollten.

Ulrike:
Nein, ich bin ziemlich brutal aus meinem Traum rausgeschleudert worden.

Jonas:
Vielleicht hättest du dich im damaligen West-Berlin nach einer gewissen Zeit auch eingeengt gefühlt – so viel Bewegungsfreiheit gab es ja nicht. Man kann sich heute sowieso kaum mehr vorstellen, dass in dieser Stadt noch vor 25 Jahren zwei Staaten aneinander grenzten, so oft wie man jeden Tag unbewusst den ehemaligen Mauerstreifen überquert. Wie hast du damals die geteilte Stadt erlebt?

Ulrike:
Es waren ja nicht nur zwei Staaten, sondern zwei Systeme! Durch die Zone nach West-Berlin zu fahren, war nie wirklich cool. Alles wirkte irgendwie beängstigend – und die Grenzposten waren unberechenbar. Oft stand man stundenlang im Stau und wusste letztendlich nie, ob man komplett gefilzt oder durchgewunken wurde. Das war absolute Willkür, man hatte kein gutes Gefühl zu diesen Menschen.
Ich erinnere mich, dass ich zweimal am Grenzübergang Friedrichstraße nach Ost-Berlin und damit in die DDR eingereist bin, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es da drüben so aussieht. Das kostete jedes Mal 25 D-Mark – der Mindestbetrag, den man gegen Ostmark eintauschen musste. Irgendwie war es dort sehr beklemmend. Und wenn ich mir überlege, welche unvorstellbaren Dinge nach der Wende so aufgedeckt wurden, bin ich froh, dass ich im Westen aufgewachsen bin. Dieses Wissen um das geschehene Unrecht hat mich sehr gefärbt.
Daher ist es heute auch so schön zu sehen, dass Berlin wirklich groß geworden ist – und dass es so wild und weitläufig ist. Man kann heute das ganze Umland bereisen und beradeln, nach nur wenigen Minuten ist man raus aus der Stadt und mitten im Grünen.

Jonas:
Stimmt, weitläufig war West-Berlin nun wirklich nicht.

Ulrike:
Der Reiz von West-Berlin war auch vielmehr sein Inseldasein. Die Leute hatten damals schon ihre festen Kieze und kannten sich total gut aus. Das hatte fast etwas Kleinstädtisches. Keiner konnte von dieser Insel weg, also musste man irgendwie miteinander umgehen. Dabei war Berlin immer schon eine Künstlerstadt und auf eine gewisse Weise avantgardistischer. Hierher flüchteten die Jungs aus dem Rest der Republik, wenn sie nicht zum Militär wollten. Hierher kamen junge Familien, die auf der Suche nach preiswertem Wohnraum waren. Und hierher zog es einfach wahnsinnig viele Kreative, die anders gedacht haben, künstlerisch interessiert waren und keine Angst vor dieser Mauer hatten.
Ich finde es toll, dass das in Berlin erhalten geblieben ist – genau wie das Nachtleben. Nach meiner vermasselten Prüfung Mitte der 80er bin ich die ganze Nacht um die Häuser gezogen. Eine Sperrstunde gab es damals auch schon nicht. Ein Wunder, dass mir nichts passiert ist.

Überhaupt gibt es so viele Theaterstücke, die zwar super Männerrollen beinhalten, aber in denen Frauen nur kleines Beiwerk sind.

Jonas:
Glücklicherweise hast du es doch noch an eine Schauspielschule geschafft und deine Ausbildung 1987 in Hannover erfolgreich beendet. Konntest du dich damit arrangieren, dass du danach erst einmal ein Engagement am Theater in Oldenburg erhalten hast – und nicht in Berlin?

Ulrike:
Ich musste ja irgendwie Geld verdienen und das Engagement bedeutete ein regelmäßiges Einkommen. Allerdings habe ich mich am Oldenburgischen Staatstheater nicht wirklich wohl gefühlt, ich hatte einfach keinen guten Start.
Damals wohnte ich mit dem Schauspieler Matthias Brandt in einer WG. Matthias war in meinem Semester und wurde mit mir zusammen in Oldenburg engagiert. Das war echt cool! Doch während Matthias lauter große Rollen spielte, bekam ich nur Kleinkram. Und als ich endlich eine etwas größere Rolle übernehmen durfte, bin ich nicht mit der Regisseurin klargekommen – und sie nicht mit mir.
Es gab von Anfang an Schwierigkeiten, daher hatte ich auch mehr auf irgendwelchen Probebühnen zu tun, wo experimentellere Sachen aufgeführt wurden – und keine Stücke von Shakespeare oder Schiller, in denen eh die Männerrollen die interessanteren sind. Überhaupt gibt es so viele Theaterstücke, die zwar super Männerrollen beinhalten, aber in denen Frauen nur kleines Beiwerk sind.

Jonas:
So etwas ist für dich ja kein Hindernis: Bei den Salzburger Festspielen vor knapp zehn Jahren hast du als erste Frau überhaupt den Tod im Stück „Jedermann“ gespielt.

Ulrike:
Das war wirklich eine außergewöhnliche Sache. 85 Jahre lang hat es keiner gewagt, diese Rolle mit einer Frau zu besetzen – und danach auch keiner mehr. Daher war diese Rolle für mich ein absoluter Glücksfall.
Insgesamt scheint so etwas aber immer noch ein Tabu zu sein: Es gibt nur wenige Frauen, die für große Männerrollen besetzt werden. Ich glaube, Angela Winkler hat mal den Hamlet gespielt. Und auch die Figur des Mephisto wurde ab und zu mit einer Frau besetzt. Aber vielmehr ist es nicht.

Jonas:
Dein Fokus hat sich recht bald von Theater- auf Film- und Fernsehrollen verschoben. Wie kam es dazu?

Ulrike:
Ich habe zu der Zeit in Oldenburg gemerkt, dass ich nicht so der Mensch fürs Theater bin, denn Theater macht einsam: Tagsüber probt man und abends und am Wochenende hat man Vorstellung. Bei solchen Arbeitszeiten ist für soziale Kontakte außerhalb des Theaters einfach kein Platz mehr im Terminkalender. Und so hängt man immer nur im Klüngel des Theaters rum.
Dass mir plötzlich die Möglichkeit genommen wurde, neue Leute kennenzulernen, hat mich ganz verrückt gemacht. Außerdem war es nie so mein Ding, nach den Vorstellungen in der Theaterkantine rumzulungern. Nach so einem Stück ist man ja immer total aufgedreht und weiß nicht wohin mit sich – da will man sich doch nicht in der Kantine betrinken. Ich fand das immer ganz dramatisch.
Nach zwei Jahren haben das Staatstheater und ich uns darauf geeinigt, dass wir den Vertrag nicht verlängern. Für beide Seiten hätte es nicht wirklich Sinn gemacht. Meine nächste Station wäre eigentlich das Schlosstheater in Moers gewesen, wo ich quasi schon engagiert war – aber dann kam das Casting für den Tatort.

Jonas:
Bereits ein Jahr vorher hattest du eine Rolle im Kinofilm „Das Mädchen mit den Streichhölzern“ übernommen. Entsprach das Spielen vor der Kamera statt auf der Bühne eher dem, was du machen wolltest?

Ulrike:
Zu dem Zeitpunkt ja. Für mich war es eine superinteressante Erfahrung, vor der Kamera zu stehen. Daher hat sich auch mein Fokus ganz klar dahin verschoben. Inzwischen hat sich mein Verhältnis zum Theater aber wieder verändert, ich mache das sehr gerne.
Trotzdem bin ich froh, nicht fest dort geblieben zu sein, sonst wäre ich wohl auch in diese ganze Theater-Maschinerie geraten: Dort muss man Rampensau sein und eine „Hier komme ich“-Mentalität an den Tag legen, sonst überlebt man nicht. Aber ich, Ulrike, bin dafür nicht geeignet. Außerdem ziehe ich mich auch nicht aus oder mache bestimmte andere Dinge, nur um irgendwelche Klischees zu bedienen. Daher war der Tatort für mich ein riesengroßes Geschenk. Ich hatte damals einfach Glück: Ich bin zum Casting gegangen und wurde genommen.

Jonas:
Der erste Tatort mit dir als Hauptkommissarin Lena Odenthal wurde am 29. Oktober 1989 ausgestrahlt – knapp zwei Wochen vor dem Mauerfall. Hast du zu dieser Zeit noch in Oldenburg gewohnt?

Ulrike:
Nee, ich habe mir im Mai 1989 endlich meinen Traum erfüllt und bin nach Berlin gezogen – als Freiberuflerin war ich ja nicht mehr ortsgebunden und konnte wohnen, wo ich wollte. Ich muss aber zugeben, dass ich es damals ein wenig zu krass fand, direkt in die Stadt zu ziehen. Daher ging es zuerst einmal in das Örtchen Kladow im Südwesten von Berlin, wo ich ein kleines Gartenhaus bezogen habe. Irgendwie war es ein total cooles Gefühl, in einer Großstadt zu leben und trotzdem mitten im ländlichen Idyll zu sein. Es gab sehr viel Wald um mich herum und den Wannsee und Groß Glienicker See hatte ich quasi direkt vor meiner Nase. Durch beide Seen verlief damals noch die innerdeutsche Grenze, die Bojen im Wasser sagten dir als Schwimmer: bis hierhin und nicht weiter.
So bin ich 1989 also in Berlin gestartet: Ich lebte in einem Häuschen mit Garten, das gut zu finanzieren war, hatte einen Scirocco und eine Freundin, spielte im Tatort und arbeitete nebenbei in einer Bar – denn neben dem Tatort war schauspielerisch noch nicht wirklich viel los.

Jonas:
Klingt nach einem guten Leben.

Ulrike:
Total.

Das Problem meiner beiden Vorgängerinnen bestand darin, dass sie von den Zuschauern nicht ernst genommen wurden – die trauten Frauen damals so einen Männerjob einfach nicht zu.

Jonas:
War der Tatort damals schon so ein Gassenhauer wie heute?

Ulrike:
Der Tatort war in den 80ern schon sehr populär, das Format gibt es mittlerweile seit 44 Jahren. Mein Sender SWR war dabei der erste, der 1978 mit Nicole Heesters in der Rolle der Kommissarin Bruchmüller einen weiblichen Ermittler in das Format eingeführt hat. Auf sie folgte 1981 Karin Anselm als Kommissarin Wiegand. Und danach kam ich.
Das Problem meiner beiden Vorgängerinnen bestand darin, dass sie von den Zuschauern nicht ernst genommen wurden – die trauten Frauen damals so einen Männerjob einfach nicht zu. Als ich zum Tatort kam, hieß es im Sender: Die kennt keiner, die ist ein wenig ruppig, mit der probieren wir es jetzt. Ich war gerade 28 Jahre alt – und das war mein Vorteil: Ich konnte eine junge ambitionierte Kommissarin darstellen, die unbedingt ihre ersten Erfolge verbuchen will.

Jonas:
Glaubst du, dass die Einführung der Hauptkommissarin Lena Odenthal in die Tatort-Reihe einen ähnlichen Aha-Effekt bei den Zuschauern ausgelöst hat wie acht Jahre vorher die Vorstellung von Hauptkommissar Horst Schimanski? Damals kam es einer Revolution gleich, dass ein Beamter der Kriminalpolizei im TV so rüpelhaft und frech agierte. So etwas gab es vorher einfach nicht.

Ulrike:
Mein erster Tatort hat ebenfalls eingeschlagen wie eine Bombe, ich wurde als „weiblicher Schimanski“ bezeichnet. Man kann das jetzt als ein Kompliment verstehen oder nicht, aber für mich war diese Aufmerksamkeit super. Trotzdem hatte auch ich in der Anfangszeit damit zu kämpfen, dass meine Rolle nicht so ernst genommen wurde. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an eine Diskussion mit dem Sender über meine kurzen Haare. Es hieß, ich würde in meiner Jeans und meiner Lederjacke von hinten aussehen wie ein junger Mann. Also wurde ich gebeten, mir die Haare wachsen zu lassen. Für mich stand aber fest: Das mache ich nicht.
Meiner Meinung nach passte gerade dieser Frauentyp ziemlich gut zu der Figur Lena Odenthal. So etwas war bis dato nicht geläufig im deutschen Fernsehen. So war dieser herbe, sportliche Charakter einfach ein Alleinstellungsmerkmal und funktionierte richtig gut.

Jonas:
Das Tatort-Format hat in den knapp fünf Jahrzehnten einen unglaublichen Entwicklungsprozess durchlaufen, die Reihe ist mittlerweile Kult. Egal ob jung oder alt, sonntagsabends schaut man Tatort – zuhause, bei Freunden oder in der Kneipe um die Ecke.

Ulrike:
Das war aber nicht immer so. Das Format hat auch schon eine richtige Flaute durchgemacht, in der man sich bei den Sendern fragte: Wie kommen wir nur an die jungen Zielgruppen heran? Damals sagte uns die Quote, dass erst Leute ab 49 Jahren regelmäßig einschalteten. Aber in den letzten Jahren hat sich einiges sehr positiv verändert, auch durch Entwicklungen wie etwa das Public Viewing.

Jonas:
Nicht nur das. Man hat auch die Themen weiter gespreizt und besondere Regisseure eingesetzt. So gab es alleine in den letzten Jahren eine Reihe außergewöhnlicher Episoden. Man denke nur an den Schweizer Tatort „Schmutziger Donnerstag“ von Starregisseur Dany Levy oder an „Borowski und der coole Hund“ nach einer Vorlage von Henning Mankell mit sensationellen Landschaftsbildern aus Schweden.

Ulrike:
Das ist eine allgemein festzustellende Entwicklung: Alle Tatorte versuchen, sich mehr und mehr von den anderen abzugrenzen und eigenständiger zu werden. Da gibt es beispielsweise den Frankfurter Ermittler, der von Ulrich Tukur gespielt wird und als Kunstfigur immer weiter der Realität entrückt. Oder das Münsteraner Duo mit Jan-Josef Liefers und Axel Prahl, das etwas comedyartiger unterwegs ist. Und dann hat man den Hamburger Kommissar, dem Til Schweiger eine coole Machohaftigkeit verleiht. Meiner Meinung nach hat das alles seinen Platz: Durch diese Vielfalt lassen sich einfach mehr gesellschaftsrelevante Themen setzen und behandeln.

Jonas:
Wobei man anerkennen muss, dass der Tatort schon immer Themen behandelt hat, die eine gewisse gesellschaftliche Relevanz haben. So hat man zum Beispiel 1990 kurz nach der Wiedervereinigung mit der Episode „Unter Brüdern“ die deutsch-deutsche Freundschaft thematisiert. Und 1998 haben Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär einen bedrückenden Köln-Tatort zum Thema Kindesmissbrauch gemacht. Aber vor allem in den letzten Jahren hat man das Gefühl, dass die gesellschaftsrelevante Komponente immer wichtiger wird.

Ulrike:
Der Tatort durchlebt gerade einen Wandel, weil es so viele neue Ermittlerteams gibt, die alle versuchen, sich zu positionieren und zu spezialisieren. Jeder will eine besondere Marke sein. Ich weiß aber von meinem Sender SWR, dass nicht jeder Tatort gesellschaftlich potent sein muss. Trotzdem greifen wir immer wieder gesellschaftskritische oder politische Themen auf, wie etwa Frauenhandel, AIDS oder Ehrenmord.

Jonas:
Ist es wichtig, dass der Tatort das tut?

Ulrike:
Ja! Ich finde schon, dass dieses Format zumindest ab und zu der Gesellschaft den Spiegel vorhalten muss, um sie für gewisse Themen zu sensibilisieren. Bei Kindesmissbrauch kann man im Film beispielsweise die Frage behandeln: Warum reden Leute erst so spät darüber, wenn sie doch viel früher etwas mitbekommen haben?
So kann man das Medium eventuell den Zuschauern helfen, bestimmte Signale früher zu erkennen, und sie darauf hinweisen, dass es offizielle Stellen gibt, an die man sich in diesen Fällen wenden kann. Dabei will ich aber auf keinen Fall sagen, dass wir mit dem Tatort die Retter der Nation sind – um Gottes Willen.

Jonas:
Lena Odenthal wurde nach neun Folgen ein fester Ermittlungspartner an die Seite gestellt: Kriminalhauptkommissar Mario Kopper, gespielt von Andreas Hoppe. Wie hast du diese dramaturgische Veränderung schauspielerisch und persönlich empfunden?

Ulrike:
Ich kenne Andreas schon seit der Schauspielschule, wir verstehen uns irre gut. Denn Schauspielschule heißt ja: einmal Hose runter und wieder hoch. Als wir uns Mitte der Neunziger zufällig auf einem Filmfest getroffen haben, habe ich ihm erzählt, dass wir gerade für einen Assistenten casteten – und Andi hat sich beworben. Dass er es dann tatsächlich geworden ist, war für mich ein echter Glücksfall. Andreas und ich profitieren total davon, dass wir uns so gut kennen. Wir waren Nachbarn, waren in dieselben Frauen verliebt und sind nach wir vor sehr gute Freunde.
Ich finde es nur etwas schade, dass sich die Autoren bei der Entwicklung der Drehbücher zu sehr auf den Plott, die Mörder und die Opfer konzentrieren. Die Weiterentwicklung der Figuren Odenthal und Kopper bleibt dabei leider etwas auf der Strecke. Ich finde aber, dass es für die Zuschauer total interessant sein kann zu wissen, was so ein Ermittler privat tut: Macht er früh Feierabend und trinkt dann zuhause gemütlich ein Glas Rotwein? Oder ist er wie Lena Odenthal jemand, der nicht genug bekommt von seinem Job, weil es in seinem Leben sonst nichts gibt?
Lena lebt mit ihrem Kollegen zusammen, außer einer Katze hat sie niemanden. Wäre es nicht super zu erfahren, warum sie ein so trauriges Leben führt und wie es zu dieser Tragik gekommen ist?

Jonas:
Hattest du im Laufe der Jahre das Gefühl, deiner Rolle zu nahe zu kommen? Schließlich ist bei einem so populären Format wie dem Tatort die Gefahr recht groß, dass dich die Menschen auf der Straße eher als Lena Odenthal wahrnehmen und nicht als Ulrike Folkerts.

Ulrike:
Das sind zwei Paar Schuhe: Natürlich stehe ich dieser Figur, die ich seit 25 Jahren spiele, sehr nahe. Aber ich habe diese Rolle schauspielerisch immer als Spielwiese empfunden, was übrigens auch damit zusammenhängt, dass ich im Laufe der Jahre im Tatort mit den unterschiedlichsten Regisseuren zusammengearbeitet habe. So konnte ich in dieser Figur einfach sehr viel ausprobieren: Mal war Lena diplomatischer, mal hat sie mehr geschrien. Mal war ihr Auftreten burschikoser, mal weiblicher.
Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland ein klassisches Schubladendenken. Und wenn man in dieser Tatort-Nummer steckt, ist es Fluch und Segen zugleich. Man hat zwar mit zwei produzierten Episoden pro Jahr einen festen Job, liegt aber schauspielerisch ziemlich brach, wenn daneben sonst nichts passiert. In diesem Fall ist die Gefahr groß, dass man vom Zuschauer einzig und allein mit dieser Figur in Verbindung gebracht wird.
Einer solchen Gefahr kann man nur entgehen, wenn man sich aktiv nach anderen Rollen umschaut – auch wenn es keine Hauptrollen sind. Und bei denjenigen, die für die Besetzung von Rollen verantwortlich sind, muss man dafür werben, dass sie ebenfalls ihre Phantasie freimachen und einem eine Chance geben. Nur wenn das gelingt, kann man sich schauspielerisch weiterentwickeln und dem Publikum andere Seiten von sich zeigen.
Ich spreche aus Erfahrung, denn ich hatte in den letzten Jahren schöne und sehr unterschiedliche Rollen in diversen TV-Produktionen, Kinofilmen und Theaterstücken. Letztes Jahr habe ich beispielsweise in dem ZDF-Fernsehfilm „Ein Sommer in Amsterdam“ mitgespielt. Und vor kurzem habe ich die Rolle der Gräfin im historischen Drama „Das goldene Ufer“ übernommen – ebenfalls eine ZDF-Produktion, die wir drehen und die Ende des Jahres ausgestrahlt wird. Für mich ist diese schauspielerische Abwechslung ideal, denn dadurch kann ich kontinuierlich an mir weiterarbeiten. Jeder Opernsänger, jeder Musiker muss üben, üben, üben. Das ist bei Schauspielern dasselbe. Aber vor allem bei Fernsehschauspielern habe ich manchmal den Eindruck, dass sie das gerne anders sehen.

Jonas:
Im letzten Jahr wurdest du für eine Rolle im Kinofilm „Spieltrieb“ besetzt. War dies für dich eine dankbare schauspielerische Abwechslung?

Ulrike:
Ja, total! Ich habe die Mutter der Hauptfigur Ada gespielt. Zwar war das nur eine kleine Rolle, aber ich habe sie sehr gemocht – wie auch das gleichnamige Buch von Juli Zeh, das sehr anspruchsvoll ist und die Grundlage für den Film lieferte.

Jonas:
Das Buch stellt permanent die Frage nach dem Sinn des Lebens: Existenzialismus von der ersten bis zur letzten Seite. In dem Zusammenhang fällt mir ein interessanter Satz von dir ein, den ich auf deiner offiziellen Facebook-Seite gelesen habe: „Ein Sinn im Leben ist in meinen Augen, seine Stimme zu erheben.“ Wann genau hat sich bei dir dieses große Bedürfnis herausgestellt, sich sozial zu engagieren und öfter mal symbolisch auf den Tisch zu hauen?

Ulrike überlegt für einen Moment.

Ulrike:
Ich glaube, dieses Bedürfnis ist schon während meiner Schulzeit entstanden. Ich bin immer gerne zur Schule gegangen, weil wir einfach gute Lehrer hatten. Es gab besondere Schultage, an denen wir uns ausschließlich mit einem bestimmten Thema wie etwa der Dritten Welt beschäftigt haben. Wir wurden dazu aufgerufen, uns eine eigene Meinung zu bilden und diese in Form eines Artikels in der Schülerzeitung zu veröffentlichen. Obwohl das vielleicht für niemanden etwas Besonderes war, hat mich das Ganze total angefixt. Ich glaube auch, dass ich wahrscheinlich so etwas wie Entwicklungshilfe studiert und irgendwo in einem Land der Dritten Welt gelebt hätte, wenn ich nicht Schauspielerin geworden wäre. Für mich hätte das absolut Sinn gemacht, denn ich dachte, da würde ich gebraucht. Ich hatte sogar schon einen Studienplatz – aber dann ging’s ja nach Hannover an die Schauspielschule.
Ganz allgemein glaube ich, dass dieses Gefühl für Gerechtigkeit schon sehr früh in mir angelegt wurde. Ich halte es einfach für wichtig, sich dafür zu interessieren, wie die Welt funktioniert, woher die Probleme kommen und wie man dafür Lösungen findet – und zwar auf kreativem Wege und ohne sich die Köpfe einzuschlagen. Ich habe mich immer dafür engagiert, dieses Interesse auch bei anderen zu wecken.
Mit meiner Freundin, die in dieser Hinsicht genauso tickt wie ich, habe ich daher vor einiger Zeit den Verein „kulturvoll-eV.de“ gegründet. Dort vergeben wir an sozial benachteiligte Kinder Ferienstipendien und vermitteln ihnen in besonderen Kreativworkshops erste Erfahrungen in den Bereichen Kunst und Kultur. Ich glaube, dass jeder im Laufe seines Lebens mindestens einem Menschen begegnet, der einen motiviert und bei ihm einen bestimmten Punkt berührt, der ihm sagt: Hier meint jemand wirklich mich – und glaubt an mich.

Jonas:
War in deinem Leben dieser Mensch deine Lehrerin aus der Theater -AG?

Ulrike:
Ja, diese Person hat sehr viel in mir ausgelöst.

Jonas:
Glaubst du, dass du selbst ebenfalls für andere Menschen ein solcher Motivator bist?

Ulrike (lacht):
Mir hat mal jemand gesagt, dass er seinen Job geschmissen hat und Polizist geworden ist, weil wir ihn durch unsere „Arbeit“ im Tatort dazu ermutigt haben. Aber im Ernst: Nehmen wir zum Beispiel diese ganze Geschichte bezüglich Homosexualität. Ich scheine für viele wohl Vorbild zu sein, wenn es darum geht, mit dem Thema offen umzugehen, den Mund aufzumachen und sich nicht zu verstecken. Zwar habe auch ich eine ganze Zeit lang versucht, das nicht zu thematisieren, weil es – das muss ich ganz ehrlich sagen – in diesem Beruf einfach nicht zuträglich ist. Aber irgendwann war es halt raus und ich musste mich dazu verhalten. Und das habe ich getan, indem ich dazu stehe. Ich habe gesagt: So ist es eben, na und? Jetzt reden wir darüber.

Jonas:
Du bist ganz gerne Pionierin, oder?

Ulrike:
Aus Versehen! Die Öffentlichkeit macht mich ja zur Pionieren, ich rutsche da immer irgendwie rein: Plötzlich bin ich Tatortkommissarin und halte mich als erste Frau in dieser Männerdomäne, plötzlich werde ich als erste Frau für die Rolle des Tods im „Jedermann“ besetzt und so weiter.

Jonas:
Du kannst ja auch einfach nein sagen.

Ulrike (lacht):
Hahaaa, nein! Dafür ist es doch viel zu reizvoll. Ich finde das alles super – auch wenn es wirklich nur aus Versehen passiert ist. Ich forciere die Dinge ja nicht, sondern bin ein Mensch, der alles auf sich zukommen lässt. Das ist nicht nur bei meinen Rollen so, sondern auch bei diesen ganzen sozialen Themen: Als Tatortkommissarin, die für das Gute kämpft und sich gegen Ungerechtigkeit stellt, ist man für die Zuschauer immer eine Art Projektionsfläche – für Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und die Gabe, zuhören zu können. Daher kommen beispielsweise soziale Projekte und Organisationen schon ganz automatisch auf mich zu, wenn sie eine Schirmfrau oder ein Sprachrohr suchen.

Es wird sich nichts ändern, wenn man immer wieder gängige Klischees bedient und beispielsweise einen Schwulen eine Tucke spielen lässt oder einen Schauspieler mit ausländischen Wurzeln für die Rolle des Dönerverkäufers oder Gemüsehändlers besetzt.

Jonas:
Gesellschaftlich gibt es ja auch noch einiges zu tun, vor allem was den Umgang mit Homosexualität angeht. Nach wie vor ist es in Deutschland so, dass ein heterosexueller Schauspieler dafür gefeiert wird, wenn es ihm gelingt, einen Homosexuellen zu spielen. Spielt dagegen ein offen homosexueller Schauspieler einen Heterosexuellen, nimmt ihm das Publikum die Rolle nicht ab. Glaubst du, dass man die Zuschauer langfristig zu mehr Toleranz und Akzeptanz erziehen kann?

Ulrike:
Ich kenne das Problem, aber ich weiß die Antwort nicht. Auch mir wurde mal von einem Regisseur gesagt, dass ich mir keine Hoffnungen auf eine Rolle machen brauche, da man mich keine heterosexuelle Frau spielen lässt, wenn jeder weiß, dass ich mit einer Frau zusammenlebe. Was soll man da tun? Den Beruf an den Nagel hängen? Eher nicht. Man muss sich einfach Leute suchen, bei denen man tun kann, was man möchte, und dafür keine Rechenschaft ablegen muss.
Aber nicht nur beim Thema Homosexualität gibt es noch viel zu tun. Das deutsche Fernsehen hat noch etliche andere Großbaustellen: So findet beispielsweise der Ausländeranteil, den wir in unserem Alltag erleben, im Fernsehen einfach nicht statt. In unserer Gesellschaft gibt es unzählige Menschen, in deren Familie es zwar einen Migrationshintergrund gibt, die aber hier groß geworden sind, unsere Sprache sprechen und genauso ticken wie wir. Da werden etwa türkischstämmige Schauspieler immer noch ausschließlich für flache Klischeerollen besetzt, obwohl sie in ihrem Leben vielleicht ein einziges Mal nach Anatolien gereist sind, weil von dort ihre Großeltern kommen.
Auch hier muss das Fernsehen endlich anfangen, moderner zu werden und den Spiegel der Gesellschaft an sich zu reißen. Es wird sich nichts ändern, wenn man immer wieder gängige Klischees bedient und beispielsweise einen Schwulen eine Tucke spielen lässt oder einen Schauspieler mit ausländischen Wurzeln für die Rolle des Dönerverkäufers oder Gemüsehändlers besetzt.

Gespannt sitzen wir um Ulrike herum und lauschen ihrer warmen, kräftigen Stimme. Fast wie eine Clique von Freunden wirken wir, die sich auf ein paar Getränke trifft, um sich auf den neuesten Stand zu bringen – nur dass wir ganz und gar Zuhörer sind und die Schauspielerin aus ihrem bewegten Leben erzählt. Denn darin hat sie gegenüber uns einen kleinen Vorsprung.

Wir unterbrechen unser Gespräch für einen Moment und packen unsere Sachen zusammen. Gemeinsam beschließen wir, noch ein wenig durch den Volkspark zu spazieren und die Nachmittagssonne zu genießen. Also verlassen wir den „Kastaniengarten“ und winken zum Abschied Herrn Neideck zu, der hinter dem Tresen steht und fleißig Pommes rot-weiß an die hungrigen Gäste ausgibt. „Die Fritten sind selbstgemacht!“, ruft er uns noch zu – müssen wir also beim nächsten Mal unbedingt probieren.

Eine halbe Stunde später. Wir sind im Nordosten des Volksparks angekommen und betreten das Stadion des BSC Rehberge, das von dichten Laub- und Nadelbäumen umgeben ist. Ulrike nimmt in der Mitte der kleinen Tribüne Platz, streckt ihre Beine in die Luft und blinzelt in die Sonne.

Jonas:
Genauso wichtig wie dein gesellschaftliches Engagement scheint dir in deinem Leben der Sport zu sein. Ist diese Leidenschaft ebenfalls in sehr jungen Jahren entstanden?

Ulrike:
Ich glaube, das liegt einfach daran, dass ich auf dem Land groß geworden bin. Als Kinder waren wir nachmittags immer draußen und mit dem Fahrrad oder Kettcar unterwegs. In meiner Umgebung gab es viele Jungs, die jeden Tag zusammen Fußball gespielt haben, da habe ich dann mitgebolzt. Einer hat mir sogar mal seine Fußballschuhe geschenkt – mit Stollen!
Außerdem hat mich meine Mutter mit sechs oder sieben Jahren in den Schwimmverein gesteckt. Sie selbst war deutsche Meisterin im Wildwasserfahren und hat damit total ihre Freiheit gelebt. Das Schwimmen hat mir von Anfang an richtig viel Spaß gemacht. Ich war damals in dem Alter, in dem man unbedingt zu den Guten gehören will. Also habe ich hart trainiert, um von dem grünen ins rote Team zu kommen. Rot bedeutete nämlich: an den Wochenenden mit den anderen Kindern zu Wettkämpfen fahren und zuhause rauskommen.

Jonas:
Neben dem Schwimmen gehst du sehr viel joggen, unter anderem hier im Volkspark Rehberge. Wie hast du dieses Gebiet für dich entdeckt?

Ulrike:
Ich bin vor kurzem mit meiner Freundin in den Wedding gezogen und habe einen Ort in der Nähe gesucht, wo ich regelmäßig laufen gehen kann. So habe ich die Rehberge entdeckt! Ich bin hier total gerne – wie auch im Humboldthain oder in meinem geliebten Tiergarten.
Ich brauche einfach sehr viel Grün um mich herum. Daher bin ich vor 25 Jahren auch zuerst nach Kladow gezogen, weil ich vermeiden wollte, in einer grauen Wohnung irgendwo im fünften Stock ohne Balkon zu leben. Da würde ich direkt eingehen wie eine Primel.

Ich finde den Wedding super – für mich eine ganz neue Perspektive auf die Stadt!

Jonas:
An Grün mangelt es in dieser Ecke ja Gott sei Dank nicht. Und es heißt ja eh: Der Wedding kommt.

Ulrike:
Ich finde den Wedding super – für mich eine ganz neue Perspektive auf die Stadt!

Jonas:
Bist du ab und zu noch in Kassel?

Ulrike:
Ja, wenn ich meine Mutter oder meine Schwester besuche. Und zur Documenta fahre ich auch ganz gerne mal hin. Aber sonst sind meine Verbindungen nach Kassel eigentlich alle abgebrochen.

Jonas:
Empfindest du Kassel trotzdem als deine Heimat?

Ulrike:
Nein, das ist Berlin. Dafür lebe ich einfach schon zu lange hier.

Wir verlassen das Stadion und ziehen noch ein wenig durch den Volkspark. Mal reden wir, mal lachen wir, mal bleiben wir schweigend stehen, um die Weite und Stille der Natur zu genießen. Noch immer fühlt sich dieser Tag wie Urlaub an.

Auf einer kleinen Lichtung schließt Ulrike ihre Augen, hebt dabei den Kopf ein wenig an und lächelt. Durch die Wipfel der umliegenden Bäume fällt das Licht der tief stehenden Nachmittagssonne auf ihr Gesicht, die Schatten der Blätter tanzen auf ihrer Haut.

Als wir den Park verlassen wollen, sagt Ulrike: „Bleibt mal stehen, ich will ein Foto von euch machen – zur Erinnerung!“ Also stellen wir uns in einer Reihe auf und lächeln in die Kamera ihres Smartphones. Mit einem breiten Grinsen drückt sie auf den Auslöser: „So, geschafft!“ Wir begleiten die Schauspielerin zurück zu ihrem Fahrrad am „Kastaniengarten“, dann verabschieden wir uns.

Unser Weg führt uns über die Müllerstraße in Richtung Südosten, links und rechts flackern die Leuchtreklamen der vielen kleinen Läden und Imbissbuden.

Durch den Wedding zu laufen bedeutet, dem Leben so zu begegnen, wie es wirklich ist – nur dass es heute weder schroff noch laut war, dafür aber herzlich, ehrlich und mehr als überraschend.

Der Wedding kommt? Er ist längst da.

Warum also jemanden ändern wollen, der sich so mag, wie er ist?