Interview — Lars Montag

How To Tell A Good Story (Fast)

Nach seinem Kinofilm »Einsamkeit und Sex und Mitleid« meldet sich Regisseur Lars Montag nun mit einer Netflix-Serie zurück. »How To Sell Drugs Online (Fast)« basiert auf der wahren Geschichte des Drogen-Onlinehändlers Shiny Flakes, aber die Serie ist vor allem eines: eine Hommage an die Freundschaft und das Erwachsenwerden.

5. Juni 2019 — MYP N° 25 »Zwielicht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Als am 26. Februar 2015 schwer bewaffnete Polizisten das Kinderzimmer von Maximilian S. stürmten, war plötzlich alles vorbei. Seit Dezember 2013 hatte der 20-Jährige aus der elterlichen Wohnung in Leipzig heraus einen Onlineshop für Drogen aller Art betrieben und damit etliche Millionen Euro Umsatz gemacht. In nur 15 Monaten hatte S. unter dem Namen Shiny Flakes Tausende Bestellungen in seinem Shop im Darknet erhalten und als verlässlicher Dienstleister über die Zeit etwa 600 Kilogramm Drogen in alle Welt verschickt. Zusammen mit dem Lagerbestand von 320 Kilogramm, den die Polizei in seinem Kinderzimmer fand und der zu dem Zeitpunkt einen Marktwert von etwa 4,1 Millionen Euro hatte, summierte sich die polizeilich registrierte Gesamthandelsmenge auf knapp eine Tonne – einer der größten Drogenfunde in der Geschichte der Bundesrepublik. Bis zu seiner Festnahme hatte Maximilians Mutter keinen blassen Schimmer, was der Sohnemann so trieb in seinem Zimmer.

Diese fast unglaubliche und filmreife Story dient nun als Vorlage für eine neue Netflix-Serie. In „How To Sell Drugs Online (Fast)“ bastelt sich der introvertierte Teenager Moritz, liebevoll gespielt von Maximilian Mundt, in seinem Kinderzimmer ebenfalls einen anonymen Drogenshop im Darknet zusammen – nur dass Moritz im Gegensatz zu Maximilian S. nicht in einer Großstadt wie Leipzig wohnt, sondern in einem fiktiven 28.000-Seelen-Kaff namens Rinseln. Treu zur Seite steht ihm dabei sein bester und einziger Freund Lenny, der – gespielt von Danilo Kamperidis – durch eine schwere Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist und mit seinen außerordentlichen Programmierfähigkeiten ebenfalls allen Nerd-Klischees entspricht.

Die Parallelen zu den realen Begebenheiten sind also offensichtlich – und doch geht es in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ nur auf den ersten Blick um den Vertrieb, Konsum und die Wirkungen von Drogen. Beiwerk, sozusagen. Die Serie ist vielmehr eine Hommage an das Wesen der Freundschaft und die Suche nach einem eigenen, festen Platz in dieser Welt. Dabei übt sie nicht nur mit all jenen den Schulterschluss, die wie Moritz und Lenny in der Enge der kleinstädtischen Spießbürgerlichkeit aufwachsen oder aufgewachsen sind. Sie nimmt auch all die unglücklich Verliebten in den Arm, deren Schwärmerei nicht erwidert wird, weil die oder der Auserwählte nichts Besseres zu tun hat, als sich mit Leib und Seele an die durchtrainierte Schulschönheit zu schmeißen.

Das Besondere, wahrscheinlich sogar das Einzigartige an „How To Sell Drugs Online (Fast)“ ist, dass sich die Erzählweise quasi eins zu eins das moderne Kommunikationsverhalten (nicht nur) junger Menschen anlehnt. Alles passiert gleichzeitig, unmittelbar und permanent: Informationen aufgesaugt, ausgespuckt, weitergeleitet und weggeklickt. Analog wie digital.

Dass die Serie dabei nicht nur so dynamisch, sondern auch so nahbar erzählt ist, ist den beiden Regisseuren Lars Montag und Arne Feldhusen zu verdanken, die für jeweils drei der vorerst sechs Episoden verantwortlich zeichnen. Die ersten drei Folgen gehen auf das Konto des 48-jährigen Lars Montag, der bereits vor zwei Jahren mit seinem Streifen „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ einen entlarvenden und gleichzeitig urkomischen Blick auf das deutsche Seelenleben warf. Ausgezeichnet wurde er dafür mit dem österreichischen Fernseh- und Filmpreis „Romy“ in der Kategorie „Beste Regie Kinofilm“. Zwei Wochen vor dem offiziellen Start von „How To Sell Drugs Online (Fast)“ haben wir den äußerst junggebliebenen Regisseur zum Interview in Berlin getroffen – und wir können verraten: Wir haben wohl selten so viel und herzlich gelacht bei einem MYP-Gespräch.

Ach, übrigens: Maximilian S. aka. Shiny Flakes tauchte während der Dreharbeiten zur Serie plötzlich mal im Produktionsbüro auf, so erzählt Lars Montag. Während eines Freigangs – S. ist nach wie vor in Haft – war er am Kölner Landgericht als Zeuge geladen und erfuhr per Zufall, dass in der Köln-Bonner Umgebung gerade die Produktion einer Netflix-Serie stattfand, für die er mit seiner Vita die Vorlage geliefert hatte. Also schaute er mal vorbei und ließ sein Blick interessiert über die Fotos vom Cast und den Motiven schweifen, die an der Pinnwand des Produktionsbüros hingen. Er soll sich gefreut haben, heißt es.

»Deutschland in den Achtzigern war wahnsinnig unprägnant.«

Jonas:
Du bist im kleinen Städtchen Bünde in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen und zur Schule gegangen. Was war Bünde für ein Ort in den 1980er Jahren, deiner Teenagerzeit?

Lars:
Genau gesagt komme ich aus Kirchlengern bei Bünde, das ist noch viel kleiner! Für mich war das damals ein Unort – soll heißen: Der Ort, an dem man lebte und seine Freunde hatte, spielte überhaupt keine Rolle. Wir waren als Kinder und Jugendliche nur mit uns selbst beschäftigt und haben uns dauernd irgendetwas ausgedacht, aber vielmehr haben wir auch nicht gemacht. Gerade auf dem Land gibt es ja überhaupt keine Stimulanz von außen. Gut, irgendwann hatten die ersten von uns ein Mofa, damit sind wir erst mal nach Bielefeld gefahren. Aber bis zu diesem Zeitpunkt haben wir nur in den Welten gelebt, die wir uns ausgedacht hatten.

Jonas:
Und was war Deutschland für ein Ort in den Achtzigern?

Lars:
Ich glaube, bevor ich 20 war, habe ich gar nicht über Deutschland nachgedacht – diese generelle Perspektive auf mein Land hatte ich mit 15, 16 Jahren einfach noch nicht entwickelt. Ganz abgesehen davon war Deutschland in den Achtzigern auch wahnsinnig unprägnant – im Sinne von „Helmut Kohl sitzt alles aus“. Bis auf „die Birne“, wie Kohl genannt wurde, gab es damals absolut nichts, an dem man sich abarbeiten konnte.

»Ich finde, dass das Leben auf der Straße immer bunter und toller ist als das in Filmen – und das nicht nur in Berlin, sondern gerade auch auf dem Land.«

Jonas:
Dafür scheinst du dich heute viel intensiver mit diesem Land auseinanderzusetzen, zumindest in deiner Arbeit. Sowohl „How To Sell Drugs Online (Fast)“ als auch „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ zeichnen sich durch einen ganz besonderen Blick auf Deutschland aus: Während sich der Kinofilm dem Ganzen aus der psychologischen Perspektive nähert und deutsche Befindlichkeiten sichtbar macht, beschreibt die Netflix-Serie eher die Enge der Provinz. In beiden Fällen wird man das Gefühl nicht los, dass es dir die deutsche Alltagswirklichkeit so richtig angetan hat. Was fasziniert dich so daran?

Lars:
Zuerst einmal finde ich, dass das Leben auf der Straße immer bunter und toller ist als das in Filmen. Ich muss nur vor die Tür gehen und sehe superinteressante, individuelle, sich irre verhaltende Leute – und das nicht nur in Berlin, sondern gerade auch auf dem Land. Mich als Regisseur interessiert es einfach, an genau solchen Stellen wie bei einem Verstärker das Rädchen etwas aufzudrehen. Oder anders gesagt: Die wahrhaftige Motivation von Menschen – nur ein bisschen ins Hyperrealistische gebracht– finde ich spannend zu sehen und ebenso spannend zu erzählen.
In „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ gibt es beispielsweise eine Szene, in der sich der junge Johnny, gespielt von Aaron Hilmer, vor einem sektenartigen Kirchenkomitee erklären muss, weil er sich in ein Mädchen verliebt hat. Diese Dialoge sind ausschließlich aus Originalprotokollen von Menschen zusammengeschrieben, die bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen sind und derartige Gespräche führen mussten. Zwar ist der Film in seiner Gesamtheit natürlich kein realistisches Abbild der deutschen oder meiner Befindlichkeit. Dennoch ist alles, was die Figuren da machen, auch ein Stück weit ich selbst, lediglich verteilt auf ein Ensemble von zwölf Leuten und hochgedreht in den Amplituden.

Jonas:
Wie oft passiert es dir in deinem Alltag, dass du Personen begegnest, die du so spannend findest, dass du sie am liebsten als Charaktere für ein Filmprojekt benutzen möchtest?

Lars (grinst):
Leider sehr oft. Ich mache auch heimlich Fotos – die natürlich nie irgendwo veröffentlicht werden. Diese Bilder nutze ich gerne als Vorlage für Kostüme, Maske oder generell das Casting. Das Leben da draußen ist so viel bunter, cooler und toller, als man sich das jemals ausdenken könnte. Toll war übrigens auch, dass Bjarne Mädel so viel Lust darauf hatte, sich für die Rolle des Drogendealers Buba in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ so stark zu verändern. Wir haben ihm Schläuche in die Nase gesteckt, damit seine Nasenlöcher größer wurden, außerdem haben wir seine Augenbrauen gezupft, die Haare gefärbt und ihm diverse Tattoos aufgemalt. Am Ende stand eine physiognomisch total veränderte Person vor uns.

»Seit Fassbinder gibt es eigentlich keine deutsche Erzählweise mehr. Alle versuchen nur noch, in irgendeiner Form Hollywood nachzumachen.«

Jonas:
Würdest du von dir behaupten, dass du eine besonders deutsche Erzählweise hast?

Lars:
Ich wüsste gar nicht, was das im Jahr 2019 bedeuten sollte. Seit Fassbinder gibt es eigentlich keine deutsche Erzählweise mehr. Alle versuchen nur noch, in irgendeiner Form Hollywood nachzumachen.

Jonas:
„How To Sell Drugs Online (Fast)” spielt in der fiktiven Stadt Rinseln, die mit rund 28.000 Einwohnern etwa halb so groß ist wie die reale Stadt Bünde. Gibt es in der Serie Momente oder Situationen, die dich an deine eigene Teenagerzeit erinnern?

Lars:
Ja, volle Kanne! Genauso wie die Figuren Moritz und Lenny in ihrem Jugendzimmer sitzen und bei abgeschlossener Tür ihren Drogenhandel betreiben, habe ich als Kind zuhause eigene Stopptrick-Filme erstellt. Zwar habe ich mit 15 oder 16 auch angefangen, Filme mit echten Menschen zu drehen, aber bis dahin habe ich bei uns zuhause im Keller gesessen und mir dort einen zurechtgebastelt – mit selbstgenähten Figuren, in die ich Sand oder Reis gefüllt hatte. Und genauso wie die beiden nach der Schule immer nachschauen, wie viele neue Bestellungen eingegangen sind, so bin ich immer in der Hoffnung nach Hause gekommen, dass meine Super-8-Rolle zurückgeschickt wurde, die ich zum Entwickeln gegeben hatte. Das dauerte immer um die drei Wochen. Ohnehin dauerte damals alles viel länger. Ich musste mein Taschengeld ganze zwei Monate lang sparen, um mir wieder eine neue Filmrolle kaufen zu können.
Darüber hinaus erkenne ich in der Serie natürlich die Enge der Provinz wieder. Ich wollte immer lernen, wie man Filme macht – keine Ahnung warum, in meiner Familie hatte damit nie jemand etwas zu tun. Mir war aber klar, dass ich dafür in Ost-Westfalen – dem Widerspruch in sich sozusagen – keinerlei Nährboden finden kann. Also bin ich nach dem Abi relativ schnell aus Bünden weg.

»Ich hatte als Jugendlicher die Chance, total viel nicht zu wissen. Das empfinde ich heute als riesiges Geschenk.«

Jonas:
Und an welcher Stelle siehst du den größten Unterschied zwischen der Serie und deiner eigenen, realen Jugend?

Lars:
Ich glaube, der größte Unterschied zur Serie und dem heutigen Leben junger Leute liegt darin, dass ich damals die Chance hatte, total viel nicht zu wissen. Heutzutage ist es doch so, dass – egal, was du in deinem Leben machen willst oder wo du denkst, dass deine Talente liegen – du im Internet sofort 400 andere Leute findest, die das besser können als du selbst oder sogar zur Perfektion getrieben haben. Das ist extrem frustrierend und macht es fast unmöglich herauszufinden, wo überhaupt der eigene Platz ist.
Wenn ich damals gewusst hätte, dass sich an den Filmhochschulen Tausende von talentierten Leuten bewerben, aber nur wenige von ihnen genommen werden und noch weniger später überhaupt als Filmemacher arbeiten, wenn ich mich vorab in all den heutigen Foren informiert hätte und den ganzen Frust über das Auswahlverfahren gelesen hätte, wenn ich erst mal gegoogelt hätte und dadurch gemerkt hätte, dass all meine coolen Ideen bereits jemand vor mir hatte, weiß ich nicht, ob ich da den Nerv und die Lust gehabt hätte, das überhaupt durchzuziehen. Ich wusste das alles Gott sei Dank nicht und habe es einfach gemacht. Es gab für mich auch nichts anderes. Dieses Unwissen empfinde ich heute als riesiges Geschenk.

»Ich war ganz klar auf der Nerd-Seite, ich war eher Moritz.«

Jonas:
In „How To Sell Drugs Online (Fast)“ werden immer wieder die beiden Figuren Moritz und Dan gegenübergestellt. Dan, gespielt von Damian Hardung, ist der athletische und allseits beliebte Schönling, der Moritz die Freundin ausgespannt hat. Moritz ist eher ein kleiner und schlaksiger Nerd, der gegen Dan nicht wirklich etwas ausrichten kann. Wenn du einen Blick auf diese beiden Charaktere wirfst und dich an deine eigene Schulzeit erinnerst, warst du eher der Nerd oder der beliebte Schönling?

Lars:
Ich war ganz klar auf der Nerd-Seite, ich war eher Moritz.

Jonas:
In den Neunzigern galt auch jemand schon als Nerd, wenn er Fan der Science-Fiction-Serie „Star Trek: The Next Generation“ war. Einer der Hauptdarsteller, Jonathan Frakes, kommt auch in einer kleinen Gastrolle in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ vor, allerdings im Zusammenhang mit seiner Moderatorentätigkeit in der TV-Kultserie „X-Factor“, in der er um die Jahrtausendwende zu sehen war. Ist Jonathan Frakes überhaupt eine Persönlichkeit, die heutige Jugendliche noch kennen?

Lars:
Ja, klar! „X-Factor“ war nirgendwo auf der Welt so erfolgreich wie in Deutschland. Witzigerweise war das Format in Amerika relativ unerheblich, aber hier war es ein Riesending.

»Wenn man so ein Format für das Öffentlich-Rechtliche produziert hätte, hätte man immer zeigen müssen, was alles schiefgehen kann.«

Jonas:
Am Ende seines Gastauftritts in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ fordert Frakes die Zuschauer auf, keine Drogen zu nehmen. War es wichtig, ein solches pädagogisch wertvolles Element mit einzubauen?

Lars:
Es gibt in der Serie nur wenige dieser Stellen, und das auch ganz bewusst. Wenn man so ein Format für das Öffentlich-Rechtliche produziert hätte, hätte man immer zeigen müssen, was alles schiefgehen kann, wenn man Drogen konsumiert – man muss dort permanent alle Seiten gleichermaßen beleuchten. Die Zusammenarbeit mit den Netflix-Menschen war da wesentlich angenehmer. Gleich bei unserem ersten Treffen hieß es: „Hab‘ keine Schere im Kopf, denn unsere Zuschauer haben selbst ein Hirn. Wenn das Ding in Ansätzen drogenverherrlichend ist, kann sich jeder selbst dazu verhalten, eine Meinung bilden und sagen, dass es zu weit geht. Permanent die ausgeglichene Waage zu zeigen, ist etwas, was unser Publikum nicht interessiert.“ Und diese Aussage fand ich cool…

Jonas:
… weil man in der Serie relativ schnell merkt, dass es gar nicht um Drogenhandel geht, sondern dies nur ein Aufhänger für einen ganz anderes Thema ist?

Lars:
Ganz genau. „How To Sell Drugs Online (Fast)” ist die Geschichte insbesondere eines jungen Menschen namens Moritz, der sich einfach die Frage stellt, wo sein Platz im Leben ist. Er versucht herauszufinden, wo seine Talente liegen und wie er überhaupt ein Selbstwertgefühl entwickeln kann. Moritz hat eh schon eine leicht übertriebene Hybris – und die braucht von irgendwoher Futter. Auf der Suche danach findet er schließlich etwas, was er besser kann als alle anderen. Dummerweise ist das illegal.

»Diese exponierte Darstellung in Badehose ist für einen jungen Menschen, der sich nicht so wohlfühlt in seinem Körper, eine Vollkatastrophe.«

Jonas:
Es gibt in den sechs Episoden der Serie viele plakative Schlüsselszenen, an die man sich erinnert – etwa als Dan im Schulschwimmbad mit seinem athletischen Körper wie ein junger Gott aus dem Wasser steigt und sich vor dem schmächtigen Moritz aufbaut. Wer als Zuschauer dazu neigt, auf Instagram immer wieder an vermeintlich perfekten Körpern hängenzubleiben und seine eigene Physis damit zu vergleichen, kann wahrscheinlich nachvollziehen, wie Moritz sich in dem Moment fühlen muss. War es dein Ziel, diese Analogie bewusst herzustellen?

Lars (lächelt):
Der Moment, in dem Dan aus dem Wasser auftaucht, sollte aussehen wie eine Davidoff-Werbung! Aber im Ernst: So eine Begegnung ist der Alptraum eines jeden Nerds, das kenne ich nur zu gut aus meinem eigenen Leben. Ursprünglich sollte diese Szene auf dem Schulhof spielen, aber ich habe mich entschieden, sie in den Schwimmunterricht zu verlegen. Diese exponierte Darstellung von Moritz in Badehose – die es übrigens in ähnlicher Form in „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ bei der Figur des Johnny gibt –, ist für einen jungen Menschen, der sich nicht so wohlfühlt in seinem Körper, natürlich eine Vollkatastrophe. Und dieses Problem kann man nochmal in besonderer Weise verdeutlichen, wenn man jemanden danebenstellt, der seinen eigenen Körper mag und das Wohlgeformte gerne herzeigt.

»Wenn eine Rolle in mir eine Saite zum Schwingen bringt, werde ich hungrig und merke, dass es sich lohnt, weiterzugraben.«

Jonas:
Die Charaktere Johnny und Moritz sind sich ohnehin nicht so unähnlich. Beide sind Underdogs und lieben ein Mädchen, das diese Liebe aber nicht oder nicht mehr erwidert, sondern sich eher anderen Jungs zuwendet, die blumiger reden oder besser aussehen. Wann ist für dich ein Film-Charakter schön? Wann manifestiert sich für dich eine gewisse Ästhetik in einer Rolle, die auf den ersten Blick keine Instagram-Schönheit ist?

Lars:
Für mich ist das keine Frage von Schönheit, sondern von Resonanz. Wenn eine Rolle in mir eine Saite zum Schwingen bringt, werde ich hungrig und merke, dass es sich lohnt, weiterzugraben. Dazu muss ich gar nicht genau wissen, um welche Saite es sich genau handelt, es muss sich einfach nur etwas in mir tun. Ich kann mich diesbezüglich an einen wichtigen eigenen Schlüsselmoment erinnern, den ich erleben durfte, als ich vor vielen Jahren auf der Premiere des Films „Magnolia“ von Paul Thomas Anderson eingeladen war – für mich übrigens der große Überfilm, wenn es um Episodenfilme geht. Ich war total berührt von diesem dreistündigen Werk, konnte aber nicht erklären, warum genau – obwohl der Film viele interessante Themen und Figuren hat. Aber als Paul Thomas Anderson nach der Vorstellung auf die Bühne kam und sagte: „Eigentlich wollte ich nur einen Film darüber machen, dass es sich lohnt, seine Kinder zu lieben“, machte es bei mir sofort klick. Ich dachte: Ja, das ist es! Ich konnte es nicht benennen, aber genau das war es, was ich darin gespürt hatte. Und das ist die Kunst.

»Am Skript hat ein ganzes Team von tollen Autoren gearbeitet, die natürlich auch alle ihre jeweiligen Lebenserfahrungen, Demütigungen und Probleme miteingebracht haben.«

Jonas:
Eine weitere Szene, die einem im Gedächtnis bleibt, ist der Moment auf Lisas Hausparty, in dem Moritz zu Dan sagt, dass irgendwann einmal die jetzt noch Beliebten aus der Schule die Hemdenträger der Nerds sein werden. Hast du diese Erfahrung in deinem eigenen Leben auch gemacht?

Lars:
Das kann ich gar nicht so sagen. Davon abgesehen habe ich die Drehbücher nicht geschrieben. Am Skript der Serie hat ein ganzes Team von tollen Autoren gearbeitet, die natürlich auch alle ihre jeweiligen Lebenserfahrungen, Demütigungen und Probleme miteingebracht haben.

Jonas:
Immerhin gibt es die These, dass Kinder, die in der Schule gemobbt werden oder es aus anderen Gründen schwer haben, bestimmte „Überlebens-Mechanismen“ entwickeln, die ihnen später im Job helfen, sich durchzusetzen und erfolgreich zu sein. Und die, denen immer alles leicht gemacht wurde, weil sie hübsch und beliebt waren und sich dementsprechend nie einen Platz erkämpfen mussten, haben es später im Beruf wesentlich schwerer – weil sie nicht gelernt haben, wie man sich im durchboxt.

Lars:
Klar, da könnte was dran sein. Vielleicht sind Schwule im Beruf erfolgreicher, weil sie so einen Mechanismus entwickeln mussten. Nerds sowieso. Wenn wie bei mir beides zusammenkommt, hat man vielleicht noch mehr Glück (lacht).

»In Deutschland kann man sich ein mutigeres Arbeiten eigentlich erst erlauben, seitdem digital gedreht wird.«

Jonas:
Zumindest bringst du Einiges an Lebenserfahrung mit und hast viel erlebt, allein was die mediale und technologische Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte angeht. Von MTV und RTL über die ersten Modems, die erste DVD, die ersten Handys, das erste Smartphone bis hin zu Facebook, Instagram und YouTube warst du bei allem live dabei. Was bedeutet diese rasante Entwicklung für dich und deine Arbeit als Regisseur?

Lars:
Der größte Schritt war sicherlich der vom Zelluloid hin zur digitalen Aufnahme, jedenfalls was das reine Handwerk des Filmemachens betrifft. Diese Entwicklung bedeutete: mehr improvisieren, mehr Takes machen, mehr ausprobieren. Das geht tatsächlich erst, seitdem nicht mehr etliche Meter Film durch die Kameras laufen, weil das alles wahnsinnig teuer war. Insbesondere in Deutschland, wo die finanziellen Mittel nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, kann man sich ein etwas prozesshafteres und mutigeres Arbeiten eigentlich erst erlauben, seitdem digital gedreht wird.
Darüber hinaus sind die Kommunikationsmittel ganz andere, heute läuft eine Teamorganisation meistens über Slack. Vor ein paar Jahren hat man sich da noch ewig irgendwelche Emails hin- und hergeschickt, noch früher musste man immer an ellenlangen Besprechungen teilnehmen. Ansonsten hat die technologische Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte tatsächlich wenig Einfluss auf meine Arbeit genommen.

»Ich habe so etwas wie ein Motto: Gib erst mal dem Zufall und den Umständen eine Chance.«

Jonas:
Würdest du sagen, dass du ein bestimmtes Arbeitsprinzip hast?

Lars:
Grundsätzlich arbeite ich so, dass ich morgens, noch vor dem eigentlichen Dreh, mit den Schauspielern probe. Wir nennen das „Nacktprobe“, weil es in Privatklamotten, sprich ohne Kostüm und Maske, und ohne das ganze Team drumherum stattfindet. Etwa 90 Minuten bevor der der Rest des Teams ans Set kommt, treffen wir uns, es gibt eine Thermoskanne Kaffee und ein paar Croissants und wir proben inhaltlich den bevorstehenden Tag. Das haben wir auch beim Dreh von „How To Sell Drugs Online (Fast)“ konsequent durchgezogen. Das heißt zwar am Ende für die Schauspieler und mich mehr Arbeitsstunden, aber wir können dadurch innerhalb eines Tages viel mehr ausprobieren.
Ich habe so etwas wie ein Motto: Gib erst mal dem Zufall und den Umständen eine Chance. Was beispielsweise den Cast angeht, bringen die Schauspielerinnen und Schauspieler immer etwas Eigenes mit – es wäre ein Verlust, das nicht miteinzubeziehen. Maximilian Mundt etwa, der die Rolle des Moritz spielt, kann wahnsinnig gut zeichnen, das haben wir dann bei „How To Sell Drugs Online (Fast)“ mit in die Figur integriert. Genauso verhält es sich auch mit den Motiven. Ein Beispiel ist die Gaststätte, in der Drogendealer Buba arbeitet. Diese Location gibt es wirklich, und zwar in der Nähe unseres Hauptdrehorts in Bonn, wo wir unter anderem Moritz‘ Kinderzimmer aufgebaut hatten und wo auch die Schule war. Ursprünglich sollte Buba in einer normalen Pizzeria arbeiten, aber als wir in der Gegend durch Zufall eine Reithalle inklusive Gasthof gefunden haben, haben wir uns spontan umentschieden. Wir dachten, es sei einfach viel cooler, wenn wir Buba dort platzieren würden – Pferdemädchen und Drogendealer, besser geht’s nicht!
„Einsamkeit und Sex und Mitleid“ ist auf die gleiche Weise entstanden. In Leipzig, wo wir hauptsächlich gedreht haben, haben wir uns umgeschaut, was es dort so an coolen Locations gibt. Und die haben wir dann einfach in den Film eingebaut, anstatt zu versuchen, das alles mühsam herzustellen. Wenn man seine Arbeit eher prozesshaft sieht und die vielen Geschenke mit einsammelt, die einem auf dem Weg vor die Füße fallen, erhält man nicht nur mehr Production Value, sondern es macht auch mehr Spaß und wird irgendwie wahrhaftiger.

»Moritz lebt komplett für die Zukunft. Doch Lenny interessiert vielmehr, was im Hier und Jetzt passiert.«

Jonas:
„How To Sell Drugs Online (Fast)“ ist vor allem eine Story über eine ungewöhnliche und enge Freundschaft, die zwischen dem unglücklich verliebten Moritz und dem todkranken Lenny besteht. Wie habt ihr dieses Duo Maximilian Mundt und Danilo Kamperidis geformt? Was ist das Besondere, das es bei dieser Konstellation zu erzählen galt?

Lars:
Wir hatten einen wirklich außergewöhnlich langen Castingprozess und es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir alle Figuren herausgeschält hatten – und zwar so, dass sie nicht nur für uns, sondern auch für Netflix passten. Immerhin wird die Serie in 190 Ländern zu sehen sein, daher müssen insbesondere die Hauptfiguren von Menschen gespielt werden, die mit ihrer Art auch über die deutsche Befindlichkeit hinaus funktionieren. Unter solchen Parametern ist die Suche nochmal etwas mühsamer und wir sind irre froh, dass wir letztendlich diese coole Truppe gefunden haben.
Das Besondere an der Beziehung zwischen diesen beiden Freunden ist, dass Moritz komplett für die Zukunft lebt. Er hängt mit seinem gesamten Mindset nur in dem, was irgendwann mal sein wird, besser gesagt was er irgendwann mal erreichen wird. Seine Ziele sind dabei sehr, sehr hoch und weit gesteckt. Ganz anders verhält es sich bei Lenny. Aufgrund seiner Krankheit wurde ihm immer wieder gesagt, dass er nicht mehr lange zu leben hätte. Dementsprechend interessiert ihn nicht, was er mal in fünf Jahren erreichen wird. Ihn interessiert vielmehr, was im Hier und Jetzt passiert und was man erleben kann. Ich finde, das ist eine super Versuchsanordnung: der Eine, der nur für die Zukunft vorbaut, und der Andere, der nur eine spannende Gegenwart haben will.

Jonas:
Hast du auch den Eindruck, dass solche Underdog-Geschichten, wie ihr sie in eurer Serie erzählt, gerade voll im Trend liegen?

Lars:
Klar! Man denke nur an „The End Of The Fucking World“ oder „Sex Education“, zwei irre Serien. A propos „Sex Education“ – diese Serie wurde veröffentlicht, nachdem wir unsere gerade abgedreht hatten. Dummerweise ist die Jacke des Hauptdarstellers Otis fast identisch mit der, die Moritz in „How To Sell Drugs Online (Fast)“ die ganze Zeit trägt. Als wir das gesehen haben, haben wir die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gedacht: „Mist, die Leute werden sagen, wir haben da geklaut.“ Dabei ist das gar nicht möglich. Aber sowas passiert eben.

»Alles, was Moritz am Bildschirm eingibt, ist echt – jede Online-Recherche und jede Anleitung zum Drogenverkauf.«

Jonas:
Jacke hin oder her – euch ist etwas gelungen, was ich persönlich in dieser Form noch nirgends gesehen habe. „How To Sell Drugs Online (Fast)“ ist für mich die erste Serie überhaupt, der es gelingt, ihre Erzählform konsequent am Kommunikationsverhalten der Digital Natives auszurichten und uns ungefiltert vorführt, wie, wie oft und wie schnell wir permanent über iPhone & Co. miteinander kommunizieren. Musstest du selbst erst mal dein tägliches Smartphone-Gehabe analysieren, bevor du es in der Serie so realistisch umsetzen konntest?

Lars:
Was das betrifft, gab es einen enormen Input von Seiten der Produktionsfirma Bildundtonfabrik. Der Aufwand, der hinter all den realistischen Grafikeinblendungen in Form von Textnachrichten oder Browser-Screenshots steckt, ist gigantisch und wäre in Deutschland wohl mit keiner anderen Produktionsfirma möglich gewesen. Die haben in ihrer VFX-Abteilung fast 20 Leute nur für Visual Effects sitzen. Alleine in der ersten Folge gibt es weit über 100 VFX-Shots, das ist für 30 Minuten und das Budget eine Riesenleistung. Ohne eine Firma, die diese Skills von Haus aus mitbringt, hätte man das nicht machen können. Und weil es diese Möglichkeiten gab, hatten wir im Laufe des gesamten Prozesses die Chance, derartige Effekte immer weiter hochzufahren. Ein Beispiel: Während des Drehs hat Apple seine sogenannten Animojis veröffentlicht – Messenger-Emojis, die man durch seine eigene Mimik animieren kann. Dank der Bildundtonfabrik konnten wir das in dem Moment kurzerhand mit einbauen. Übrigens: Was die vielen Browser-Screenshots angeht, ist alles, was Moritz am Bildschirm eingibt, echt – jede Online-Recherche und jede Anleitung zum Drogenverkauf. Das hält in der Tiefe stand, falls irgendein Nerd auf die Idee kommt, das zu überprüfen.

»Die Kunst liegt darin, sich als Mensch oder Person nicht mit seinem Talent zu verwechseln.«

Jonas:
In der Serie fällt irgendwann der prägnante Satz: „Likes sind wie Zucker.“ Wie anfällig bist du selbst, der du in den letzten Jahren bereits den ein oder anderen Preis für seine Arbeit eingesammelt hast, für Wertschätzungen und Anerkennungen auf Basis von Auszeichnungen, Quoten oder Kritiken?

Lars:
Als Regisseur Lars Montag bin ich dafür natürlich anfällig, weil auch das ein Treibstoff ist, der diesen ganzen Motor immer wieder befeuert. Zu sagen, das würde einem nichts bedeuten, kann ich nicht nachvollziehen. Ich glaube aber, dass die Kunst darin liegt, sich als Mensch oder Person nicht mit seinem Talent zu verwechseln. Denn damit würde man sich in echte Schwierigkeiten bringen.

Jonas:
Du bist immer wieder mal projektweise als Gastdozent an renommierten Filmhochschulen tätig. Was können die Studentinnen und Studenten von dir lernen, was kannst du ihnen mitgeben?

Lars (lacht):
Das frage ich mich ja auch immer wieder. An den Filmhochschulen herrscht wahnsinnig viel Freiheit – und kaum kommt man da raus, gibt es Arbeitszeiten, Redakteure und etliche andere Korsette, in die man eingespannt wird. Aber wie man sich trotz dieser vielen Korsette mit einem gewissen Pragmatismus und einer spielerischen Leichtigkeit durch seinen Beruf bewegen kann, ist etwas, was man an all den Filmhochschulen noch nicht wirklich lernen kann. Das fehlt einfach. Und da ist jemand wie ich, der aus der Praxis kommt und in dem Beruf noch nicht aufgegeben hat, vielleicht nicht der schlechteste Inputgeber.