Fotoserie — Osman Balkan

Beni Bir Tek Tanrı Yargılar

Mit seiner Fotoserie »Nur Gott kann mich richten« macht der Berliner Künstler Osman Balkan den Alltag unzähliger Geflüchteter sichtbar, die in der türkischen Metropole Istanbul festhängen. In den Fokus rückt er dabei das Elend der Kinder und Jugendlichen, die auf der Straße Tag für Tag ums Überleben kämpfen – und um ihre Würde.

14. Mai 2021 — Fotografie: Osman Balkan, Text: Jonas Meyer

„Beni Bir Tek Tanrı Yargılar“ (auf Deutsch „Nur Gott kann mich richten“) ist eine Arbeit des Berliner Fotografen Osman Balkan, die in den Jahren 2015 und 2016 im historischen Stadtkern von Istanbul entstanden ist. Die eindrückliche Fotoserie beschäftigt sich mit jenen unzähligen Kindern und Jugendlichen, die aus ihren Heimatländern vor Krieg und Elend geflohen sind und sich nach einem besseren, würdevollen Leben in Europa sehnen.

Doch spätestens seit dem sogenannten Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei vom 18. März 2016 ist dieser Traum in weite Ferne gerückt. Die getroffene Vereinbarung soll dazu führen, dass weniger Menschen Europa erreichen, um hier Asyl beantragen zu können. Und so hängen aktuell Abertausende in der 15-Millionen-Stadt Istanbul fest – seit Tagen, Wochen oder sogar seit Jahren. Wer weiß das schon?

Dieses Abkommen bedeutet vor allem für unbegleitete Kinder und Jugendlichen ein Dasein ohne Perspektive – ein Leben, das sich auf der Straße und meist unterhalb jeglicher Würde abspielt. In einer riesigen fremden Stadt irgendwo zwischen Asien und Europa kämpfen sie täglich ums nackte Überleben, fern jeder Chance auf Bildung, ein Zuhause und eine bessere Zukunft.

Osman Balkan, der die Gesichter dieser jungen Menschen mit seiner Kamera sichtbar macht, stellt seine Portraits in „Beni Bir Tek Tanrı Yargılar“ immer wieder Bildern von Straßenhunden und -katzen gegenüber. Damit macht er auf die traurige Realität aufmerksam, dass die Istanbuler Gesellschaft jenen jungen Menschen eine ähnlich hohe Beachtung schenkt wie den streunenden Tieren.

Noch trauriger ist, dass dies nicht die einzige erkennbare Parallele ist. Oftmals, so beschreibt der Fotograf die Situation in Istanbul, sei auch die Lebenserwartung der geflüchteten Kinder und Jugendlichen nicht höher als die der umherirrenden Straßenhunde und -katzen. Um überhaupt überleben zu können, verkaufen sie illegal Taschentücher, prostituieren sich oder werden als Drogenkuriere missbraucht.

Immer wieder werden sie auch von der Polizei festgesetzt und abtransportiert – man möchte nicht, dass diese elenden Menschen das schöne Stadtbild beeinträchtigen.

Mit dem rasanten Anstieg der Geflüchtetenzahl ist in Istanbul auch die Kriminalität massiv gewachsen. Aus Frust vergehen sich viele an den traumatisierten Frauen, Kindern und Jugendlichen, die Gewalttätern schutzlos ausgeliefert sind. So gehen viele dieser Menschen ein zweites Mal durch die Hölle.

Für Osman Balkan hat „Beni Bir Tek Tanrı Yargılar“ auch eine ganz persönliche Ebene. Der gebürtige Bonner, der einen Teil seiner Kindheit in Istanbul verbracht hat, bezeichnet sich selbst als „Halbblut“, da sein Vater Türke und die Mutter Deutsche ist. „Immer wenn ich in Istanbul Fotos gemacht habe“, erzählt er, „hatte ich den Gedanken, dass ich selbst dieses Kind sein könnte, dass ich gerade vor der Linse habe. Ich selbst hätte dieses Leben in dieser Stadt auch leben können, müssen.“

Darüber hinaus, sagt er, habe es ihn schon immer verblüfft, wie wir in der westlichen Welt all diese jungen Menschen komplett ignorierten – und damit ihre Leben geradewegs in den Abgrund treiben würden. „Dabei sind das Realitäten, die überall um uns herum existieren“, fährt der Fotograf fort. „Und es wird nicht besser.“

Im letzten Jahr plante Osman Balkan, erneut nach Istanbul zu fahren – einerseits, um seine Serie mit neuen Bildern zu ergänzen. Andererseits, um zu überprüfen, ob sich an der katastrophalen Lage der Geflüchteten etwas geändert hat. „Gerade in der heutigen Zeit“, erklärt er, „werden fotografische Zeitdokumente viel zu schnell als vergangen und damit nichtig verworfen. Auf Plattformen wie Instagram zählt bei Bildern nur noch der unmittelbare Moment, in dem sie konsumiert werden. Doch ohne einen Blick in die Vergangenheit ist es unmöglich, eine bessere Zukunft zu gestalten.“

Dass er die geplante Istanbul-Reise aus Pandemiegründen nicht antreten und seine Fotoserie auffrischen konnte, ärgert den Künstler. Denn jeden Tag höre er in Berlin und Europa, wie schlimm doch dieses Flüchtlingsproblem sei. Dabei wisse er, dass die meisten Menschen dieses Problem gar nicht in seiner tatsächlichen Dramatik erfassen könnten. Fast niemand wisse, was auf den Straßen Istanbuls passiere, einer Stadt, die faktisch den Scheitelpunkt bildet zwischen dem ersehnten, aber fast unerreichbaren europäischen Wohlstandssystem einerseits und dem Elend der Gestrandeten andererseits, für die die Straßen Istanbuls nicht selten die Endstation bedeuten. Und so drohen in Zeiten von Corona all die vielen Schicksale noch ein Stückchen weiter aus dem gesellschaftlichen Blickfeld zu geraten, als sie es eh schon sind.

Doch so wichtig „Beni Bir Tek Tanrı Yargılar“ für die Sichtbarmachung jener in Istanbul gestrandeten Menschen auch ist, mit seiner Fotoserie kann Osman Balkan nur einen winzigen Einblick in das Leben all dieser Personen geben. „Wie es den Geflüchteten wirklich geht, insbesondere den Kindern und Jugendlichen, weiß keiner“, sagt er. „Es gibt so gut wie keinen Zugang zu ihren Lebenswelten – und dabei ist schon das Wenige, was offensichtlich ist, mehr als erschreckend und beschämend. Bevor man sich um das Thema des leichtfertigen Abschiebens Gedanken macht, sollte man sich vielleicht erst mal einen Eindruck davon verschaffen, was auf den Istanbuler Straßen wirklich passiert.“

Durch seine Serie, erklärt der Fotograf, mache er es uns Betrachter*innen übrigens sehr leicht. Man könne sich das Elend in aller Ruhe betrachten, ohne Gefahr zu laufen, den Reaktionen der fotografierten Menschen ausgeliefert zu sein.