Fotoserie — Romain Berger

Die Welt, wie sie ist

Zensiert wegen ein paar sichtbarer Schamhaare? Wir pfeifen auf die Moralvorstellungen von Instagram und präsentieren mit Freude die farbgewaltigen Bilder des französischen Fotografen Romain Berger – auch weil sie noch ganz andere Missstände offenlegen, an denen unsere Gesellschaft krankt.

22. März 2021 — MYP N° 30 »Gemeinschaft« — Text: Jonas Meyer, Fotografie: Romain Berger

Die Community-Politik von Facebook ist etwas, über das sich leidenschaftlich streiten lässt. Während auf den einzelnen Plattformen des US-Konzerns immer noch Autokraten und ihre radikalisierte Gefolgschaft fast ungehemmt ihre menschenfeindlichen Botschaften in alle Welt verbreiten dürfen, während Verunglimpfungen und Shitstorms wie die Axt im Walde wüten, während Falschnachrichten mehr schlecht als recht bekämpft und demokratische Systeme sukzessiv unterwandert werden, tut sich an ganz anderer Stelle ein bizarres Verständnis von Moral auf: bei der Abbildung des menschlichen Körpers.

So wird schon seit Jahren die Veröffentlichung von allzu freizügigen Bildern blockiert, etwa wenn sie die weibliche Brust samt Brustwarze zeigen – eine Praxis, die von User*innen gerne als sogenannte Nippel-Zensur bezeichnet wird.

Aber auch die menschliche Schambehaarung ist ins Visier der digitalen Sittenwächter geraten. Diese bizarre Erfahrung musste in den letzten Jahren immer wieder der französische Fotograf Romain Berger machen: Zeigte ein Bild, das er auf Instagram posten wollte, zu viele Schamhaare, wurde ihm die Veröffentlichung verwehrt. Beschwerde zwecklos.

»Einen idealen Körper zu haben ist heute für viele Menschen zu einer Sucht geworden.«

Dabei sind die stimmungsvollen und farbintensiven Arbeiten des 32-Jährigen mehr als sehenswert. Romain, der aus der Normandie stammt und nach vier Jahren Paris jetzt sein Lager in Rennes aufgeschlagen hat, hat sich in seiner Kunst voll und ganz dem Thema Körperlichkeit verschrieben. „Der menschliche Körper ist in sozialen Netzwerken und Magazinen allgegenwärtig“, erklärt Romain und fügt hinzu. „Einen idealen Körper zu haben ist heute für viele Leute zu einer Sucht geworden – immer mehr Menschen befinden sich in einem Wettstreit um Perfektion. Die Abgeschlagenheit und Müdigkeit, die sich daraus ergibt, ist mittlerweile das Problem einer gesamten Generation.“

»Ich will phantasieren und dabei für alles offen und leicht provokant sein.«

Romain erzählt, dass er viele Jahre in der Kino- und Theaterbranche gearbeitet habe. Dort habe er nicht nur eine Faszination für starke Visualitäten entwickelt, sondern auch für Stereotypen und Genderfragen, die seit Jahren und Jahrzehnten die Popkultur prägen.

Sich selbst bezeichnet Romain als einen queeren Fotografen, dessen Werke nicht nur ebenso queer sind, sondern auch kitschig, übermäßig bunt und von oben bis unten mit Sex gespickt. „Mir geht es in meiner Fotografie darum, die Welt, in der wir leben, neu zu denken. Ich will phantasieren und dabei für alles offen und leicht provokant sein.“

»Ich benutze queere Klischees, um unsere Welt aus einer anderen Perspektive zu beleuchten.«

Besondere Freude hat der Fotograf daran, die Klischees queerer Kultur aufzugreifen: „Ich benutze diese Stereotypen, um unsere Welt aus einer anderen Perspektive zu beleuchten“, erklärt Romain. „So kann ich gleichzeitig ihre schönsten wie auch ihre dunkelsten Seiten offenlegen.“

Die Charaktere seiner liebevoll komponierten Bilder sind oft Marginalisierte, Ausgeschlossene oder Menschen, die aufgrund ihrer individuellen Andersartigkeit von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft an den Rand gedrängt wurden – und immer noch werden: Schwule, Frauen, Transgender, Dragqueens. Oder kurz gesagt: Menschen, auf die man in unserer Gesellschaft gerne mit dem Finger zeigt.

»In meinen Inszenierungen sind es fast ausschließlich die Männer, die sexualisiert werden.«

„Durch meine Bilder möchte ich diese Menschen in ihren jeweiligen Klischees zu Held*innen und Kämpfer*innen machen und im selben Moment ihre Queerness trivialisieren“, sagt Romain. „So wird das Bunte, Schrille und Ungewohnte zu etwas Alltäglichem.“

Darüber hinaus treibe es ihn an, erklärt er, eine fotografische Gegenposition zu tradierten Magazin- und Werbegewohnheiten zu schaffen – denn dort würden insbesondere Frauen noch immer als plumpe Objekte der Begierde gezeigt. „Aus diesem Grund sind es in meinen Inszenierungen fast ausschließlich die Männer, die sexualisiert werden. Mir persönlich wurde dadurch erst wirklich klar, wie grotesk bisher der Umgang mit Frauenkörpern in der Popkultur war.“