Prolog — MYP Magazine N° 29

Die Erhabenheit der Ungewissheit

Mit unserem neuen Themenschwerpunkt »Vakuum« reagieren wir auf die aktuelle Situation in Kultur, Gesellschaft und Politik. Chefredakteurin Katharina Weiß erklärt in einem Prolog, warum Immanuel Kants Konzept der »Erhabenheit« so treffend das Gefühl der Stunde beschreibt.

16. April 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Text: Katharina Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

»Wer in diesen Tagen in sich hineinhört, nimmt noch andere Untertöne der Seele wahr.«

Ein Kollege teilte neulich seine erste erotische Horrorgeschichte auf Facebook. Der ehemalige Partner eines Bekannten postet täglich Videos von seinen neu erworbenen Mandarinkenntnissen. Und die Mutter von irgendjemandem sendet Whatsapp-Newsletter zu selbstgenähten Atemmasken rum. Überall erleben wir gerade Aktionismus, Quarantäneabenteurer, Seize the day-Mentalität.

Stiller, aber häufiger sind die Anrufe von Freunden, die sich schon frühmorgens bei Netflix einloggen und es tagelang nicht aus dem Jogginganzug schaffen. Die Memes, in denen so mancher subtil andeutet, dass er eher an einer Leberzirrhose als im Homeoffice arbeitet. Und ich persönlich blicke gerade auf meine Tastatur und frage mich, warum ich in dieser unfreiwillig geschenkten Zeit lieber diesen Artikel schreibe, als meine Masterarbeit anzugehen.

Die beschriebenen Phänomene können als flamboyante Faulheit oder privilegierte Prokrastination verortet werden. Wer in diesen Tagen in sich hineinhört, nimmt aber noch andere Untertöne der Seele wahr, die auch durch das ständige Geräuschflimmern von Spotify, Amazone Prime und Corona-Podcasts nicht verstummen.

»Wir stehen alle alleine im Wald und halten Ausschau nach dem Bär.«

Investigativjournalist Johann Hari, der in seinem Buch „Lost Connections“ den wahren Gründen der Volkskrankheit Depression nachspürt, lieferte in den vergangenen Tagen eine mögliche Erklärung für das tief in uns summende Beben, das vielen die Konzentration raubt. Dabei bemüht Hari das Konzept der Hypervigilanz – der ungewöhnlich erhöhten Wachsamkeit – und erklärt es mit einer Waldmethaphorik: „Stell dir vor, du gehst im Wald spazieren und plötzlich greift dich ein Bär an. In diesem Moment denkst du nicht mehr an dein nächstes Urlaubsziel oder das Abendessen. Alles, woran du denken kannst, ist der Bär, die Gefahr und wie du da wieder rauskommst. Auch wenn der Bär wieder verschwunden ist, erwartest du, dass die Bedrohung zurückkommt.“

Es ist in uns Menschen angelegt, auf solche Ereignisse mit dauerhaft erhöhter Wachsamkeit zu reagieren. In diesem Stadium fährt unser Gehirn die Aufmerksamkeitsspanne herunter, die für Langzeitziele verantwortlich ist. Die Nervosität, die viele von uns empfinden, ist darauf zurückzuführen, dass wir nun alle alleine im Wald stehen und nach dem Bär Ausschau halten.

Wer in diesen Tagen das Glück hat, nicht in der überreizten Großstadt, sondern in der Provinz das neue Sozialvakuum auszuhalten, wird bei einem nicht-metaphorischen Waldspaziergang neben dem Frühlingszwitschern der Vögel womöglich noch eine andere Tonspur aus sich heraushören. Feierlich wie das melodische Schwingen eines riesigen Gongs legt sich große Erhabenheit in all unsere Ungewissheit.

»Unser Individualismus löst sich immer mehr in einem grausigen Wohlgefallen auf.«

Geprägt wurde der Begriff „Erhabenheit“ von einem, der wohl so viel auf deutschem Boden spazieren ging wie kaum ein anderer: Berufsphilosoph und Einsiedler Immanuel Kant definierte das Erhabene als jene Seite der Schönheit, die nicht leicht und fröhlich, sondern schwermütig und ehrfürchtig ist: „Die Nacht ist erhaben, der Tag ist schön. Das Erhabene rührt, das Schöne reizt. Verstand ist erhaben, Witz ist schön. Freundschaft hat hauptsächlich den Zug des Erhabenen, Geschlechterliebe aber des Schönen an sich.“

Das Große, Heilige, das uns zurzeit erschaudern lässt, ist die manchmal fast esoterisch anmutende Einsicht, dass wir als Weltgemeinschaft viel verbundener sind, als es uns lange bewusst sein wollte. Unser Individualismus löst sich immer mehr in einem grausigen Wohlgefallen auf. Und wenn wir zu den Wipfeln der Waldkronen blicken, fühlen wir einmal mehr die angenehme Winzigkeit der eigenen Existenz.

»Auch wenn wir weiterhin aus unseren Wohnzimmern senden können, verblassen wir doch mit jedem Tag ein wenig mehr.«

Auch wenn wir weiterhin aus unseren Wohnzimmern senden können, verblassen wir doch mit jedem Tag ein wenig mehr. Momentan dreht sich das Weltgeschehen um die Statistik der Infizierten und Gestorbenen. Revolutionsansammlungen sind die respekteinflößenden Imaginationen vergangener Krisen, nun gilt das Verweilen auf der Couch als heldenhaft. Und so bleibt scheinbar nichts zu tun, als sich zurückzulehnen und mit Schrecken zu verfolgen, welches Spektakel sich vor unseren Augen gerade entfaltet.

Aber ist das so? Sind wir wirklich so handlungsunfähig? Können wir tatsächlich nichts tun für die vergessenen Kinder von Moria, die einsamen Alten oder die Frauen, die gerade noch mehr als sonst unter häuslicher Gewalt leiden? Nur, weil man lediglich aus der Ferne über all das berichten kann, heißt das noch lange nicht, dass man diesen Menschen keine Stimme geben kann.

Wir haben in diesem Magazin oft Zeitzeugen interviewt und neun Jahre lang Geschichten großer Erhabenheit gesammelt. Alles deutet darauf hin, dass nach diesem Vakuum eine Ära beginnt, in der wir selbst Zeitzeugen einer ganz neuen Geschichtsschreibung werden.