Submission — Liah Lou

Privilegiert und gefährdet

Liah Lou studiert Chemie, arbeitet im Porno-Business und gehört wegen einer chronischen Erkrankung zur Corona-Risikogruppe. In ihrem Text erklärt sie, was die aktuelle Krise für ihre Branche bedeutet, warum sie die jüngsten Lockerungen kritisch sieht und was sie von der Protestkultur in Deutschland hält.

13. Mai 2020 — MYP N° 29 »Vakuum« — Text & Fotos: Liah Lou

Ich bin Liah, lebe in Deutschland und gehöre zur COVID-19-Risikogruppe: Ich bin chronisch krank, nehme Immunsuppressiva und leide außerdem an einer Nierenkrankheit. Neben meinem Vollzeitstudium der Chemie arbeite ich in der Pornoindustrie – als Amateurdarstellerin, Webcam-Girl und Stripperin.

Wie blicke ich persönlich auf die aktuelle Situation? Die spürbarste Einschränkung erlebe ich in Bezug auf mein Studium. Prüfungen aus dem letzten Semester sind immer noch nicht terminiert und das nächste Semester findet komplett ohne Präsenzveranstaltungen statt. Da wir viel im Labor arbeiten und Praktika absolvieren, für die es keine Alternative gibt, wird die momentane Lage das Studium vieler Naturwissenschaftler verkomplizieren und verlängern.

»Die Webcam bietet den Leuten eine gewisse soziale Interaktion, die ihnen aufgrund der Isolation gerade fehlt.«

Viele meiner Kommilitonen setzt dieser Stillstand psychisch und finanziell unter Druck. Ich selbst habe aber kein wirkliches Problem damit, da ich durch meine Arbeit im Pornobusiness finanziell abgesichert bin. Das ist ein großes Privileg – nicht nur, weil ich von zu Hause arbeiten und mir die Zeit frei einteilen kann. Ich kann auch momentan keinen Rückgang der Umsätze beobachten, jedenfalls nicht in Bezug auf kostenpflichtige Videoclips und Webcam-Shows. Was meine Stripshows angeht, gibt es zurzeit natürlich keine Anfragen oder Buchungen, obwohl der Sommer normalerweise wegen der vielen Junggesellenabschiede unsere Hochsaison ist. Für die Kolleginnen, die das hauptberuflich machen, ist das ein großes Problem. Denn es bedeutet: keine Einnahmen.

Zu Beginn der Krise kursierte das Gerücht, dass die Pornoindustrie massive Umsatzsteigerungen habe. Das kann ich bestätigen, in den ersten zwei Wochen der Isolation lief es besonders gut. Der Grund dafür ist wahrscheinlich der, dass die Webcam den Leuten eine gewisse soziale Interaktion bietet, die ihnen aufgrund der Isolation gerade fehlt. Mittlerweile haben sich die Zahlen allerdings wieder eingependelt, auch weil allgemein eine große wirtschaftliche Unsicherheit herrscht und die Leute achtsamer mit ihrem Geld umgehen.

»Unsere vulnerable Gruppe profitiert von der Vorsicht und der Angst der Allgemeinheit.«

So sehr ich auch durch die Pornoindustrie auf der existenziellen Sonnenseite stehe, so sehr wirft die Corona-Krise einen Schatten auf meine restlichen Lebensbereiche. Während es durch die jüngsten Lockerungsmaßnahmen für einen Großteil der Bevölkerung Schritt für Schritt in Richtung Normalität geht, müssen wir Risikopatienten weiter Vorsichtsmaßnahmen treffen. Je mehr das Bewusstsein in der Bevölkerung für die immer noch bestehende Ansteckungsgefahr schwindet und je mehr Schutzvorkehrungen dadurch vernachlässigt werden, desto weniger können wir uns draußen frei bewegen.

Unsere vulnerable Gruppe profitiert von der Vorsicht – und gewissermaßen von der Angst – der Allgemeinheit. Aber sobald diese schwindet und die Leute draußen keine Schutzmaßnahmen mehr ergreifen, wird es zunehmend schwieriger für uns, einer Infektion zu entgehen. Ich kann und will mir eine Erkrankung an COVID-19 nicht leisten – auch nicht, wenn das Gesundheitssystem noch stabil ist. Mein Gefühl von Sicherheit wird erst dann wieder den ursprünglichen Status erreichen, wenn es eine geeignete Behandlung oder einen Impfstoff gibt.

»Ich werde den Campus dieses Jahr nicht mehr betreten. Und auch keine Stripshows anbieten.«

Ob mir das Angst macht? Ja. Ich habe mich ausreichend organisiert und komme kontaktlos an alles, was ich brauche. Ich habe Hunde, kann draußen spazieren, aber ich denke, dass ich den Campus dieses Jahr nicht mehr betreten werde. Auch werde ich keine Stripshows anbieten, nicht ins Fitnessstudio gehen, keinen Poledance-Unterricht besuchen, nicht mit Freunden essen gehen und mich auch nicht einfach mal in ein Café setzen. Corona bedeutet für mich eine Umstellung meines kompletten Lebens, und das für eine längere Zeit.

Was ich in Deutschland momentan erlebe, ist eine Art gezwungene Solidarität. Seitdem hier weitestgehend alle begriffen haben, wie ernst die Lage ist, hält man sich größtenteils an die Regeln. Positiv fällt mir auf, dass ein Land, das dafür bekannt ist, von Anfang bis Ende durchbürokratisiert zu sein, sich etwas entspannt. Ämter sind momentan nachsichtiger mit Fristen und Anträgen, die Menschen sind gestresst, aber freundlicher. Die Medien zeigen täglich Fälle von Familien bis hin zu ganzen Branchen, die existenzbedroht sind, und ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft wächst ein Bewusstsein dafür, dass der Mensch, der uns gerade begegnet, momentan in einer schwierigen Lage sein könnte.

»Eine Frage, die die Bürger momentan am meisten bewegt, sei, ob man jetzt langsam mal den Sommerurlaub buchen könne.«

Ich muss zugeben, dass mir gerade kein Land einfällt, in dem ich mich momentan sicherer fühlen würde als in Deutschland. Ich bin stolz darauf, wie unsere Regierung die aktuelle Lage meistert, und ich vertraue ihr. Gleichzeitig zeichnen sich für mich gerade gewisse Charakteristika unserer Gesellschaft ab. Für mein Empfinden sind die Deutschen sehr bequem und an ihre Komfortzone gewöhnt. Obwohl in unseren Nachbarländern dramatische Zustände herrschen und wir mit vergleichsweise sanften Maßnahmen konfrontiert sind, klagen Bürger ihre Grundrechte ein. Bereits nach wenigen Wochen liegt eine enorme Ungeduld in der Luft. Eine Frage, die laut der Mitarbeiterin einer Corona-Hotline die Bürger momentan am meisten bewegt, sei, ob man jetzt langsam mal den Sommerurlaub buchen könne.

Mir fällt auf, dass man in den Medien ständig Horrorszenarien aus dem Ausland sieht. Etwa Kühllaster voller Leichen in den USA. Oder Militärfahrzeuge, die die Toten in Italien abtransportieren. Kilometerlange Staus von Krankenwagen vor Kliniken in Russland. Wir sehen Bürgeraufstände in Südamerika, Menschen, die von Beamten angegriffen werden, weil sie sich nicht an die Ausgangssperre halten. Surreale Szenarien, aber nichts derart aus Deutschland. Wir sehen keine Särge, die Verstorbenen erscheinen nur als Zahl in der Statistik. Wir erfahren keine Details, kein Angehöriger kommt zu Wort. Wir sehen keine Bestattungen oder hören von überfüllten Krematorien. Was sich hinter den Toren deutscher Kliniken teilweise abspielt, erfährt man höchstens durch die sozialen Medien oder über Bekannte. Auf Twitter ergreifen Pflegepersonal, Ärzte und Angehörige das Wort. Eine Polizistin schreibt, sie habe in den letzten drei Schichten sechs erstickte Leichen gesehen und sei nervlich am Ende.

»Es fühlt sich an, als könne man uns Deutschen den Ernst der Lage nicht so richtig zumuten.«

Mir scheint es, als versuche man hier einen Balanceakt: Horrorszenarien aus dem Ausland, die uns warnen und neben denen die Situation im eigenen Land beschwichtigend und fast idyllisch wirkt. Es fühlt sich an, als könne man uns Deutschen den Ernst der Lage nicht so richtig zumuten. Wenn man mal die Großstädte Berlin, Köln und Hamburg ausklammert, dann halte ich den durchschnittlichen deutschen Bürger für anpassungsunfähig und skeptisch gegenüber jeglicher Veränderung.

Man kann es uns auch nicht verübeln, denn wir werden in so ein System hineingeboren. Alles ist hier durchstrukturiert, man weiß immer, mit welchem Anliegen man wo hinmuss. Manchmal ist die Penibilität der deutschen Bürokratie fast schon lächerlich. Was für manch einen freieren Geist einschränkend oder lästig erscheint, gibt anderen Menschen Sicherheit und Vertrauen. Und genau genommen ist es auch diese Ordnung, die die besten Voraussetzungen schafft, um so glimpflich wie möglich durch solche Zeiten zu kommen. Und das tun wir momentan.

»Vielleicht birgt diese Krise ja die Chance, dass wir wieder etwas mehr von dem begreifen, was wir sind.«

Vielleicht birgt diese Krise ja die Chance, dass wir wieder etwas mehr von dem begreifen, was wir sind: Individuen in einer Gemeinschaft, einzelne Teile eines großen Ganzen. Und das große Ganze brauchen wir. Wir müssen mitfühlen, aufeinander achten und mit uns selbst auch die Gemeinschaft schützen. Schwachstellen verschiedenster Systeme klaffen gerade wie offene Wunden und nun liegt es an uns allen, diese Wunden richtig zu schließen.

Vielleicht kann sich etwas in der Grundhaltung, mit der wir anderen Menschen in unserem Alltag begegnen, nachhaltig ändern. Vielleicht können wir auch in Zukunft etwas von dieser erhöhten Hilfsbereitschaft behalten und unser zugewonnenes Gemeinschaftsgefühl nicht wieder schwinden lassen. Vielleicht lernen wir, wieder etwas dankbarer zu sein, und nehmen den Wohlstand und die Sicherheit um uns herum mit mehr Achtsamkeit wahr.

Was mich betrifft, ist genau dieser Aspekt auch jener, der mein Leben mittelfristig bestimmt. Solange keine adäquate Behandlung möglich ist, gibt es immer noch die Vulnerablen unter uns. Wie lange werden die „anderen“ die freiwilligen Maßnahmen aus Solidarität zu uns einhalten? Ab wann wird die eigene Komfortzone dem Schutz der Risikopatienten vorgezogen?

Ich weiß es nicht, aber ich hoffe, dass der Gemeinschaftsgedanke bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs anhält. Mindestens. Besser wäre, wenn er noch viel, viel länger anhalten würde und wir irgendwann unseren Frieden mit dieser Krise machen könnten.