Interview — Rema

Der Auserwählte

Der nigerianische Sänger und Rapper Rema ist gerade einmal 19 Jahre alt, sorgt musikalisch aber schon für großes Aufsehen – nicht zuletzt dank der Hilfe von Michelle und Barack Obama, die seinen Song »Iron Man« zu ihren Lieblingen des Jahres 2019 gekürt haben.

16. Januar 2020 — MYP N° 27 »Heimat« — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotos: Nis Alps

Im Hause Obama ist es jeden Sommer gute Sitte, dass Barack, 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, zusammen mit seiner Frau Michelle eine Liste mit Songs veröffentlicht, die sie als ihre ganz persönlichen Favoriten des jeweiligen Jahres bezeichnen. Entsprechend Baracks Rang in der US-amerikanischen Präsidentenfolge – man ahnt es bereits – zählt die sogenannte „Summer Playlist“ 44 Positionen.

Mit dieser Aufzählung gewährt das prominente Ehepaar nicht nur alle zwölf Monate einen intimen Blick in sein musikalisches Seelenleben, sondern stellt der Weltöffentlichkeit auch immer wieder Künstlerinnen und Künstler vor, von denen das Gros der Menschen bis dato noch nicht allzu viel gehört hatte. Ein präsidialer Geheimtipp mit größtmöglicher Reichweite sozusagen.

Als es im August 2019 für die Obamas wieder an der Zeit war, ihre Playlist zu verkünden, fand sich auf Platz 42 das Stück „Iron Man“. Interpret: ein gewisser Rema. Nie gehört?

Das sollte dringend nachgeholt werden, denn der 19-jährige Nigerianer, der mit bürgerlichem Namen Divine Ikubor heißt, verbindet auf spannende Art und Weise amerikanische Trap-Musik mit dem Afrobeat seiner Heimat. Sein Sound – und das ist das wirklich Besondere – kommt dabei gleichzeitig sorglos und melancholisch daher, ist ebenso lebendig wie nachdenklich, kann laut und im selben Moment sehr, sehr leise sein. Die Obamas hatten also keinen schlechten Riecher.

Aufgewachsen ist Rema in Benin City, an seiner musikalischen Karriere feilte er schon früh: Im Alter von elf Jahren spielte er in zwei Bands, mit 14 wurde er zum „Rap Nation Leader“ seiner Kirchengemeinde gekürt. Über Instagram wurde Anfang 2019 Afropop-Größe D’Prince auf Rema aufmerksam und nahm ihn unter seine musikalischen Fittiche. Wenige Monate später folgte dann die digitale Adelung durch die Obamas.

Ein echtes Glückskind? Das könnte man so sehen, wären da nicht die schweren Schicksalsschläge, denen sich dieser so talentierte Musiker bereits in jungen Jahren stellen musste. Als Rema acht war, verlor er seinen Vater, sieben Jahre später starb sein älterer Bruder. Ab diesem Moment musste sich Rema ganz alleine um seine Familie kümmern, da war er gerade 15.

Viel Licht und viel Schatten also für dieses noch so junge Leben – vielleicht die beste Voraussetzung, um daraus Musik zu machen. In Berlin haben wir Rema zum Interview getroffen.

»Ich würde nie einer Musik den Rücken zukehren, mit der ich aufgewachsen bin.«

Jonas:
Du bist mit dem Sound von Afrobeat aufgewachsen – ein Musikstil, der in Nigeria allgegenwärtig ist und zum Leben der Menschen gehört. Allerdings wolltest Du selbst nie diese Musik machen. Was ist der Grund dafür? Hattest du das Gefühl, dass es an der Zeit ist, in Deinem Land mit alten Mustern und Gewohnheiten zu brechen?

Rema:
Ich würde nie einer Musik den Rücken zukehren, mit der ich aufgewachsen bin! Ich glaube, dass jeder afrikanische Musiker den Vibe seiner Heimat so tief in sich trägt, dass er ihn gar nicht abschütteln könnte. Das ist meiner Meinung nach auch gar nicht das Ziel. Es geht vielmehr darum, diese Musik – diesen Musikstil – weiterzuentwickeln und dafür eine ganz individuelle Form zu finden. So jedenfalls verstehe ich meine eigene Rolle als junger nigerianischer Musiker und ich glaube, dass viele andere Vertreter meiner Generation eine ähnliche Rolle für sich gefunden haben. Dieses Mindset unterscheidet uns von all denen, die aus Prinzip immer beim Alten bleiben wollen.

»Eine gute Melodie ist attraktiv für alle Ohren, egal welche kulturellen Unterschiede es gibt.«

Jonas:
Deine Musik fühlt sich auf der einen Seite sehr lebendig und energetisch an, auf der anderen Seite schwingt in Deinen Liedern immer eine gewisse Melancholie mit. Das Video zu dem Song „Dumebi“ verdeutlicht das nochmal auf eine besondere Art und Weise: Zu sehen ist eine Gruppe nigerianischer Teenager, die in einem alten Bus unterwegs sind und eine gute Zeit miteinander haben. Begleitet wird diese sorgenfreie Ausgelassenheit von einem kraftvollen, aber dennoch leicht schwermütigen und introvertierten Sound. Braucht es für Dich beide Gefühlswelten, um Deine Musik authentisch erscheinen zu lassen?

Rema:
Ich habe es noch nie verstanden, wenn Musiker die gesamten drei Minuten eines Songs ausschließlich mit einer fröhlichen Melodie bespielen – oder mit einer traurigen. Warum muss ein Lied ausschließlich happy sein oder ausschließlich traurig? Meine Philosophie ist es, beide Emotionen in einem einzigen Song zusammenführen und miteinander zu vermischen. So gibt es in meinen Liedern Melodien, die dich gleichzeitig hoch- und runterziehen. Die meisten Musiker, die ich kenne, tun das mit Hilfe die Lyrics: lustige Melodie, trauriger Text, zum Beispiel. Oder umgekehrt. Aber was, wenn nicht jeder Mensch den Text versteht? Ich persönlich will das alleine über die Melodie schaffen. Eine gute Melodie erreicht gleichzeitig den Kopf und das Herz eines Menschen, eine gute Melodie ist attraktiv für alle Ohren, egal welche kulturellen Unterschiede es gibt. Das macht Musik wirklich mächtig. Als ich das verstanden habe, hat es fundamental den Prozess verändert, wie ich einen Song kreiere. Für mich ist es extrem interessant zu sehen, wie meine Musik Gefallen bei Menschen findet, die die Lyrics nicht verstehen.

»Ich kann mein Innerstes nicht von der Welt da draußen separieren.«

Jonas:
Trotzdem spielen auch in Deinen Songs die Lyrics keine unwichtige Rolle, man kann dort eine ähnliche Ambivalenz wie bei den Melodien heraushören: Auf der einen Seite sprichst Du in Deinen Texten über ganz persönliche Erfahrungen und Gefühle, auf der anderen Seite bringst Du wichtige gesellschaftliche Themen auf den Tisch – und verknüpfst sogar beides miteinander. Ist dies eine bewusste textliche Konstruktion oder einfach so passiert?

Rema:
Ich neige dazu, meine Musik mit allen möglichen Inhalten zu mixen. In meinem Song „Rewind“ beispielsweise spreche ich im ersten Teil über die vielen Probleme, mit denen Nigeria zu kämpfen hat, aber dann switche ich zu einer persönlichen Story über ein Mädchen, die ich unbedingt erzählen wollte. Beides gehört zu mir, beides beschäftigt mich, beides lässt mich leiden. Daher kann ich gar nicht anders, als meine Songs allein auf Basis meiner ganz individuellen Erlebnisse und meines persönlichen Verständnisses der Welt zu kreieren. So passiert es ganz automatisch, dass die Hörer am Ende des Songs das Gefühl haben, zwei Messages erhalten zu haben. Für mich selbst dagegen ist es immer nur ein einziges, mächtiges Gefühl, das ich zu erzählen habe, denn ich kann mein Innerstes nicht von der Welt da draußen separieren. Für mich ist Musik ohnehin immer dann am authentischsten, wenn es ihr gelingt, beide Gefühlswelten zu kombinieren – die innere und die äußere.

»Ich bin immer noch absolut überrascht davon, wie sich alles entwickelt hat.«

Jonas:
Du bist erst 19 Jahre alt, hast aber schon sehr viele außergewöhnliche Situationen in Deinem jungen Leben erlebt, negative wie positive. Einerseits hast Du bereits früh Deinen Vater und Deinen Bruder verloren, andererseits wurdest Du von einem bekannten Produzenten auf Instagram entdeckt und hast innerhalb kürzester Zeit eine beachtliche Karriere hingelegt – nicht zuletzt mit der indirekten Hilfe von Michelle und Barack Obama, die einen Deiner Songs auf ihre berühmte „Summer Playlist“ gepackt haben. Würdest Du dich als einen Menschen beschreiben, der eher Glück hatte im Leben? Oder überwiegt in Deiner Vita das Unglück?

Rema:
Ich bin wirklich gesegnet mit dem, was ich habe. Und ich bin immer noch absolut überrascht davon, wie sich alles entwickelt hat, vor allem in den letzten Monaten. Es ist noch nicht einmal ein Jahr her, dass ich meine ersten Songs veröffentlicht habe, und ich bin bereits jetzt so unendlich weit gekommen. Ich denke da an die vielen Bühnen, auf denen ich spiele, oder die Menge an Menschen, die ich mit meiner Musik erreiche. Das ist eine große Gnade, die mir zuteilwurde. Alles ist gut in meinem Leben.

»Für mich fühlt es sich so an, als sei ich ein Samen, den Gott auf fruchtbaren Boden gesetzt hat.«

Jonas:
Bist Du eine „What if“-Persönlichkeit? Denkst Du darüber nach, wie sich Dein Leben entwickelt hätte, wenn Du nicht auf Instagram entdeckt worden wärst? Wenn Dich die Obamas nicht auf ihre Playlist gepackt hätten? Wenn Vater und Bruder nicht so früh von Dir gegangen wären?

Rema:
Oh ja! Ich denke darüber sehr, sehr oft nach und gehe in Gedanken immer wieder die Ereigniskette von hinten nach vorne durch, Stück für Stück. Daher habe ich eben auch ganz bewusst gesagt, dass ich mich in meinem Leben gesegnet fühle. Ich glaube an Gott und bete viel. Für mich fühlt es sich so an, als sei ich ein Samen, den Gott auf fruchtbaren Boden gesetzt hat. Und jetzt sieht er dabei zu, wie sich aus dem Samen eine kleine Pflanze entwickelt, die immer größer wird.

Jonas:
Und was wäre gewesen, wenn es diesen fruchtbaren Boden nicht gegeben hätte?

Rema:
Mein Umfeld und die Umstände, in denen ich in Benin City aufgewachsen bin, haben mir nicht wirklich die Energie geben können, um all das zu tun, was ich in den letzten Monaten getan habe. Ich habe mich mehr und mehr ausgelaugt gefühlt und war kurz davor, depressiv zu werden. Aber dann passierten all die positiven Ereignisse – und Gottes Gnade zog mich aus dieser Situation heraus.

»Ich war plötzlich der einzige Mann in der Familie.«

Jonas:
Den eigenen Vater sowie den Bruder zu verlieren, gehört wohl zum Härtesten, was ein Mensch ertragen muss. Was hat Dir damals die Kraft gegeben, weiterzuleben und nicht aufzugeben?

Rema:
Ich war plötzlich der einzige Mann in der Familie und musste für meine Mutter und meine Schwestern da sein. Das hat mir auf sehr brachiale Art und Weise die Augen geöffnet und mir gezeigt, dass das Leben kein Spiel ist. Ich glaube, in dieser Zeit bin ich auch sehr spirituell geworden und meine Einstellung zum Leben hat sich völlig verändert. Damals habe ich mich gefragt, warum ich der einzige Mann in meiner Familie war, den der liebe Gott nicht zu sich geholt hat, und kam zu dem Schluss, dass er mir damit wohl eine besondere Aufgabe geben wollte. Ich habe mich entschieden, doppelt so hart zu arbeiten wie vorher, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Und hier sitze ich nun.

»Wer kennt schon diese Drei-Millionen-Stadt irgendwo in Nigeria?«

Jonas:
Interessanterweise hast Du in unserem Gespräch öfter das Wort Gnade benutzt, das auch in den Reden von Barack Obama immer wieder zu hören war. Wie hast du herausgefunden, dass der 44. Präsident der USA Deinen Song „Iron Man“ auf seine „Summer Playlist“ gepackt und Dich damit einer Weltöffentlichkeit vorgestellt hatte?

Rema:
Ich kam gerade von einer Reise aus Tansania zurück und mein damaliger Boss schickte mir den Link. Ich war total überrascht – und wurde gleichzeitig auch ziemlich still. Ich weiß noch, dass ich mich im ersten Moment gar nicht für mich selbst gefreut hatte, sondern für meine Stadt Benin City, der dadurch endlich mal eine gewisse Aufmerksamkeit zuteilwurde. Wer kennt schon diese Drei-Millionen-Stadt irgendwo in Nigeria?
Ganz davon abgesehen war ich zutiefst dankbar für die Wahl, die Michelle und Barack Obama getroffen hatten – auch weil „Iron Man“ ein eher sonderbarer Song ist, den man nicht so einfach versteht, wenn man aus einem völlig anderen Kulturkreis stammt. Das fand ich wirklich groß von den beiden und hat mich sehr bewegt. In den darauffolgenden Tagen schossen mir eine Menge Gedanken durch den Kopf und ich habe mich gefragt, was das wohl für mich und meine Leben bedeuten würde. Ich dachte: Wenn die Obamas meine Musik hören können, dann gibt es niemanden mehr auf der Welt, den ich nicht erreichen kann.

Jonas:
Das Pitchfork Magazine hat ein Interview mit Dir aus dem Juni 2019 mit folgenden Worten betitelt: „Rema Is Leading the Next Generation of Nigerian Pop.“ Verstehst du diesen Satz als Kompliment? Oder fühlt sich so eine Zuschreibung eher wie eine Bürde an?

Rema:
Das ist ein Kompliment, ganz klar! Gleichzeitig habe ich aber auch an jedem Tag, an dem ich aufstehe, das Gefühl, dass ich heute etwas erreichen muss – etwas Großes. Jeder in meinem Team nennt mich etwas scherzhaft „The chosen one“, dem versuche ich gerecht zu werden…

»Ich suche weder Ruhm noch Ehre, denn all das gebührt nur Gott.«

Jonas:
Das kann einem aber schnell zu Kopf steigen.

Rema (lacht):
Ich weiß, keine Sorge! Wie immer man mich auch nennt, ich lasse es nicht in meinem Kopf. Und wenn die Bezeichnung „The chosen one“ überhaupt irgendeine Gültigkeit hat, dann nur für die Art von Musik, die ich mache – und für die Reise, auf die ich mich dafür begebe. Ich suche weder Ruhm noch Ehre, denn all das gebührt ohnehin nur Gott. Ich bin ein junger Typ, der Musik macht, nichts weiter. Das Einzige, was ich will, ist meinen Sound irgendwie mit der Welt zu teilen und ihr ein bisschen mehr über das Land zu erzählen, aus dem ich komme.

»Ich sehe mich als Botschafter der jungen Generation in meinem Land.«

Jonas:
Siehst Du dich als eine Art Botschafter?

Rema:
Ja, aber weniger für Nigeria im Allgemeinen. Ich sehe mich eher als Botschafter der jungen Generation in meinem Land. Es wäre doch toll, wenn sich andere junge Menschen, die ihre Hoffnung verloren haben, ein wenig von meiner Geschichte und meiner Musik inspiriert fühlten und dadurch neuen Mut finden könnten. In meinem Song „Bad Commando“ übrigens beschreibe ich die Rolle, in der ich mich sehe, ganz genau: Ich bin ein einzelner Soldat in der großen Armee all derer, die in Nigeria für eine bessere Zukunft kämpfen. Nur dass ich in einer Disziplin antrete, in der ich am besten bin: der Musik.