Interview — Alina

Kehrseite der Einsamkeit

Sechs Jahre lang hat Alina an ihrem Debut-Album „Die Einzige“ geschrieben, jetzt ist es endlich da. In ihren Liedern erzählt sie schonungslos offen von Selbstzweifeln, Enttäuschungen und der Angst vor Einsamkeit. Dabei ist ihr mit Abstand wichtigster Song beim Wäschewaschen entstanden.

24. Oktober 2017 — MYP N° 21 »Ekstase« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

„CM 7151“ ist ein wahrer Schatz. Das elegante Mikrofon, das zu DDR-Zeiten im RFT Funkwerk Leipzig entwickelt und gefertigt wurde, gilt heute als echte Rarität – vor allem, wenn es mit „M7“ kombiniert ist, einer ebenso eleganten Mikrofonkapsel aus dem Hause Georg Neumann. In tadellosem Zustand bringen es die beiden Klassiker auf einen Wert, der vergleichbar ist mit dem Kaufpreis eines Kleinwagens.

Zu den Wenigen, die einen solchen Schatz besitzen, gehören die Betreiber der Berliner Noize Fabrik. Ihr fast neuwertiges „CM 7151“ steht zusammen mit „M7“ in ihrem sogenannten „Live Room“, einem kleinen Aufnahmestudio, das man stundenweise mieten kann. Das Besondere am „Live Room“ ist die vollverglaste Wand, die es Musikern erlaubt, ihre Recordings auch für Publikum zu öffnen und damit eine ganz besondere, fast intime Nähe herzustellen. Studio-Session und Live-Auftritt – zur selben Zeit und aus einer Box. So nahbar lässt sich Musik in Szene setzen.

Die Musik, um die es heute geht, ist die von Alina. Die junge Künstlerin, die aus Konstanz am Bodensee stammt und mittlerweile in Berlin lebt, hat bereits vor sechs Jahren damit begonnen, an ihrem Debüt-Album zu schreiben. Die Platte, die am 20. Oktober das Licht der Welt erblickt hat, trägt den Titel „Die Einzige“: In sehr emotionalen und persönlichen Songs legt die Musikerin das Innerste ihrer Seele offen. Dabei singt sie von Selbstzweifeln, Enttäuschungen und Angst vor Einsamkeit.

Diese Themen haben sich im Laufe der Jahrzehnte auch in das Gedächtnis von „CM 7151“ und „M7“ gebrannt. Wie viele Stimmen es wohl waren, die ihre Versionen von Glück und von Trauer, von Liebe und von Einsamkeit, von Hoffnung und von Schmerz in die elegante Mikrofoneinheit gesungen haben?

Ansehen kann man es ihnen nicht. Die beiden Geräte wirken noch immer so frisch, als hätten sie das Wissen um die Widrigkeiten des Lebens nie als schwere Last begriffen – eher als eine nützliche Erfahrung, die ihnen den Rücken stärkt und sie für die Zukunft rüstet. Ob das bei Alina ähnlich ist? Wir bitten sie im „Live Room“ zum Gespräch.

Jonas:
Vor vier Jahren hast du in unserem Magazin einen selbst verfassten Artikel zum Thema „Meine Stille“ veröffentlicht. Der Text trägt die Überschrift „Innerlich laut“, es finden sich darin Sätze wie „Meine Stille ist wie ein wild gewordenes Kind“, „Meine Stille macht mir Angst“, „Meine Stille ist eine Illusion“ oder „Wenn ich still bin, bin ich tot.“ Stehst du mit der Stille immer noch auf Kriegsfuß? Oder hast du mit ihr mittlerweile deinen Frieden gemacht?

Alina:
Für mich ist Stille immer noch etwas, das in meinem Leben nicht so einfach um die Ecke kommt. Aber im Vergleich zu damals suche ich die Stille heute viel bewusster, viel aktiver: Je lauter es um mich herum wird, desto mehr suche ich die innerliche Stille.

Jonas:
Würdest du sagen, dass du nach außen hin lauter geworden bist?

Alina:
Wenn man die Frage auf meine öffentliche Sichtbarkeit als Künstlerin bezieht, würde ich sagen ja. Ich glaube aber, dass ich als Mensch – in meiner extrovertierten Art – eher ruhiger geworden bin. Ich merke einfach, dass meine Energie begrenzt ist. Mit den Jahren entwickelt man ja auch ein immer besseres Feingefühl für sich selbst.

Jonas:
Du hast in deinem Artikel damals sehr stark mit Sprache gespielt und viel von deinem Innersten preisgegeben. Diese schonungslose Offenheit findet man auch in den Texten deiner Songs. Nicht viele Menschen sind in der Lage, sich gegenüber anderen so zu öffnen, vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Fühlst du dich dadurch nicht sehr angreifbar und geradezu nackt?

Vielleicht bin ich auch so offen, um meine eigenen inneren Konflikte und meine Traurigkeit zu lösen und in Musik umzuwandeln – um mich gewissermaßen davon zu heilen.

Alina:
Auch für mich gibt es solche Momente, in denen ich das Gefühl habe: Das kann ich eigentlich nicht. Aber unterm Strich ist das für mich die einzige Art und Weise, Musik zu machen – Musik, die für mich selbst interessant ist und einen Anspruch hat. Mit dieser Art von Musik kann ich erzählen, dass das innerlich Wahrhaftige auch äußerlich wahrhaftig ist. Für mich ist das die beste Möglichkeit, mit anderen Menschen eine Verbindung herzustellen und zu erreichen, dass sie sich verstanden fühlen. Das ist das Ziel jedes einzelnen Songs von mir.
Vielleicht bin ich auch so offen, um meine eigenen inneren Konflikte und meine Traurigkeit zu lösen und in Musik umzuwandeln – um mich gewissermaßen davon zu heilen. Ich würde mit diesem eigennützigen Vorhaben aber nicht auf die Bühne gehen, wenn ich nicht auch der festen Überzeugung wäre, dass meine Musik den Menschen eine Möglichkeit gibt, sich in bestimmte Situationen und Gefühlszustände hineinzuversetzen.

Jonas:
Wie hast du gelernt, so offen durchs Leben zu gehen? Ist das etwas, was man von zu Hause mitbekommt, oder hast du dir diese Eigenschaft im Laufe der Jahre antrainiert?

Alina:
Ich glaube, das habe ich von meiner Oma. Als Kind ist sie nach dem Krieg aus Danzig vertrieben worden und in ein kleines Dorf im Schwarzwald geflohen. Noch heute weist sie ausdrücklich darauf hin, dass sie dort eigentlich nicht hingehört, sondern in eine Großstadt. Meine Oma hat schon immer das Herz auf der Zunge getragen und sagt einfach gerade heraus, was sie denkt. Diese Direktheit habe ich definitiv von ihr.
Was meine Musik angeht, hat es durchaus einige Jahre gedauert, bis ich mir dort diese Offenheit und Direktheit zugetraut habe. Diesen krassen Zugang zu meiner Seele hätte ich vom ersten Tag an nicht so einfach legen können.

Jonas:
Dafür kann es heute passieren, dass du mit deiner Musik andere Menschen dazu ermutigst, auch eine gewisse Offenheit zu entwickeln und mehr von ihren Gefühlen preiszugeben. Erinnerst du dich selbst an Musik, die für dich im Laufe deines Lebens eine solche Mutmacher-Funktion hatte?

Am stärksten berührt ist man ja, wenn man etwas hört, das man selbst in gleicher Weise erlebt hat – und sich dadurch total verstanden fühlt.

Alina:
Ja, immer! Es gibt zwar nicht den einen Künstler oder das eine Lied, das beispielhaft dafür stehen würde, aber Musik hat mir immer etwas erzählt und hat mich immer vorausblicken und erahnen lassen, welche Dinge vielleicht auch in meinem Leben passieren können.
Am stärksten berührt ist man ja, wenn man etwas hört, das man selbst in gleicher Weise erlebt hat – und sich dadurch total verstanden fühlt. Dann bricht plötzlich der Damm! Dieser Moment ist es, den ich auch selbst immer versuche einzufangen: Bei meiner Musik will ich mich und den Zuhörer so erwischen, dass zwischen uns eine Verbindung entsteht. Und wenn mir dann jemand nach einem Konzert sagt: „Du, ich war in Tränen aufgelöst!“, ist es das größte Kompliment, das man mir machen kann.

Jonas:
Vor ein paar Tagen habe ich mal in der Timeline deiner offiziellen Facebook-Seite gestöbert und bin auf ein Foto gestoßen, das dich mit einem T-Shirt von Guns n’ Roses zeigt. Sofort hatte ich wieder die 90er Jahre vor Augen und in den Ohren. Ist Guns n’ Roses eine Band, die dich in deiner Kindheit und Jugend musikalisch sozialisiert hat?

Alina:
In den 90ern hat mich wirklich sehr viel Musik gecatcht. Damals war ich wahnsinnig aufnahmefähig und habe mich quer durch alle Genres gehört: von Nirvana über Aaliyah und Eminem bis zu Blümchen – kein Scherz! Ich habe alles aufgesogen, was es um mich herum gab. Bis heute hat sich das eigentlich auch nicht verändert, musikalisch bin ich gegenüber allem nach wie vor sehr offen.
Besonders haben es mir in meinem Leben aber die großen Diven angetan: Whitney Houston, Celine Dion – für mich war es immer schon außergewöhnlich, was diese Frauen mit ihrer Stimme anstellen können und wie toll sie ihre Musik inszenieren. Ich mag einfach das große Drama! Eine meiner größten Inspirationen ist dabei Mariah Carey, die ich bereits Anfang der 90er für mich entdeckt habe und bis heute liebe. Sie und ihre Musik haben mich extrem geprägt.

Jonas:
Wenn man in der deutschsprachigen Musik nach solchen Diven sucht, wird man am ehesten in den 1950er und 60er Jahren fündig. In der jüngeren deutschen Musikgeschichte scheint diese Art von Künstlerin völlig ausgestorben zu sein.

Frauen wie Hildegard Knef, Marlene Dietrich oder Zarah Leander waren nicht nur schön: Das Faszinierende an ihnen ist, auch heute noch, dass sie so selbstbestimmt waren.

Alina:
Ja, das stimmt. Ich erinnere mich zum Beispiel an Alexandra, eine deutsche Sängerin aus den Sechzigern, deren Musik ich als Kind sehr viel gehört habe. Ich weiß aber nicht, ob man sie wirklich als Diva bezeichnen kann. Aus dieser Zeit fallen mir viel eher Persönlichkeiten wie Hildegard Knef, Marlene Dietrich oder Zarah Leander ein. Diese Künstlerinnen habe ich erst Ende der 90er für mich entdeckt und mich dann intensiv mit ihnen beschäftigt. Diese Frauen waren nicht nur schön: Das Faszinierende an ihnen ist, auch heute noch, dass sie so selbstbestimmt waren – und das zu einer Zeit, in der das alles andere als selbstverständlich war. Sie waren ihrer Zeit weit voraus und hatten dadurch sehr bewegte Leben, dramatische Leben. Dadurch hatten sie wirklich etwas zu erzählen, nicht nur in ihrer Musik.

Jonas:
Was glaubst du, warum sind diese Diven in der deutschsprachigen Musik nach und nach verschwunden?

Alina:
Ich weiß es nicht. Aber diese Frage beschäftigt mich sehr, auch weil ich in den letzten Jahren immer wieder nach solchen Rollenbildern gesucht habe. Eine Ute Lemper beispielsweise, die ich durchaus als Diva bezeichnen würde, hat sich aus Deutschland zurückgezogen, weil ihre Art hier einfach nicht ankam – sie wurde in ihrer Divenhaftigkeit nicht akzeptiert. Vielleicht ist es daher einfach mal wieder Zeit für eine deutsche Diva. (Alina lächelt)

Jonas:
Vielleicht hatte man in Deutschland auch einfach jahrzehntelang Angst vor selbstbewussten Frauen.

Alina:
Ich hoffe nicht. Aber das wäre auf jeden Fall eine Erklärung.

Jonas:
Eine Diva wird man nicht von heute auf morgen, das braucht einen langen Anlauf. Wann in deinem Leben wusstest du, dass du Musik machen willst?

Eine ältere Dame streckte mir einen Kinderriegel ins Gesicht und sagte: »Das hast du ganz toll gemacht.«

Alina:
Rückblickend habe ich das schon immer irgendwo tief in mir drin gewusst und eine besondere Faszination für Musik verspürt. Ich erinnere mich an zwei Schlüsselmomente in meiner Kindheit, die aus heutiger Sicht ein Hinweis darauf waren, welche Richtung mein Leben einmal einschlagen wird.
Der erste Moment bezieht sich auf eine Situation, als ich etwa vier Jahre alt war. Meine Eltern hatten sich gerade mit einem kleinen Bürofachhandel selbstständig gemacht und ein Ladenlokal übernommen. Während sie damit beschäftigt waren, den Laden zu renovieren, saß ich alleine im Treppenhaus direkt nebenan. Ich war so gelangweilt, dass ich angefangen habe, irgendwelche Laute von mir zu geben. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich meine Stimme in einem Raum wahrgenommen und den Hall gespürt! Das hat mich total in Trance versetzt und begeistert. Ich weiß noch, wie ich da auf der Treppe saß, immer wieder neue Melodien erfand und nach und nach merkte, welche Kraft meine Stimme hat. Irgendwann – ich hatte mich so richtig verloren in meiner Welt – tippte mir jemand auf die Schulter. Eine ältere Dame, die ebenfalls in dem Haus wohnte, streckte mir einen Kinderriegel ins Gesicht und sagte: „Das hast du ganz toll gemacht.“

(Alina lacht)

Schlüsselmoment Nummer zwei ereignete sich kurze Zeit später, als ich mit meiner Familie eine Vorstellung von „Das Phantom der Oper“ in Basel besuchen durfte. Anne-Marie Kaufmann spielte damals eine der Hauptrollen – schon wieder eine starke Frau. Ich war total geplättet: diese Musik, diese Opulenz, dieses Drama! Noch vor Ort kaufte mir mein Vater die Musical-CD, die in den nächsten Wochen ständig bei uns lief. Sobald die CD eingelegt war, habe ich performt, auch im Ladenlokal. Das war für die Kunden, die in unseren kleinen Bürobedarf-Laden reinkamen, immer ein Highlight. Es gibt da diese eine berühmte Arie, in der die Stimme immer höher und höher wird – diese Arie konnte ich mitsingen! Und zwar bis zum höchsten Ton.

Jonas:
Du bist dann aber nicht als Kinderstar durchgestartet, sondern hast ganz klassisch studiert: Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften an der Uni Konstanz – mit Nebenfach Verwaltungswissenschaften.

Alina:
Oh Gott, ich habe keine Ahnung, wie ich die Prüfung in diesem Nebenfach geschafft habe. Den Studiengang habe ich mir hauptsächlich wegen der Medienwissenschaften ausgesucht, Literatur und Kunst haben mich am Anfang eher weniger interessiert. Dann wollte es das Schicksal aber so, dass mein Literatur-Professor irgendwie auf mich aufmerksam wurde und mich fragte, ob ich als Tutorin arbeiten möchte – im Fach „Einführung der Literaturwissenschaften I“. Ich habe einfach ja gesagt und im nächsten Moment gedacht: Um Gottes Willen, was hast du dir da eingebrockt? Vor anderen Menschen zu reden und Vorträge zu halten, das war für mich eine absolute Horrorvorstellung. Aus heutiger Perspektive war das aber eine sehr gute Schule: Nachdem ich mir den Stoff draufgeschafft hatte, war es supercool, mit und vor den Studenten zu reden. Das hat mir bis heute Einiges gebracht.

Jonas:
Mitte Juni hast du auf Facebook einen Post veröffentlicht, in dem es heißt: „Das Schicksal hat mich vor fünf Jahren nach Berlin gebracht, meine Stadt aus Gold.“ Was genau hast du damit gemeint? Was in deinem Leben war damals so schicksalhaft?

Ich habe mich irgendwie wie ein Kind gefühlt, das keine Berührungsängste hat – als Kind war ich furchtlos, auch auf der Bühne.

Alina:
Es gab in meinem Leben nicht diesen einen Schicksalsschlag, sondern eher ein großes Erwachen. Die Geschichte fängt damit an, dass ich vor etlichen Jahren in Konstanz nach einer Location für meine Geburtstagsparty gesucht habe und per Zufall an eine Künstlergruppe geraten bin. Diese Gruppe bestand aus Schauspielern, Musikern, Designern und Kreativen aus aller Welt, die unter anderem ein eigenes Theaterstück auf die Beine gestellt hatten und in der besagten Location regelmäßig spontane Konzerte und Jam-Sessions abhielten – so auch an dem Abend, an dem ich dort mal vorbeigeschaut habe, um die Räumlichkeiten für meine Party zu begutachten. Plötzlich fand ich mich inmitten eines kleinen Jazz-Konzerts wieder. Aus dem Publikum heraus habe ich spontan mitgesungen – und als die Band das mitbekommen hat, hieß es kurzerhand: „Sing du doch mal und komm nach vorne!“
Bis zu diesem Moment hätte ich mir nie vorstellen können, einfach so auf die Bühne zu gehen und zu improvisieren, ohne mir vorher den Text anzueignen oder den Song einzuüben – ich war eine Person, die immer akkurat vorbereitet sein musste. Dementsprechend war das ein großes Aha-Erlebnis für mich, ich hatte das Gefühl, als wäre in mir eine riesige Tür aufgegangen. Die positive Reaktion der Leute, die Euphorie, das Glücksgefühl – es war so wunderschön, sich einfach in diesen Moment fallen zu lassen.
An dem Abend habe ich mich irgendwie wie ein Kind gefühlt, das keine Berührungsängste hat – als Kind war ich furchtlos, auch auf der Bühne. Als ich dieses besondere, überwältigende Kindheitsgefühl gespürt habe, habe ich mit jeder Zelle meines Körpers gewusst: Musik ist genau das, was ich machen will in meinem Leben. Denn eigentlich war Musik schon immer meine größte Kraft und meine größte Leidenschaft. In meinem Studium fühlte ich mich eh irgendwie verloren, alles dort hatte mich nur noch so ein bisschen interessiert. Und so war klar: Es ist die Musik. Also machen wir Musik!
In den folgenden Wochen und Monaten habe ich zusammen mit einigen Straßenmusikern überall in Konstanz Musik gemacht, das war eine tolle Zeit. Ich habe dann relativ schnell herausgefunden, dass die Popakademie in Mannheim ein Ort wäre, der mich interessieren könnte und wo ich mich gerne bewerben möchte. Also habe ich angefangen, auf diese eine Bewerbung hinzuarbeiten: Ein ganzes Jahr lang habe ich nichts anderes getan, als Songs zu schreiben, diese in Eigenregie aufzunehmen, eine Band zu organisieren oder Videos zu drehen. Am Ende hat sich die Mühe gelohnt, ich wurde angenommen – Gott sei Dank, denn einen alternativen Plan hatte ich nicht in der Tasche. Ich würde sagen, das war die Geburtsstunde meines Weges.
Drei Jahre später hatte ich schon wieder das Gefühl, dass ich weiterziehen muss – und irgendetwas tief in meinem Inneren sagte mir, dass ich nach Berlin gehen sollte. Dieses Gefühl hat sich absolut richtig angefühlt, also habe ich in Mannheim alle Zelte abgerissen und bin schließlich vor fünf Jahren nach Berlin gezogen.

Jonas:
Du hast für deine Musik einen sehr individuellen und prägnanten Stil entwickelt. Hattest du vom ersten Tag an eine konkrete Idee davon, in welche Richtung du mit deiner Musik willst? Oder hat sich dieser Stil erst im Laufe der Jahre ergeben?

Es ist wichtig herauszufinden, was man nicht will. Man kommt schneller ans Ziel, wenn man Dinge für sich ausschließen kann.

Alina:
Für einen Künstler ist es die größte Herausforderung, Antworten auf bestimmte Fragen zu finden, wie zum Beispiel: Wie klingt meine Stimme? Was ist mein Sound? Welche ist meine Sprache? Welche Geschichten erzähle ich mit meiner Musik? Auch für mich war es das große Ziel, das Musikalische herauszufiltern und meine eigene Identität zu finden – und zwar in dem Moment, in dem ich mich entschlossen habe, Musik zu machen, und an der Popakademie angenommen wurde. Dementsprechend hat sich mein Stil mit der Zeit erst entwickelt.
Rückblickend kann ich sagen, dass es bei einem solchen Findungsprozess wichtig ist, sehr viel auszuprobieren – und vor allem herauszufinden, was man nicht will. Man kommt schneller ans Ziel, wenn man Dinge für sich ausschließen kann. Wenn man sagen kann: Das gefällt mir nicht, das bin ich nicht.

Jonas:
Wie etwa auf Englisch zu singen?

Alina:
Ja, genau. Ich habe bis vor sechs, sieben Jahren nur auf Englisch gesungen, bis ich mich schließlich im Deutschen gefunden habe. Diese Reise zu gehen, hat mir vor allem die Popakademie ermöglicht. Ich habe dort herausgefunden, dass ich im Englischen sprachlich eher so lala bin und dazu keine wirkliche Verbindung herstellen kann. Im Deutschen, meiner Muttersprache, gelingt mir das viel besser: Mit dieser Sprache kann ich alles bauen und alles genauso sagen, wie ich es will. Ich glaube, das war noch so ein Schlüsselmoment in meinem Leben.
In all den Jahren zuvor hatte ich verschiedenste Genres ausprobiert und irgendwie versucht diese zu erfühlen. Ich hatte Jazz gesungen, mich in die Klassik begeben und mich mit Hip-Hop, RnB und Soul auseinandergesetzt. Aber nie konnte ich eine echte Verbindung aufbauen.
Für mich war es eine krasse Erfahrung, dass meine Musik im Deutschen auf einmal eine ganz andere Farbe hatte, stimmlich wie inhaltlich. Das erste Lied, das ich dann auf Deutsch geschrieben habe, war der Song „Kind sein“. Dieses Lied hat den Grundstein gelegt für die Identität, die ich heute als Künstlerin habe, und war für mich wie ein Geschenk: Der Song sprudelte plötzlich aus mir heraus, als ich mit verschiedenen Sounds herumprobiert habe und über ein Celeste-Thema gestolpert bin, das mich sehr stark an meine Kindheit erinnert hat und mich nicht mehr loslassen wollte.
Ich dachte nur: Wow, wo kommt das denn her? Welche Seite von mir ist das? Und warum fühlt es sich so richtig an? Während mir in meinen ersten Jahren an der Popakademie noch nichts so richtig gelingen wollte, wusste ich mit diesem Song genau, wohin ich will. Von da an hat es ziemlich genau sechs Jahre bis zur Fertigstellung meines ersten Albums gedauert.

Jonas:
Dein Album trägt den Titel „Die Einzige“ und ist nach dem gleichnamigen Song benannt, der wohl der schonungsloseste und intimste auf der ganzen Platte ist: Du besingst darin das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und erzählst von der Angst, ein Leben lang alleine zu bleiben. Wie ist dieses Lied entstanden?

Alina:
Vor knapp zwei Jahren hatte ich geplant, eine eigene EP herauszubringen – zusammen mit dem kleinen Label meines Managements, auf dem ich damals gesignt war. Den Showcase, den wir dazu veranstaltet haben, hat sich auch Tom Bohne angesehen, der President of Music bei Universal Music Deutschland ist. Tom wollte mich noch am selben Abend kennenlernen und sich mit mir unterhalten. Das war ein wirklich tolles Gespräch, denn Tom hat mir ein so differenziertes und professionelles Feedback gegeben, wie ich es vorher noch von keinem erhalten hatte. Irgendwie habe ich mich dadurch total von ihm gesehen gefühlt.
Unser Gespräch gewann immer mehr an Tiefe und irgendwann sagte Tom: „Du, Alina, ich finde es ja toll, dass deine Songs so persönlich sind. Ich glaube aber, dass es da noch Themen gibt, an die du dich noch gar nicht herangetraut hast.“ Das hat richtig gesessen! Und schon wieder ging in mir eine riesige Tür auf. Nicht nur, weil jemand wie Tom, der für mich so etwas wie eine lebende Legende im Musikgeschäft ist, mir diese große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Sondern auch, weil ich instinktiv das Gefühl hatte, dass da was dran ist.
In den nächsten sieben, acht Tagen drehten sich in meinem Kopf ununterbrochen die Rädchen. Ich fragte mich ständig: Gibt es da noch irgendwelche Themen? Habe ich irgendetwas in mir übersehen? Und plötzlich – ich war gerade dabei, meine Wäsche zusammenzulegen – schoss mir folgende Frage durch den Kopf: „Ey, sag mal, bin ich eigentlich die Einzige, die für immer alleine bleibt?“ Auf einmal war nicht nur das Thema da, nach dem ich die ganze Zeit gesucht hatte. Mit dieser Frage hatte ich dazu gleich auch die wichtigste Songzeile in der Hand.
Eigentlich pocht dieses Thema ja schon seit Jahren in meiner Brust und ist omnipräsent in meinem Leben. Ich rede mit meinen engsten Freunden ständig über gescheiterte Dates, unglückliches Verliebtsein und die Angst, alleine zu sein. Dennoch ist es mir jahrelang nicht in Sinn gekommen, dieses Thema künstlerisch anzupacken – obwohl es so offensichtlich war.

Jonas:
Hast du eine Erklärung dafür, warum du an diesem offensichtlichen Thema so lange vorbeigelaufen bist?

Wer stellt sich schon gerne hin und sagt: »Juhu, ich bin Dauersingle!« Man möchte sich ja nicht selbst demütigen.

Alina:
Vielleicht weil das Thema nicht wirklich sexy ist. Wer stellt sich schon gerne hin und sagt: „Juhu, ich bin Dauersingle!“ Man möchte sich ja nicht selbst demütigen. Daher hatte ich vor dem Thema wahrscheinlich richtig große Angst. Aber beflügelt durch mein Gespräch mit Tom war ich nun absolut offen dafür.

Jonas:
Der oder die Einzige auf der Welt zu sein, das sagt sich so schnell. Dabei gibt es womöglich Millionen andere Menschen, denen es ganz genauso geht.

Alina:
Ich mag es, mit großen Begrifflichkeiten zu arbeiten. Songtitel wie „Die Einzige“, „Schönheitskönigin“ oder „Mit Größe gehen“ sind zwar große, schwere Worte. Sie alle haben aber eine inhaltliche Kehrseite. Und die Kehrseite kann ich am besten erzählen, indem ich die glanzvolle Fläche auf der Vorderseite nutze. Diese Herangehensweise hat es mir auch ermöglicht, den Song „Die Einzige“ zu schreiben, ohne mich dabei lächerlich zu machen.

Jonas:
Mit einer einzelnen Zeile, die man beim Zusammenlegen der Wäsche textet, hat man noch lange keinen fertigen Song. Wie hast du daran weitergearbeitet? Immerhin war ja nun endlich das gesuchte Thema da.

Alina (lacht):
Stimmt! Als plötzlich dieser Satz da war, konnte ich nicht einfach so mit der Wäsche weitermachen. Ich wollte so schnell wie möglich den Song entwickeln. Leider hatte ich in diesem Moment kein Instrument zur Hand. Also habe ich mein Handy genommen und aus dem Nichts heraus improvisiert.

(Alina stimmt die Melodie des Refrains von „Die Einzige“ an)

So ist die Melodie des Refrains entstanden. Das war einer der seltenen Momente im Leben, in denen sich ein Song richtig aufdrängt und endlich aus einem heraus will. Als ich den Refrain hatte, habe ich mein Handy wieder zur Seite gelegt, mich um die nächste Ladung Wäsche gekümmert und mir dabei Gedanken darüber gemacht, wie ich in die Strophe reinkomme. Ich habe mich wieder an das Gespräch mit Tom erinnert, der damals zu mir sagte: „Manchmal ist es ein gutes Stilmittel, Fragen zu stellen.“ Also habe ich Fragen gestellt. Und hatte bald die erste Strophe zusammen.
Mit diesem Gerüst aus Refrain und Strophe bin ich in eine erste Session mit meinem heutigen Gitarristen Robert gegangen. Ich hatte vorher nie mit ihm gespielt und habe daher vorgeschlagen: Wir können jetzt bei Null anfangen oder wir spielen diesen Song – den muss ich unbedingt zu Ende bringen. Gott sei Dank war Robert dafür total offen. Und so haben wir gemeinsam ein wundervolles Arrangement erarbeitet und ich habe die zweite Strophe geschrieben.
Leider hatten wir keine Möglichkeit, den Song in einer halbwegs ordentlichen Qualität aufzunehmen. Wir hatten nur eine krakelige Aufnahme, die alles andere als optimal war. Diese Aufnahme habe ich zu meinem ersten offiziellen Meeting mit Tom Bohne bei Universal Music mitgenommen, aber habe mich erst mal nicht getraut, sie ihm vorzustellen. Erst ganz am Ende unseres Gesprächs sagte ich: „Tom, du hast mich zu einem Song inspiriert, den würde ich dir gerne vorspielen.“
Dann habe ich mein Handy an seine Anlage angeschlossen und war mehr als peinlich berührt: Die Aufnahme war wirklich unterirdisch, der Song krakelte nur so durch die Boxen. Die Situation war so unangenehmen, dass ich permanent aus dem Fenster gestarrt habe, um irgendeinen Punkt zu finden, an dem ich krampfhaft meinen Blick festmachen konnte. Als das Lied zu Ende war, sagte Tom mit tiefer Stimme: „Krass!“ – man muss wissen, dass er nicht die überschwänglichste Art hat (Alina lacht). In diesem Moment war klar, dass es irgendeine Zusammenarbeit geben würde.
Als wir uns einige Wochen später zu einem zweiten Meeting trafen, hatte das Lied intern bereits Wellen geschlagen. Man muss wissen, dass Toms Assistentinnen und Assistenten immer alles mitbekommen, was Tom so abspielt. Eine seiner Mitarbeiterinnen umarmte mich und sagte: „,Die Einzige’, ,Die Einzige’! Das ist mein Lied! Mir geht’s genauso!“ Und nicht nur die Mädels im Vorraum haben über den Song gesprochen, auch die Abteilung nebenan hat irgendwie Wind davon bekommen. Dort fragten sie sich nur: „Sagt mal, warum findet sie denn keinen?“
Dadurch, dass der Song so schnell seine Runden gemacht hatte, war für mich klar: Das ist das Lied des Albums. Die eigentliche Kraft des Songs besteht ja darin, dass er sich anfühlt wie eine Trost spendende Umarmung. Wie du bereits gesagt hast: Im Grunde gibt es unzählige Menschen auf der Welt, denen es ganz genauso geht, die das Gefühl haben, der oder die Einzige zu sein.

Jedes Lied, das man auf dem Album findet, ist in einem sehr intimen Moment entstanden – in einem Moment, in dem ich zu mir selbst sehr ehrlich war und mich sehr alleine gefühlt habe.

Jonas:
Und weil „Die Einzige“ das Lied des Albums ist, hast du auch das Album selbst so benannt?

Alina:
Nicht ganz. Warum auch das Album „Die Einzige“ heißen muss, ist mir erst später klar geworden: Jedes Lied, das man auf dem Album findet, ist in einem sehr intimen Moment entstanden – in einem Moment, in dem ich zu mir selbst sehr ehrlich war und mich sehr alleine gefühlt habe. In jedem dieser Momente kam es mir vor, als wäre ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem es so geht. Daher heißt nicht nur dieser eine Song so, sondern auch das gesamte Album.

Jonas:
An diesem Album hast du ganze sechs Jahre lang gearbeitet. Hast du mit der Gewissheit, dass dein musikalisches Baby nun endlich geboren wird, auch deine Selbstzweifel besiegt?

Alina:
Selbstzweifel wird es in meinem Leben immer geben. Die Frage ist nur, woran genau ich zweifele. Als Künstlerin habe ich in den letzten Jahren sehr viel an Selbstbewusstsein gewonnen, das freut mich natürlich. Für mich ist es der allergrößte Erfolg, diese Platte gemacht zu haben. Dass sie genauso auf die Welt kommen darf, wie ich es wollte und geplante habe, macht mich sehr, sehr zufrieden.
Als Mensch ist es nochmal eine ganz andere Nummer. Dass man plötzlich ein glücklicherer Mensch wird, nur weil man eine Plattenfirma gefunden hat und endlich ein Album veröffentlichen kann, ist eine Illusion. Auch das ist mir in den letzten Jahren klar geworden. Glück zieht man nicht aus irgendeinem Erfolg, sondern aus anderen Momenten. Und die kann man nicht planen.
Trotzdem: Diesen Moment der vollkommenen Zufriedenheit und Glückseligkeit, den ich gerade erlebe, möchte ich so lange wie möglich konservieren und mir irgendwie erhalten. Ich weiß, das ist sauschwer, denn mein Leben schreibt sich kontinuierlich weiter – meine Musik schreibt sich kontinuierlich weiter. Da ich in meinen Songs immer das verarbeite, was ich gerade erlebe, bin ich eigentlich schon ein paar Schritte weiter. Und daher ist es auch schön, das Ganze nach sechs Jahren loszulassen.

Hair & Make-up: Luiza Simor / @luizasimor