Sina Brückmann

Submission — Sina Brückmann

Ohne Apfel-Z

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text, Illustration & Foto: Sina Brückmann

Stille findet sich an Orten, die man kaum erwartet.

“Papier ist geduldig”, heißt es im Volksmund. Doch auch das Arbeiten mit Papier erfordert Geduld. Mich selbst würde ich nicht unbedingt als extrem geduldig bezeichnen. Diverse Hobbyprojekte aus Fimo und Holz fanden so schon ihren Weg in die Mülltonne. Jedoch gibt es da eine Ausnahme.

Schon als Kind übten Papier und Origami eine unglaubliche Anziehungskraft auf mich aus. Nachdem ich einfache Muster wie Frösche und Wasserballons gemeistert hatte, wurden es Tetraeder, Feuerwerke und schließlich ganze Layouts aus Papier.
Das kreative Arbeiten ohne Apfel-Z entschleunigt mich und meinen herkömmlich hektischen Alltag am Computer. Meine Stille liegt in den Stunden vollkommener Konzentration.

Während ich Papier falze, verbiege oder klebe, vergesse ich alles um mich herum und die Gedanken in meinem Kopf werden ganz still.

Analoge Papierkunst ist für mich nicht nur ein kreatives Ventil, sondern auch ein meditativer Ruhepol. Jeglicher Lärm verschwindet in den Falzen des Papiers und was zurück bleibt, ist Stille.

Meine Stille ist ein Stück Papier.


Tzimon Budai

Submission — Tzimon Budai

Der Mann ohne Lungen

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text: Tzimon Budai, Foto: Maximilian König

„Das Meer, junger Mann. Ich suche das Meer. Können Sie mir helfen, es zu finden?“ Es war Nacht. Ich war auf dem Weg nach Hause, der Mond stand schon hoch oben und wog die Straßen, Bäume und Wiesen in seinem stillem Netz aus Schlaf.
„Wieso denn das Meer?“, fragte ich ihn ganz verwundert. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen hochgewachsenen, dürren Mann. Er schien recht nervös und unbeholfen, gar hilflos zu sein. Seine Augen rasten von links nach rechts, von oben nach unten, und er schaute sich immer wieder um, als ob er etwas suchte. „Na verstehen sie, junger Mann, ich möchte nach Hause. Ihre Welt ist mir zu laut.“
„Meine Welt? Zu laut?“, wollte ich wissen, während ich mich wieder ärgerte, an wen ich hier geraten war. „Ach, ihr seid ein Atmer, nicht wahr? Zeigt mir doch bitte den Weg zum Meer, ich erkläre es Ihnen unterwegs.“ – „Na gut, folge mir.“

Schweigend wanderten wir die ersten Straßenbiegungen entlang, der Mond über uns hielt Wache über sein Reich der Stille. Wir verließen nun das kleine Dorf, in dem ich wohnte, und das fahle Licht der Straßenlaternen verschwand immer mehr. Ich vermochte meinen Mitläufer kaum zu erkennen, sein Gesicht lag vollkommen im Schatten der vielen Bäume um uns herum. Wir liefen auf meinem eigenen Weg gen Meer. Den Weg, den ich immer benutzte, wenn mir alle anderen zu voll waren und ich meine Ruhe haben wollte. Plötzlich stieß der Mann neben mir einen seltsamen Laut aus, es klang wie Schluchzen und Seufzen vereint. „Hier ist schon besser. Viel ruhiger als in euren Städten und Dörfern. Nicht auszuhalten.“ – „Aber es ist doch überall so laut.“ „Nein. Nicht bei mir in meiner Heimat. Es gibt nur sehr wenige von uns. Ein Dutzend vielleicht. Wir leben in solch einer wunderbaren Stille, wie sie nie einer von euch Atmern erleben wird.“
„Moment mal,“ unterbrach ich ihn, „Atmer? Du atmest doch auch?“ – „Ihr ja! Aber wir nicht. Wir besitzen keine Lungen. Wir können wandern und ziehen, wohin wir wollen. In die tiefsten Tiefen des Meeres oder die höchsten Berge dieser Welt. Doch ziehen wir meist dorthin, wo es still ist. Eure ganze Welt voller Atmer ist so laut, dass ihr es gar nicht mehr mitbekommt. Eure Schiffe, Autos, Häuser: all das. Der Lärm legt sich über euch, erstickt eure Seele.“

Er hielt inne und blieb stehen. Nach diesen Worten konnte ich meinen Blick nicht von seinem Brustkorb lassen: Tatsächlich, er bewegte sich weder auf und ab. Keinen Millimeter. „Das kann doch nicht sein“, dachte ich.

„Die Menschen, wie ihr euch nennt, haben vergessen, wie wichtig Stille für sie ist. Dennoch fürchtet ihr sie sehr. Ihr fühlt euch verloren in ihr, aber irgendwie auch geborgen. Alle Laute und Töne regieren euch von ihrem Thron und ihr gehorcht widerstandslos. Ihr lebt in jedem Ort voller Lärm und voller Angst vor diesem Wort: Stille.
Doch ihr braucht sie. Denn sie nimmt euch die Brille ab, die euch den Blick in eure Seele verhindert. Nur in der Stille, alleine, begreifen Menschen, was sie lieben, fürchten, hassen oder wollen. Aber die meisten haben Angst, sich in diese Stille fallen zu lassen, da sie sich vor dem fürchten, was sie erblicken werden. Und so packt ihr eure Welt voller Lärm, um der Wahrheit über einen jeden von euch entgehen zu können. Wahre Stille bietet euch die Wahrheit über dich selbst! Sogar hier draußen ist es noch zu laut für uns. Das Summen der Lichter, Autos in der Ferne, Flugzeuge in der Luft. Es ist so unerträglich…“

Er schwieg. Ich schloss die Augen und versuchte, auf alles zu hören. Alles um mich herum. Doch ich hörte nichts, für mich war es totenstill hier draußen in der Nähe der Dünen. „Ich möchte sie nicht so lange stören, es ist ja schon spät. Ich kann das Meer schon riechen, wir sind nicht mehr weit weg.“ – „Nein, noch ein paar hundert Meter. Hier entlang.“ Wir schwiegen beide. Ich ging voraus, er hinter mir. Ich wusste nicht so ganz, ob ich begriff, was er mir erzählt hatte. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob er denn Recht habe, dass unsere Welt zu laut geworden sei und uns das gar nicht mehr auffalle.

Die Bäume lichteten sich langsam und gaben den Blick frei auf das atmende Meer. Ein bezaubernder Anblick. Das monotone Auf und Ab der Wellen, wie sie sich am Strand das Wasser kräuseln und die Gischt das Mondlicht reflektiert. Ich drehte mich um und sah nun zum ersten Mal richtig meinen Begleiter. Sein Alter zu schätzen wäre unmöglich gewesen. Er war zwar groß und dürr, hatte aber kräftige, breite Schultern. Er war eher unscheinbar, doch seine Augen zogen mich in ihren Bann. Pechschwarz reflektierten sie das Mondlicht. Es waren alte Augen, aber in einem jungen Mann. Sie schienen eine Geschichte von dem erzählen zu wollen, was sie schon alles gesehen und erlebt hatten. Doch sie hatten auch etwas Einsames und Trauriges. Wie bei den Menschen, denen man auf der Straße begegnet, in deren Augen sich pure Einsamkeit spiegelt.

„Endlich. Mein geliebtes Zuhause.“ Seine Augen begannen noch viel mehr zu leuchten. Als er an mir vorbeikam, drehte sich der Mann ohne Lungen noch einmal um. „Vielen Dank, Fremder. Ich werde nun nach Hause gehen. Bleiben sie doch noch ein wenig hier an meiner Türschwelle und genießen sie die Ruhe und Stille, die in der Nacht so nah an meinem Zuhause herrscht.“

Er ging zwei, drei Schritte weiter und drehte sich noch ein letztes Mal um. „Ach, und haben Sie keine Angst mehr vor der Stille. Sie ist etwas so Wunderbares! Ihr Atmer solltet viel mehr von ihr kosten. Sie kann euch Wege zeigen, die euch keine Töne, Geräusche und Laute dieser Welt weisen könnten. Lebt wohl!“.

Er schritt voran. Sein Körper bäumte sich auf und ab, wie bei einem kleinen Kind, das sich freut, die Geburtstagskerzen auszupusten. Er hatte nun die Brandung erreicht und die Wellen streichelten seine Knöchel. Das Wasser verschluckte seine Knie und Beine nun fast vollständig. Er ging weiter. Es schien, als ob das Meer ihn mit seinen Wellen empfing, ihn in die Arme schloss wie einen alten Freund, den man schon sehnsüchtig erwartet hatte.


Dylan Köhler

Submission — Dylan Köhler

Lieber laut

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text: Dylan Köhler, Foto: Maximilian Motel

Früher war ich der kleine Skater von Nebenan, hatte Dreadlocks und kaum Sorgen. Ein paar Jahre später wurde aus dem kleinen Skater ein staatlich anerkannter Erzieher, der mittlerweile an fünf Tagen in der Woche in einer KiTa aushilft – zwar nur zwei Stunden pro Tag, aber das reicht schon für einen halbwegs geregelten Tagesablauf. Und es bietet mir genug Zeit, um mit mir selbst ein paar basale Fragen auszumachen: Wo möchte ich noch hin? Was will ich noch erreichen? Wie kann ich mich weiterbilden?

Das Geld ist leider knapp und ich muss zusehen, wie ich über die Runden komme.
Als DJ kann ich mir den ein oder anderen Euro dazu verdienen, aber eigentlich geht es mir gar nicht um das Geld: Es macht mich einfach glücklich, bestärkt mich in allen Lebenslagen und baut mich auf – besonders wenn ich sehe, wie ich mit meiner Musik die Leute auf der Tanzfläche beglücken kann.

Auf anstehende Auftritte in größeren Clubs freue ich mich ähnlich wie die kleinen Kinder in meiner KiTa auf ihren Geburtstag.
Und in den Momenten, in denen ich im Club der Musik und den tiefen Bässen ausgesetzt bin, fühlt sich in mir alles ganz anders an: Alles ist ruhig und idyllisch, die Beine zittern und es werden massenweise Endorphine ausgeschüttet. Mein Körper und ich durchleben die vollkommene Stille.

Diese Stille, in der ich mich selbst spüre und die mich überaus glücklich macht, ist gespickt mit guter House Musik, farbigen und flackernden Lichteffekten sowie einer Menge partyfreudiger Menschen, die toben und tanzen – und natürlich der Kreativität, der ich beim Zusammenmischen der verschiedenen Lieder freien Lauf gelassen lassen kann.

Seit gut zwei Jahren trete ich nun zusammen mit meinem Freund Timo in Münster auf. Unser DJ-Duo trägt den Namen „Lieber Laut“ – und so erleben wir die Stille beim Auflegen nicht alleine, sondern gemeinsam. Wir können uns aufeinander verlassen und helfen uns, wenn es mal Schwierigkeiten gibt. Irgendwie finden wir immer einen Ausweg – das gibt mir besonders viel Ruhe und Kraft, mich in meine ganz eigene Stille fallen zu lassen.

Ich finde es einfach toll, einen guten Freund an meiner Seite zu haben, mit dem ich diese Stille ein Stück weit teilen kann – und den ich vielleicht auch nur für einen kurzen Augenblick mit in meine Stille hineinziehen kann.


Janis Michaelis

Submission — Janis Michaelis

Nach innen wie nach außen

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text: Janis Michaelis, Foto: Jannis Hell

Immer wenn ich in Norddeutschland das Rauschen der hereinrollenden Flut im Ohr hatte oder den kreischenden Möwen lauschte, die im Hafen einen heimkehrenden Fischkutter umkreisten, und immer wenn ich das Windgetöse an den Peitschenlampen am Fluss hörte, dann dachte ich nur an dieses eigene Stillsein, das abgekoppelt ist von dem, was es verursacht.

Tatsächlich findet sich meine Stille aber ganz anders ein. In geschlossenen Räumen, am eigenen Schreibtisch.

Diese Stille dokumentiert ein Ereignis, das Gestalter kennen, die auf Anhieb kreativ zu sein haben. Die Ideenlosigkeit, den Blackout, die Ratlosigkeit. Ähnlich der Maschinen in einer Druckerei: Ist es in deinem Atelier still, dann steht auch die Produktion still.
Sicher, ich kann jederzeit einen Dokumentennamen vergeben, den Fließtext in einer Meta setzen, Facebook checken, Auszeichnungen vornehmen, Postleitzahlen ausgleichen, speichern, am Farbregler spielen, nochmal Facebook checken.

Doch um etwas Raffiniertes zu gestalten, braucht man eine Idee. Mir wurde einmal gesagt, man müsse bei einer Idee aufpassen, dass sie kein Einfall ist, denn der würde schnell einfältig. Ich habe es so verstanden: Ideen kommen beim Arbeiten und nicht beim darüber Nachdenken. Aber ohne Eindruck kein Ausdruck, sagte das nicht einmal Godard?

Meistens kommen die wirklich guten Ideen in der U-Bahn, aufm Pott, bei nem Schnack. Kein Geistesblitz, eher eine mögliche Idee zur Lösung eines Problems oder einen Anfang dafür.

Leider können die meisten Gestalter nicht darauf hoffen, dass ihnen diese Erleuchtung Freitagabend zwischen Kotti und Moritzplatz heimsucht oder bei Mustafa in der Schlange.

Ein Auftrag ist mit immer näher rückender Deadline wie ein schlecht gelaunter Spiekermann mit Pumpgun in deinem Nacken. So sitzt man Dienstagsvormittag vor dem Rechner, hoffend, dass irgendein geniales Layout zusammen kommt.

Und plötzlich ist es da: das Raufen der Haare, das Nägelkauen, das verzweifelte Klicken der Maus und das Runzeln der Stirn: die Stille.
Mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Fünftklässlers sitzt man nun da und durchscrallt jeden Blog, durchsucht die eigene Ordnerstruktur nach Rechtschreibfehlern und lauscht dem sanften Klackern der Festplatte.

Wie man es am Ende dann doch wie selbstverständlich schafft es zu wuppen, ist wie der Anfang einer langen Reise, an den man sich am Ende nicht mehr erinnert.

Es ist einfach passiert. Bezeugen kann dies am am Ende nur das Dokument.

Das war also die Zeit der Stille. Als hätte ich sie bloß überwunden, um sie schon wieder zu suchen, die Stille, in der ich fühle, dass ich höre – nach innen wie nach außen. Gehört einfach zu mir.


MYP11 – Prolog "Mein Souvenir"

Editorial — MYP Magazine N° 11

Prolog »Mein Souvenir«

14. Juli 2013 — Elisa Schlott fotografiert von David Paprocki

— Elisa Schlott im Interview


Kakkmaddafakka

Interview — Kakkmaddafakka

Alle Zeit der Welt

Kaum ein Festival kam diese Saison ohne die augenzwinkernden Hits von Kakkmaddafakka aus, die mit ihren drei schrägen Backgroundtänzern jeden Tanzmuffel überzeugen. Die sympathischen Musiker verraten uns das Geheimnis hinter ihrem Markenzeichen.

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Die Orte, an denen man die Zeit vergessen kann, sind rar geworden in Berlin. Aus allen Ritzen des jungen Hauptstadtbetons drückt sich mittlerweile ein klebriges Höherschnellerweiter, das wie Baumharz an Fingern und Kleidung haftet. Unterlegt von einem ewig-wummernden Beat kriecht es langsam die zahllosen neuen Glasfassaden herab, um sich wie ein Klebefilm über die Straßen zu legen und auch die letzten Bastionen der Zeitlosigkeit zu erobern.

Ein Entkommen scheint kaum möglich – es sei denn, man ist mobil. Und so treibt es Rosmarie Köckenberger mit ihrem „Kjosk“ von Saison zu Saison in eine andere Ecke Berlins, die noch nicht von dem klebrigen Höherschnellerweiter erfasst wurde. Der „Kjosk“, das ist eigentlich ein Doppeldecker-Bus, gebaut im Jahr 1965 und die meiste Zeit seines Lebens im Dienste der Berliner Verkehrsbetriebe unterwegs.

Doch das war einmal. Mittlerweile genießt der Best Ager in vollen Zügen seinen Ruhestand. Und erlebt gleichzeitig seinen zweiten Frühling. Vor kurzem hat das rollende Hierdarfstduglücklichsein einen neuen Standort erobert und bietet in der Cuvrystraße im Nordosten Kreuzbergs alles, was das Herz begehrt: Kaffee, Bier, Eis am Stiel, Nintendo-Games aus den Neunzigern und lecker Kuchen mit Sahne oder ohne. Alles liebevoll. Und unaufgeregt.

Hier wollen wir heute Nachmittag Axel und Pål Vindenes treffen, die quasi als Repräsentanten ihrer Band Kakkmaddafakka aus dem schönen Bergen nach Berlin gereist sind.

Gott sei Dank, will man fast sagen, denn es wäre mit dem kompletten Aufgebot der insgesamt fünf Musiker und drei Backgroundtänzer wohl etwas eng geworden in dem kleinen Bus.

Wir sind eine halbe Stunde zu früh. Unser Fotograf Maximilian König hat also alle Zeit der Welt, um das Equipment aufzubauen und die Location zu inspizieren. Als wir uns wenig später im Erdgeschoss des „Kjosk“ einen kleinen Vorabkaffee gönnen wollen, schallt aus der ersten Busetage plötzliches Gelächter. Neugierig steigen wir die schmale Treppe nach oben und entdecken Axel und Pål, die ausgelassen an den alten Nintendo-Konsolen rumdaddeln.

Vorbildlich, die Beiden sind schon da! Herzlich willkommen in Berlin. Und herzlich willkommen im „Kjosk“.

Jonas:
Seit heute ist euer neues Album „Six months is a long time“ offiziell erhältlich. Wie geht’s euch damit, dass euer drittes Baby nun endlich das Licht der Welt erblickt hat?

Axel:
Das fühlt sich absolut großartig an! Wir haben ziemlich lange an dieser Platte gearbeitet und sind daher total froh, dass wir den Leuten wieder viele neue Kakkmaddafakka-Songs vorstellen können.

Jonas:
Erinnert ihr euch, wann die allererste Idee zu diesem Album entstanden ist?

Pål:
Wir haben eigentlich schon direkt mit dem Release unseres zweiten Albums „Hest“ damit begonnen, neue Songs zu schreiben – und das auch seitdem kontinuierlich getan.

Jonas:
Ihr habt in den letzten zwei Jahren so viele Konzerte und Festivals gespielt, dass ihr quasi „always on the road“ gewesen seid. Wie ist es euch gelungen, da noch das Songschreiben dazwischenzuschieben?

Pål:
Wir gönnen uns selbst nicht wirklich viel Freizeit und arbeiten hart, egal ob wir gerade unterwegs sind oder zuhause in Bergen sitzen. Es gibt Leute, die uns das gar nicht abnehmen. Wenn sie unsere ausgelassenen Shows sehen, glauben sie, dass alles so easy ist, wie es auf der Bühne wirkt. Welche Kraftanstrengung hinter dem Ganzen steht, davon haben sie leider keine Ahnung.

Jonas:
Ihr setzt in eure Auftritte ein enormes Maß an Kraft und Energie, die ihr auf das Publikum übertragt. Woher nehmt ihr eure Power?

Axel:
Wenn du nicht wirklich liebst, was du da tust, funktioniert es nicht. Dann wärst du nach wenigen Tagen einfach total fertig. Uns macht diese Arbeit richtig Spaß und wir haben uns vor langer Zeit dazu entschieden, unsere gesamte Aufmerksamkeit auf die Musik zu richten. Wir wissen, dass wir für eine gute Sache arbeiten, und das treibt uns an. Außerdem könnten wir eh nicht lange stillsitzen, ohne irgendetwas zu tun.

Jonas:
Wie würdet ihr den Sound eures neuen Albums beschreiben? Was hat sich verändert?

Pål:
Insgesamt gibt es gar keine so großen Veränderungen im Kakkmaddafakka-Sound, die Songs sind einfach nur etwas ruhiger. Der größte Unterschied zu „Hest“ ist wohl, dass wir diesmal die Platte in einem wesentlich besseren Studio aufnehmen konnten.

Axel:
Ich würde es mal so formulieren: Während wir durch „Hest“ erst nach und nach gelernt haben, wie man gute Songs schreibt, konnten wir das bei „Six months is a long time“ von Anfang an praktizieren. Alle Tracks auf der neuen Platte sind mit der gleichen Technik entstanden wie nur die besten auf „Hest“.

Es geht uns nicht in erster Linie darum, die Instrumente perfekt zu beherrschen. Wir wollen vielmehr eine Geschichte erzählen.

Jonas:
Hilft es euch beim Songschreiben, dass ihr alle eine klassische Musikausbildung habt?

Pål:
Für mich persönlich spielt das keine große Rolle. Ich schreibe Songs eher instinktiv und überlege nicht wirklich, wie ich systematisch die Sache am besten angehen könnte.

Axel:
Das stimmt. Sie hilft uns auch nicht bei der Art und Weise, wie wir unsere Instrumente spielen. Aber trotzdem hat diese klassische Musikausbildung einen entscheidenden Vorteil: Wir sind bereits in sehr jungen Jahren mit Musik in Berührung gekommen, die dadurch schon recht früh ein wichtiger Teil unseres Lebens wurde. Man entwickelt so eine ganz bestimmte Art und Weise, mit Musik umzugehen, und lernt viel über die Bedeutung und Wirkung z.B. von Melodien.
Trotzdem machen wir immer noch Popmusik und verfolgen daher einen ganz anderen Ansatz: Es geht uns nicht in erster Linie darum, die Instrumente perfekt zu beherrschen. Wir wollen vielmehr eine Geschichte erzählen. Ich würde übrigens auch nie von uns selbst behaupten, dass wir die allerbesten Sänger oder Gitarrenspieler sind – obwohl uns viele Leute sagen, dass wir gut seien. Das schätze ich wirklich sehr.

Pål (lacht):
Die haben wahrscheinlich auch noch nie einen richtig guten Sänger oder Gitarrenspieler gehört. Unser Vater beispielsweise hat eine klassische Gitarrenausbildung, der ist wirklich extrem gut. Aber er übt auch jeden Tag zwei bis drei Stunden, und das mit seinen 45 Jahren.
Aber ganz im Ernst: Natürlich ist es ein Kompliment, wenn einem die Leute sagen, man sei gut. Ich selbst würde dieses Kompliment aber in erster Linie auf unseren Pianisten Jonas Nielsen beziehen, der beherrscht sein Instrument nämlich absolut großartig.

Jonas:
Gibt es auf dem neuen Album einen Song, der euch besonders beschäftigt hat?

Axel:
Oh ja, das ist der Song „Saviour“. Ich habe echt seit vielen Jahren versucht, ein Stück wie dieses zu schreiben, aber ich habe es nie hinbekommen. Ich hatte eigentlich schon aufgegeben – aber zack! Plötzlich war der Song da. Ich dachte: Das kann doch nicht wahr sein! Warum klappt das mit einem Mal so einfach, was seit Ewigkeiten nicht klappen wollte? Vielleicht lag es daran, dass wir wild gefeiert hatten und am Tag darauf total im Off waren. Jedenfalls war der Song danach von jetzt auf gleich in meinem Kopf.

Jonas:
Bringen sich alle Bandmitglieder in ähnlicher Art und Weise ein, wenn es darum geht, neue Songs zu schreiben? Oder habt ihr da eine gewisse Hierarchie?

Pål:
Jeder bringt sich ein und trägt Ideen vor. Wenn eine Idee gut ist und funktioniert, ist es egal, von wem sie kam. Es zählt dann nur das Ergebnis, einzig und allein der Song entscheidet.

Wir entscheiden uns, die Treppen nach unten zu steigen und im Freien einige Fotos zu schießen. Vor dem Bus sind liebevoll einige Holzbänke aufgebaut, auf denen man stundenlang verweilen könnte.

Axel und Pål machen es sich gemütlich und lassen sich geduldig von Max fotografieren. Auch wenn ihr Terminkalender heute randvoll ist mit Interviews und Promo-Terminen, wirken sie gerade, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Jonas:
Ihr habt mit „Restless“ vor wenigen Jahren einen Song geschaffen, der mittlerweile fester Bestandteil der Indie-Kultur ist und dort bereits jetzt als Klassiker gelten kann. Dementsprechend verbinden unzählige Menschen diesen Track mit ganz bestimmten Situationen oder Gefühlen. Gibt es in eurem Leben auch derartige, besondere Songs?

Axel:
Dass du „Restless“ als Klassiker bezeichnest, ist echt schön zu hören. Vielen Dank dafür! Es ist ja auch tatsächlich unser Bestreben, zeitlose Musik zu machen. Und wenn dadurch wirklich ein oder mehrere Klassiker entstehen sollten, ist das natürlich toll.
Richtige Klassiker sind übrigens auch unsere wichtigste Inspirationsquelle, man nehme nur so großartige Songs wie „Africa“ von Toto oder „Dancing Queen“ von Abba. Und natürlich gibt es auch für uns ganz bestimmte Lieder, die mit besonderen Stimmungen und Gefühlen verknüpft sind. Jede Stimmung hat quasi ihren eigenen Song.

Jonas:
Und für welche Stimmung ist die Kakkmaddafakka-Musik gemacht?

Pål:
Wir versuchen, in unserer Musik in erster Linie diejenigen Lebenssituationen zu beschreiben und zu verarbeiten, die wir selbst erlebt haben – und die sind sehr, sehr unterschiedlich. Ich glaube daher, dass wir für sehr viele Stimmungen den jeweiligen Song parat haben.

Bei uns ist alles mehr oder weniger wie am ersten Tag, es gibt nur eine einzige Regel: die „rule of being cool“.

Jonas:
Ihr habt euch bereits im Jahr 2004 gegründet. Hat sich seitdem etwas innerhalb eurer Freundschaft verändert?

Axel:
Nein, überhaupt nicht. Ich erkenne keinen Unterschied zwischen damals und heute. Aber eigentlich denken wir auch nicht wirklich über so etwas wie Zeit nach. Bei uns ist alles mehr oder weniger wie am ersten Tag, es gibt nur eine einzige Regel: die „rule of being cool“.

An einer Häuserwand im Hintergrund prangt ein überdimensionales 198 Streetart-Painting, das wie ein Mahnmal wirkt gegen jenes ewige Höherschnellerweiter, das diese wunderschöne Ecke Berlins bisher Gott sei Dank verschont hat. Ein Geschäftsmann ist dort dargestellt, gesichts- und namenlos. An beiden Händen trägt er schwere Uhren aus Gold, die ihn in Ketten legen und für immer die Zeit ketten.

Jonas:
Hattet ihr auch von Anfang an das Gefühl, musikalisch gut zueinander zu passen?

Pål:
Wir haben alle eine sehr, sehr ähnliche Einstellung, was die Musik aber auch den Spaß angeht. Es liegt auch irgendwie etwas ganz Besonderes in der Luft, wenn wir zusammen auf der Bühne stehen und spielen – und diese Energie spüren auch die Leute im Publikum.

Axel:
Wir haben in unserem Leben ja auch noch nie mit jemand anderem gespielt und kennen daher gar nichts anderes. Für uns ist dieses Besondere eigentlich total normal.

Jonas:
Wie und wo habt ihr eigentlich eure drei männlichen Backgroundsänger aufgegabelt? Die Jungs sind ja mittlerweile ein echtes Markenzeichen eurer Band.

Axel:
Ach, die waren plötzlich einfach da, das muss wohl um das Jahr 2006 gewesen sein.
Wir wollten ursprünglich nur mit mehr Leuten abhängen, wenn wir unterwegs oder auf Tour waren, und dadurch die Band etwas größer machen. Die Jungs standen irgendwann einfach mit auf der Bühne und sind quasi dort geblieben. Das ist die ganze Story. Unglücklicherweise hat sich vor kurzem einer der Drei verletzt, aber er spielt jetzt unsere Percussions und die anderen beiden tanzen weiter.

Jonas:
Ihr lebt alle nach wie vor in Bergen. Ist das ein guter Ort, um kreativ arbeiten zu können?

Pål (grinst):
Ja, absolut! Es regnet einfach so viel, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als zuhause zu sitzen und irgendetwas zu machen.
Aber im Ernst: Bergen ist richtig toll. Die Landschaft ist unglaublich schön, man kann alles zu Fuß erreichen und wir haben ein tolles Studio dort. Auch viele andere Bands tummeln sich in der Stadt.

Bei Musik geht es nicht darum, ein guter Musiker zu sein. Bei Musik geht es darum, dass sie echt ist. Und von Herzen kommt.

Jonas:
Und welches Andenken an eure Heimatstadt tragt ihr mit euch, wenn ihr gerade irgendwo auf der Welt unterwegs seid? Welche Bilder habt ihr im Kopf?

Pål:
Ich würde auf jeden Fall sagen, dass ich an das Meer und die Berge denke – absolut spektakulär!

Axel:
Das stimmt, Bergen ist untrennbar mit dieser schönen Naturkulisse verbunden. Ich mag es außerdem, dass es da so hanseatisch und international zugeht. Es macht mich total stolz, diese offene Stadt in der Welt repräsentieren zu dürfen. Und ich hoffe, dass Bergen auch ein wenig stolz auf uns ist – auch wenn wir nicht überragend sind in dem, was wir tun. Wir lieben es einfach, Musik zu machen, und freuen uns riesig, wenn uns die Leute sagen, dass wir tolle Songs schreiben. Und darauf kommt es doch eigentlich an, oder? Bei Musik geht es nicht darum, ein guter Musiker zu sein. Bei Musik geht es darum, dass sie echt ist. Und von Herzen kommt.

Langsam müssen wir uns verabschieden, denn in wenigen Stunden fliegen die beiden Musiker zurück nach Bergen.

Für einen kurzen Moment wirkt es, als hätte man aus der bemalten Häuserwand im Hintergrund ein lautes Seufzen gehört. Vielleicht wäre er ja gerne mitkommen, der große Gefangene der Zeit. Aber er kann einfach nicht, denn er ist gefesselt an die Uhr. Und das zähe Höherschnellerweiter klebt schon viel zu lange an ihm.

Axel und Pål lässt das gänzlich unbeeindruckt, auf ihren Gesichtern breitet sich das zufriedenste aller Lächeln aus. Und dabei scheint es, als ob auch dem „Kjosk“ gerade ein leichtes Grinsen über die Motorhaube fahren würde.

Alle sind sich einig: Wer ein Rezept braucht gegen das klebrige Harz des Höherschnellerweiter, muss einfach zeitlos sein. Und einen Klassiker erschaffen.

Bei den einen ist das ein Bus. Und bei den anderen ein Song.

Dann hat man alle Zeit der Welt.


Elisa Schlott

Interview — Elisa Schlott

Sommerspiel

Nachwuchstalent Elisa Schlott über das straffe Programm eines Schauspielerlebens zwischen Berlin und London.

14. Juli 2013 — MYP N° 11 »Mein Souvenir« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: David Paprocki

Das Schönste, was man von Berlin mitnehmen kann, ist der Sommer. Jahr für Jahr aufs Neue flutet er die Straßen mit einem Meer aus Sonnenstrahlen und gibt allen Wärmehungrigen jenes unbeschwerte Lächeln zurück, das man im ewig dunklen und unerbittlichen Berliner Winter für immer verloren geglaubt hatte.

Der Kalender zeigt den achtzehnten Juni, also wird der Sommer offiziell erst in ein paar Tagen in der Hauptstadt erwartet. Doch er ist jetzt schon da – er konnte einfach nicht länger warten: Zu karg und eisig waren die letzten Monate, zu groß die Sehnsucht der Menschen nach Licht und Leichtigkeit.

Und so sitzen wir gemeinsam mit dem Sommer und der jungen Schauspielerin Elisa Schlott im verwunschenen Garten von Clärchens Ballhaus. Genau 100 Jahre ist es nun her, als Fritz Bühler und seine Frau Clara Habermann das Tanzlokal in der Auguststraße in Berlin-Mitte eröffneten. In guten wie in schlechten Tagen feierte man hier und tanzte, entfloh dem grauen Alltag und genoss sein Leben – damals wie heute, ein ganzes Jahrhundert lang.
Es gibt also einiges, was die alten Mauern zu erzählen hätten. Bis zum Rand sind sie gefüllt mit unzähligen Erinnerungen, die sich Jahr für Jahr wie unsichtbare Baumringe in ihr steinernes Gedächtnis schreiben. Und so lauschen sie auch heute aufmerksam der jungen Schauspielerin, die mit dem Sommer gerade fröhlich um die Wette strahlt.

Elisa Schlott ist eigentlich Berlinerin durch und durch. Im Märkischen Viertel geboren und in Pankow aufgewachsen, hat sie im Oktober 2012 für ein Jahr der deutschen Metropole den Rücken gekehrt und ist nach London gezogen.

Heute ist sie trotzdem in Berlin, denn am Abend stehen einige Nachsynchronisationen in einem Studio in der Chausseestraße an. Die 19-jährige Schauspielerin ist also auf Kurzbesuch in ihrer Heimatstadt. Und weil ein Tag nicht wirklich viel ist, werden in Clärchens Ballhaus prompt Wiener mit Kartoffelsalat geordert – ein Stück Zuhause, das es in London nicht gibt.

Jonas:
Du bist im Herbst letzten Jahres nach London gezogen. Gab es dafür einen bestimmten Grund?

Elisa (grinst):
Naja, nach dem Abi sind plötzlich alle meine Freunde ins Ausland gegangen und haben sich auf der ganzen Welt verteilt. Nach Costa Rica, Südafrika oder Frankreich hat es sie verschlagen. Da habe ich mich gefragt, was ich selbst eigentlich noch hier mache.
Nein, ganz im Ernst: Ich bin nach London gegangen, weil ich dort einige Schauspielkurse absolvieren wollte – es gibt dort einfach so viele Möglichkeiten.

Jonas:
Und diese Möglichkeiten gibt es in Berlin bzw. Deutschland nicht?

Elisa:
Nein, nicht wirklich. In London ist man viel näher dran am internationalen Markt. Außerdem ist es cool, so etwas mal in einer anderen Sprache zu machen – eine wirklich neue Erfahrung!
Ich bin mir auch noch gar nicht so ganz sicher, ob ich in Zukunft die Schauspielerei überhaupt professionell betreiben will. Wenn es so kommen sollte, will ich auf jeden Fall in der Lage sein, international arbeiten zu können. Daher bin ich auch froh, so viel gemacht zu haben in London.

Jonas:
Welches Programm hast du denn in den letzten Monaten absolviert?

Elisa:
Als ich nach London kam, bin ich zu einer Gastfamilie gezogen und habe zwei Monate eine Sprachschule besucht, um ein halbwegs gefestigtes Englisch zu haben. Danach habe ich mich am Actors Center beworben – eine von Schauspielern, Regisseuren und Produzenten gegründete Institution für Ihresgleichen, wo man diverse Kurse belegen und sich weiterbilden kann. Man zahlt eine Jahresgebühr von etwa 50 Pfund und zusätzlich je nach Kurs einen entsprechenden Betrag, der aber extrem niedrig ist.
Nachdem ich am Actors Center angenommen wurde, habe ich im Laufe der Monate verschiedene Kurse belegt. So war ich beispielsweise in einem „Method Acting“-Workshop, der von einem sehr imposanten amerikanischen Schauspieler namens Sam Douglas geleitet wurde. Und ich habe einen Kurs von Scott Williams belegt, in dem ich mir die sogenannte „Meisner-Technik“ aneignen konnte: Dabei geht es darum, beim Spielen seine Aufmerksamkeit nicht auf die eigene Person zu richten, sondern voll und ganz auf sein Gegenüber. So soll erreicht werden, dass man Spielsituationen emotional besser begreifen und erfassen kann, weil man als Schauspieler immer der Gefahr ausgesetzt ist, zu sehr in den eigenen Gedanken gefangen und dadurch in gewisser Weise blockiert zu sein.
Ich habe in den letzten Monaten viel gelernt und bin daher gespannt, ob ich dieses Wissen mal praktizieren kann. Das hängt ja davon ab, ob ich tatsächlich hauptberufliche Schauspielerin werde oder nicht.

Jonas:
Welcher Beruf käme denn neben der Schauspielerei noch für dich in Frage?

Elisa:
Ich habe total Lust, irgendetwas zu studieren. Daher habe ich mich auch für das kommende Wintersemester an der HU und FU für Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte beworben. Im September komme ich ja eh zurück aus London. Mal sehen, ob ich angenommen werde.
Vorher freue ich mich aber total auf den Juli, weil ich dann an der Guildhall School einen vierwöchigen Schauspiel-Sommerkurs belegen werde. Ich glaube, dass mir dieser Kurs extrem dabei helfen wird, mich zu entscheiden, welche Richtung ich in meinem Leben einschlagen werde.
Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder komme ich komplett verzaubert aus dem Kurs heraus und weiß, dass ich Schauspielerei noch intensivieren und studieren will, oder ich merke, dass es nur ein Hobby ist und ich beruflich noch etwas anderes tun muss.

Jonas:
Dabei kannst du bereits jetzt eine gewisse Berufserfahrung vorweisen, schließlich hast du schon in jungen Jahren mit der Schauspielerei begonnen. Erinnerst du dich noch an dein erstes Projekt?

Elisa:
Ja, das war ein Werbespot für „Kellogg’s Frosties“ auf Teneriffa. Da war ich ungefähr zehn oder elf Jahre alt. Ich hatte auch mal ein Musical-Casting, durch das ich aber ziemlich schnell gemerkt habe, dass Singen gar nichts für mich ist – obwohl ich es liebe, selbst Musik zu machen.
Nach dem Musical-Casting war ich ziemlich enttäuscht und habe mich deshalb ohne Wissen meiner Eltern im Internet bei einer Schauspielagentur beworben, die Kindercastings für junge Rollen durchführen. Die Leute von der Agentur haben sich auch tatsächlich gemeldet – und so bin ich dann irgendwie in die Schauspielerei reingerutscht.

Jonas:
Und welcher war der erste Film, in dem du mitgewirkt hast?

Elisa:
Das war „Das Geheimnis von St. Ambrose“, in dem ich mit Ulrich Mühe spielen durfte. Wir haben damals insgesamt sechs Wochen in Schottland gedreht, das habe ich total genossen.

Eigentlich war ich ja immer jemand, der ziemlich schüchtern ist und sich nicht gerne in den Vordergrund drängt.

Jonas:
Wusstest du nach diesem ersten Film bereits, dass du so etwas öfter machen willst?

Elisa:
Eigentlich war ich ja immer jemand, der ziemlich schüchtern ist und sich nicht gerne in den Vordergrund drängt. Aber als damals zum ersten Mal die Kamera auf mich gerichtet war, war diese Schüchternheit komplett vergessen. Ich hatte das Gefühl, plötzlich in einer anderen Welt zu sein.
Richtig klick gemacht hat es aber erst bei dem zweiten Film, in dem ich mitspielen durfte: „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ mit Veronica Ferres in der Hauptrolle. Das war eine coole Zeit! Wir haben in Rumänien, Helsinki und Leipzig gedreht, das hat damals alles so viel Spaß gemacht. Durch dieses Projekt hat es mich gepackt und ich wusste, dass ich das unbedingt weitermachen will.

Jonas:
Und das hat alles einfach so neben der Schule funktioniert?

Elisa:
Irgendwie schon. Bei meinen ersten Projekten war ich ja auch noch in der Grundschule, da war das nicht so wild. Außerdem hatte ich dort zum Glück supertolle Lehrer, die mich sehr unterstützt haben.
Als ich aufs Gymnasium kam, wurde es allerdings etwas komplizierter. Die Lehrer hatten eine sehr strenge Haltung und gaben mir klar zu verstehen: „Wenn du fehlst, fehlst du. Dann musst du schauen, wie du dir den Stoff aneignest. Wenn du zurückkommst, erwarten wir, dass du auf dem gleichen Stand bist wie die anderen.“ Das war im ersten Moment hart, aber ich hatte auch diesmal wieder Glück: Meine Klassenkameraden haben für mich mitgeschrieben, mir das Material zukommen lassen und mich total unterstützt. Im Endeffekt habe ich gar nicht so viel verpasst, denn gedreht habe ich meistens während der Ferien.
Dabei war nicht nur meine Mutter sehr darauf bedacht, dass ich nicht zu viele Fehltage habe: Mir selbst war es mindestens genau so wichtig, nicht abgehängt zu werden. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich auch gerne zur Schule gegangen.

Jonas:
Als du auf dem Gymnasium warst, hast du auch deinen ersten Kinofilm gedreht.

Elisa:
Genau, das war der Debutfilm „Draußen am See“ von Felix Fuchssteiner. Wir haben damals im Jahr 2009 in meinen Sommerferien gedreht, insgesamt gab es 35 Drehtage. Ich habe ein 14-jähriges Mädchen gespielt, das zusehen musste, wie seine Mutter ein kleines Baby umbringt. Diese Tat hat das Mädchen innerlich total zusammenbrechen lassen.
Der Dreh damals war hart. So habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass Schauspielerei wirklich richtige Arbeit ist. Vorher war das für mich ja alles mehr oder weniger nur ein Spaß.
Nach den 35 Drehtagen war ich daher auch ziemlich erschöpft und hatte einige Zeit daran zu knabbern. Aber im Endeffekt hat sich die Arbeit total gelohnt: Als ich den fertigen Film gesehen habe, war ich total glücklich.

Elisa lächelt. Ihr freundliches und offenes Wesen wirkt gerade so unerschütterlich wie die alten Gemäuer des Ballhauses, die seit einem Jahrhundert allen Widrigkeiten trotzen und damit ein klares Bekenntnis zum Optimismus ablegen.

Der Sommer sitzt nach wie vor mit uns am Tisch und verfolgt gespannt, was Elisa zu erzählen hat. Als hätten sie sich vorher abgesprochen, werfen sie sich gegenseitig die Bälle zu: Lächelt sie ihn an, kontert er mit Sonnenstrahlen. Taucht er den Himmel in sein leuchtendes Blau, funkeln ihre Augen in derselben Farbe zurück – wie zwei Schauspieler, die gerade auf der Bühne stehen und auf das Spiel des jeweils anderen reagieren.

Jonas:
Fällt es dir leicht, dich von solchen komplexen und intensiven Rollen wieder zu lösen?

Elisa:
Ich glaube, dass ich das recht gut kann. Trotzdem nehmen einen manche Rollen natürlich mehr mit als andere. Als ich zum Beispiel vor drei Jahren „Fliegende Fische müssen ins Meer zurück“ gedreht habe, hatte ich eine Regisseurin, die mich emotional sehr gefordert hat.
Außerdem war ich damals erst 16 Jahre alt und zum ersten Mal in meinem Leben für sechs Wochen komplett von zuhause weg – ohne Familie und Freunde allein in einem kleinen Dorf in der Schweiz, wo wir gedreht haben. Wenn ich abends endlich in meinem Bett lag, war ich ziemlich fertig. Die intensive Rolle und das Alleinsein waren in gewisser Weise eine doppelte Herausforderung für mich.

Jonas:
Vor kurzem feierte der Kinofilm „Das Wochenende“ Premiere, in dem du die Rolle der Doro spielst. War es für dich eine besondere Erfahrung, neben Größen wie Katja Riemann, Barbara Auer oder Sebastian Koch zu spielen?

Elisa:
Lustigerweise wusste ich in der ersten von insgesamt drei Castingrunden noch gar nicht, dass dieser Film ein so großes Ding wird. Umso größer war dann natürlich die Überraschung, welche großen Namen für den Streifen besetzt sind. Es war toll, mit diesen Schauspielern drehen zu dürfen.

Jonas:
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Bernhard Schlink und thematisiert die RAF-Vergangenheit von vier Personen, die nach knapp zwanzig Jahren wieder aufeinandertreffen und ein gemeinsames Wochenende in einem Landhaus verbringen. Wie hast du dich auf dieses politisch wie gesellschaftlich immer noch heikle Thema RAF vorbereitet?

Elisa:
Ich hatte aus der Schule eine gewisse Grundkenntnis. Darüber hinaus habe mich aber natürlich auch ein wenig eingelesen und mir beispielsweise den Film „Der Baader-Meinhof-Komplex“ angeschaut.
Allerdings ist „Das Wochenende“ in erster Linie kein politischer Film, sondern stellt die zwischenmenschlichen Beziehungen und Problematiken der Akteure in den Vordergrund. Das unterscheidet das Drehbuch auch im Wesentlichen vom Roman, wo die politische Komponente viel stärker im Fokus steht. So ging es der Regisseurin und Autorin Nina Grosse im Wesentlichen um die Charaktere an sich: Sie wollte zeigen, was sich in deren Köpfen im Laufe der Zeit verändert hat – und was nicht.
So haben wir uns im Rahmen der Vorbereitung auch alle in dem Haus getroffen, in dem wir später gedreht haben, und dort tatsächlich vorab ein gemeinsames Wochenende verbracht. Wir haben in den zwei Tagen viel gelesen, wichtige Szenen durchgenommen und auch schon mit den Proben begonnen. Das war enorm hilfreich, weil wir uns dadurch alle kennenlernen konnten, bevor der Dreh überhaupt losging.

Jonas:
Man hat das Gefühl, in den 98 Filmminuten alle zwischenmenschlichen Konflikte zu erleben, die man so aus dem wahren Leben kennt. Macht das die Vorbereitung auf die Rolle in solch einem Film einfacher? Man muss ja eigentlich nur wahres Leben spielen…

Elisa:
Ja, vielleicht. Für mich war es aber eher wichtig, sich den Kopf nicht so sehr über die Materie an sich zu zerbrechen, sondern einfach zu spielen und zu sehen, wie es sich entwickelt.
In dem Zusammenhang war es gut, vorher schon mit allen Darstellern zusammengesessen zu haben. So konnten wir darüber reden, welche Intention eine Szene hat, wo sie uns hinführt, wo wir vor der Szene waren und wo wir als Figur hinwollen. Dadurch hat sich dann in der Szene selbst einfach sehr viel ergeben, das Spiel wirkte wahrhaftig und sehr authentisch.

Ich finde es immer komisch, wenn Schauspieler erzählen, wie viel sie sich bei anderen abgeschaut haben.

Jonas:
Hast du von deinen Kollegen schauspielerisch etwas mitgenommen?

Elisa:
Ich finde es immer komisch, wenn Schauspieler erzählen, wie viel sie sich bei anderen abgeschaut haben und dadurch jetzt wissen, wie die das so machen. Ich finde, jeder sollte seine ganz eigene Art und Weise entwickeln, wie er spielt und an seine Rolle herantritt.
Insgesamt war es aber natürlich toll, mit diesen außergewöhnlichen Schauspielern in „Das Wochenende“ zusammenzuarbeiten, weil alle so glaubwürdige Darsteller waren.

Wir unterbrechen unsere Unterhaltung für einige Minuten und machen uns langsam auf den Weg in Richtung Naturkundemuseum, wo wir Elisa fotografieren wollen.

Von den alten Mauern des Ballhauses verabschieden wir uns mit dem Versprechen, recht bald wiederzukommen, um ihre unsichtbaren Baumringe der Erinnerung wieder ein kleines Stückchen wachsen zu lassen.

Gemütlich schlendern wir die Auguststraße entlang, stets begleitet vom Berliner Sommer, der uns nicht aus den Augen lässt. Schließlich biegen wir in die Oranienburger Straße ein, kaufen Eis und bleiben für eine Weile stehen. Der kühle Nachtisch will schnell verzehrt werden, schließlich schaut uns der Sommer gerade direkt über die Schulter und bringt das Eis zum Schmelzen.

Jonas:
Im September kommst du zurück nach Berlin. Wie war es, fast ein Jahr von seiner Heimatstadt getrennt zu sein?

Elisa:
Komisch. London ist ja vollkommen anders als Berlin und doppelt so vollgepackt mit Menschen. Die Stadt ist irgendwie viel geschäftiger, alle Leute sind total konsumorientiert und shoppen rund um die Uhr. Zudem ist London viel internationaler – wenn man will, kann man innerhalb der Stadt in seinem eigenen Land wohnen.
Das war zwar am Anfang alles recht spannend, aber mittlerweile bin ich richtig müde von dem Leben dort. Nichts ist von Dauer in London, man erlebt ein ständiges Kommen und Gehen. Ich war so froh, als ich mir einen gewissen Freundeskreis aufgebaut habe, der aber leider nicht lange hielt: Nach drei Monaten waren alle Leute wieder weg.
Die Zeit in London habe ich schon sehr genossen, aber ich freue mich auch, wenn ich wieder zurück nach Berlin komme – und viele schöne Erinnerungen im Gepäck habe.

Ich bin ein Mensch, der einfach von vielen Freunden umgeben sein muss. Ansonsten werde ich sehr schnell einsam.

Jonas:
Was an Berlin hast du denn in London am meisten vermisst?

Elisa:
Meine Familie und meine Freunde. Ich bin ein Mensch, der einfach von vielen Freunden umgeben sein muss. Ansonsten werde ich sehr schnell einsam.

Jonas:
Du findest also dein Zuhause eher in bestimmten Personen als an bestimmten Orten?

Elisa (schweigt für einen Moment):
Ja, das könnte man so sagen.

Jonas:
Dann kannst du ja überall auf der Welt zuhause sein…

Elisa (lacht):
Ja, aber nur, wenn dort alle meine Lieben bei mir wären. Aber eigentlich fühle ich mich in Berlin am ehesten zuhause. Die Stadt hat einfach einen gewissen Flair, den ich sehr mag: Auf der einen Seite ist Berlin eine Metropole, auf der anderen Seite gibt es Viertel, die wie kleine Dörfer wirken. Ich liebe es daher total, in meinem Kiez in Pankow unterwegs zu sein. Ich treffe da einfach so viele Menschen, die ich mag. Und dieses Miteinander dort ist viel schöner als die Anonymität Londons.

Jonas:
Dein persönliches Berliner Souvenir sind also deine Erinnerungen an den Pankow-Kiez…

Elisa:
Ganz genau, das ist mein Andenken.

Dicht gefolgt vom Sommer spazieren wir über die Chausseestraße und biegen in die Invalidenstraße ein. Nach wenigen Metern erhebt sich vor unseren Augen ein imposanter Komplex aus historischen Gebäuden. Wo im 19. Jahrhundert noch die Königliche Eisengießerei zu Berlin angesiedelt war und massive Schätze für die Ewigkeit gefertigt wurden, stellen heute Naturkundemuseum und Institut für Biologie der Öffentlichkeit ihr kostbares Wissen zur Verfügung.

Gerade unterziehen sich die ehrwürdigen Gemäuer einer kleinen Schönheitskur: Ihre Fassade wird behutsam renoviert, denn sie soll gewappnet sein für das, was sich Zukunft nennt – und die Erinnerung lebendig halten an eine andere Zeit.

Elisa Schlott und der Berliner Sommer betreten die Bühne – und erneut beginnt das Spiel der beiden gut gelaunten Protagonisten: Auf Elisas Lächeln und funkelnde Augen reagiert der Sommer mit einem Meer aus Sonnenstrahlen und absoluter Wolkenlosigkeit.

Was würde man nur darum geben, einige der Sonnenstrahlen einzufangen und in den unerbittlichen Winter zu tragen, der in wenigen Monaten das frische Blau zu tristem Grau verwandeln wird. Wie ein kleines Souvenir müsste man die Strahlen einfach in die Tasche stecken können. So hätte man immer ein Andenken an die wundervolle Juniwärme bei sich, wenn es draußen wieder nass ist und kalt.

Elisa hält für einen Moment inne, schließt die Augen und lächelt. Sanft breitet sich die Nachmittagssonne auf ihrem Gesicht aus.

Das Schönste, was man von Berlin mitnehmen kann, ist der Sommer.

Man muss ihn nur im Herzen tragen.

Dann bleibt er auch im Winter.


Jannik Schümann

Interview — Jannik Schümann

Lichter der Stadt

Im Mai 2011 sind wir Jannik Schümann zum ersten Mal begegnet sind. Zwei Jahre später treffen wir den aufstrebenden Jungschauspieler wieder – und verbringen mit ihm einen Tag in New York. Ein Gespräch über den Broadway, seine neue Rolle im Film „Spieltrieb“ und über das Gefühl, nach Hause zu kommen.

14. Juli 2013 — MYP N° 11 »Mein Souvenir« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Stephen Gwaltney

Damals regnete es, das weiß man noch. Zwar erst etwas mehr, dann wieder weniger. Aber es regnete.

Und draußen war es grau, nichtssagend grau: Man musste Schutz suchen in einem Café im Prenzlauer Berg und sich mit dem leuchtenden Orange vieler kleiner Lampen verbünden, um gegen dieses elende Grau anzukämpfen – und um eine interviewwürdige Atmosphäre für einen jungen Schauspieler zu erschaffen.

Damals, das war im Mai 2011. Und der junge Schauspieler, das war Jannik Schümann. Erst wenige Monate vorher war der gebürtige Hamburger nach Berlin gezogen, um sich ganz und gar seinem Beruf zu widmen. Um sich freizuschwimmen und zu wachsen. An der Stadt, am Leben und an sich selbst.

Als Kind wurde Jannik von seiner heutigen Agentin entdeckt – in einer Tankstelle beim Süßigkeiten kaufen. Aus purem Zufall. Und so kam es, dass er Schauspieler wurde und wir an jenem Nachmittag im Mai 2011 zum Interview verabredet waren. Damals flüchteten wir vor dem Grau in das Café mit dem orangenen Licht. Wir redeten über sein Leben, seine Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Und über seine große Leidenschaft für die Schauspielerei.
Zwei Jahre ist es also her, dass wir uns zum ersten Mal gegenübersaßen. Und wie damals treffen wir Jannik auch heute an irgendeinem Tag im Mai zum Interview. Nur dass es diesmal nicht Berlin ist. Sondern New York.

Der 21-jährige ist für einige Wochen in der großen Stadt, weil er sich eine kleine Auszeit nimmt und für einen Moment verschnaufen will. Er hat viel gearbeitet in den letzten Monaten, in den letzten Jahren.

Unser heutiger Treffpunkt heißt Ecke 8th Avenue / West 40th Street, Jannik wartet bereits. Es ist gerade einmal 9:30 Uhr, doch während das heimatliche Berlin um diese Uhrzeit erst zögerlich erwacht, ist New York schon längst auf den Beinen – oder vielleicht immer noch? Wer weiß das schon.

Wir beginnen den Tag eher unamerikanisch mit Kaffee und Croissant und lassen uns von dem geschäftigen Menschenstrom aufsaugen, der entlang der 8th Avenue fließt.. Der Strom treibt uns nach Norden Richtung Times Square – jenem Ort, der wohl wie kein zweiter als Sinnbild für das niemals schlafende, aufgeregte und exzessive New York steht.

Jonas:
Du bist bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres zu Besuch in New York. Wird die Stadt irgendwann zur Routine?

Jannik:
Ganz und gar nicht! Als ich vor drei Wochen nach New York reingefahren bin und die Skyline wieder vor Augen hatte, war die Aufregung genau so groß wie beim ersten Besuch vor einem Jahr – mein Herz ist quasi aus dem Körper herausgesprungen. Irgendwie ist es jedes Mal wieder ein total beeindruckendes Gefühl, weil die Stadt einen magisch anzieht.

Jonas:
Gibt es denn eine Ecke in New York, die dich besonders reizt?

Jannik:
Ja, tatsächlich hat der zentrale Theaterdistrikt rund um den Times Square eine absolute Magnetfunktion für mich. Letztes Jahr habe ich es erst nach vier Tagen geschafft, mich von dieser Gegend zu lösen und mal weiter downtown zu fahren, wo es diese typischen Straßenraster nicht mehr gibt.
Ich fand es im Nachhinein total schade, dass ich nicht früher auf größere Entdeckungsreise im East und Village gegangen bin, weil ich die Gegend dort ebenfalls total mag. In den kleinen und beschaulichen Straßen kann man sich total verlieren, weil New York einen auch gerade dort in seinen Bann zieht. Da ich die Stadt aber noch besser kennenlernen wollte, habe ich diesmal meine Fühler weiter ausgestreckt und mir auch andere Ecken genauer angesehen. Trotzdem war auch bei diesem zweiten New York-Aufenthalt wieder der Theaterdistrikt die erste Anlaufstelle.

Jonas:
Bereits vor zwei Jahren hattest Du uns mit glänzenden Augen verraten, wie sehr dein Herz für Musicals schlägt. Diese Leidenschaft scheint also ungebrochen…

Jannik:
Oh ja – in New York verging bisher kein Abend, an dem ich nicht in einer Broadway-Show war! Meine große Leidenschaft ist und bleibt einfach das Musical, daran hat sich nichts geändert.

Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals gefeiert werden, der versteht, warum der Broadway das Nonplusultra ist.

Jonas:
Leider wird in Deutschland das Genre des Musicals im Gegensatz zu den USA eher stiefmütterlich behandelt.

Jannik:
Das stimmt. In den Staaten haben die Menschen ein ganz anderes Gefühl für diese Kunstform. Und überhaupt hat das Musical hier einfach ein viel höheres gesellschaftliches Standing. Als Darsteller kann man einfach nicht weiter aufsteigen als am Broadway zu spielen. Das ist das Höchste der Gefühle, denn der Broadway ist weltweit Nummer eins.
Es ist unglaublich, wie hoch die Qualität ist, die einem hier auf den Bühnen geboten wird. Alles ist auf den Punkt genau: Jede Bewegung sitzt, jede Stimme ist perfekt, jeder Ton wird getroffen und sogar die Tonmischung ist genial. Daher war für mich bisher jeder Abend in New York ein Highlight.
Und auch das Publikum ist ein ganz anderes als in Deutschland: Im Theater und in den Shows sieht man wesentlich mehr junge Menschen als bei uns. Das liegt wahrscheinlich daran, dass hier für die meisten Vorstellungen wenige Stunden vor Beginn Tickets zum Discountpreis verkauft werden. Das macht die oft sehr teuren Karten für Schüler und Studenten erschwinglich.
Vielleicht sollten die deutschen Theater und Musicals auch mal überlegen, ob sie nicht verstärkt solche Last-Minute-Tickets anbieten wollen. Dann wären die Häuser bestimmt nicht so leer.
Es gibt übrigens noch einen weiteren Unterschied zu Deutschland: Während bei uns hauptsächlich mit den Stücken selbst geworben wird, stehen in den USA vor allem die Stars im Vordergrund, mit deren Gesichtern und Namen man die Show verkauft. Dementsprechend reagiert auch das Publikum ganz anders, wenn bekannte Darsteller die Bühne betreten.
Sobald beispielsweise am Broadway im Musical „Phantom der Oper“ das Phantom zum ersten Mal in Erscheinung tritt, wird frenetisch applaudiert und gejubelt. Das passiert bei uns eher selten. Wer einmal erlebt hat, wie die Stars hier in den Musicals gefeiert werden, der versteht, warum der Broadway das Nonplusultra ist – und warum jeder Darstellers auf das Ziel hinarbeitet, hier irgendwann einmal aufzutreten.

Vor dem Port Authority Bus Terminal machen wir Halt und drehen unsere Köpfe nach rechts: Blitzartig springt uns die Stein, Glas und Farbe gewordene Reizüberflutung des Times Square ins Gesicht – ein permanentes Zuviel, das sich aus jeder Wandpore drückt.

Fasziniert von dieser übermächtigen Imposanz werfen wir uns in den bunten Ameisenhaufen. Gigantische Broadway-Werbeplakate hängen wie Ikonenbilder an den Fassaden der Häuserschluchten und präsentieren die Antlitze der Musical-Stars.

Ziemlich große Bühne für die große Bühne.

Jannik strahlt über beide Ohren, in seinen Augen spiegeln sich die Lichter der großen Stadt. Links und rechts von uns reiht sich ein Theater an das andere, ständig buhlend um die Gunst des Zuschauers und um die Krone der besten Show. Hier liegen sie also, die Bretter, die die Welt bedeuten.

Jonas:
Als wir uns im Mai 2011 zum ersten Mal trafen, hattest Du gerade „Homevideo“ abgedreht. Danach hat sich bei dir ziemlich viel getan…

Jannik:
Ja, dieses Projekt hat mir beruflich einen kräftigen Schub gegeben: Nach „Homevideo“ habe ich richtig viel gearbeitet und tolle Rollen gespielt. Ich bin total glücklich darüber, wie sich alles entwickelt hat.

Jonas:
Eines der bemerkenswertesten Projekte ist dabei zweifelsohne der Film „Spieltrieb“, in dem du für eine der Hauptrollen besetzt wurdest.

Jannik:
Absolut! Zwar gab es die Anfrage für den Film sowie die erste Castingrunde bereits, bevor wir uns im Mai 2011 zum Interview trafen, allerdings wurde das Projekt aufgrund diverser Finanzierungsfragen erst einmal wieder auf Eis gelegt. Nachdem ich lange Zeit nichts mehr davon gehört hatte, gab es Ende 2011 plötzlich grünes Licht und es ging weiter.
Ich wurde zur zweiten und dritten Castingrunde Anfang Januar 2012 eingeladen, weil dort verschiedene Darsteller-Konstellationen ausprobiert wurden. Danach habe ich zwei qualvolle Wochen mit Warten verbracht, bis endlich der erlösende Anruf kam und ich die Zusage hatte, für die Rolle des Alev besetzt zu sein. Ich bin in die Luft gesprungen und habe geschrien vor Glück! Und im Mai 2012 haben wir dann in München angefangen zu drehen.

Jonas:
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh – ein wundervolles und fesselndes Buch, das sich den Theorien Nietzsches verschreibt und durch das man sich im wahrsten Sinne des Wortes durcharbeiten muss. Man stößt in dem Buch auf so viele wichtige Sätze, die sehr viel Zeit und Raum brauchen. Wie bringt man diese Informationsgewalt in einem Film unter?

Jannik:
Das Buch ist eigentlich nicht verfilmbar, nicht nur wegen der besonderen Sprache und der vielen schwerwiegenden Nietzsche-Sätze. Das Thema ist einfach ziemlich heikel, schließlich geht es um das Ziel des 18jährigen Alev, Macht über andere Menschen auszuüben und sie zu kontrollieren. Er ist fest davon überzeugt, dass alle Menschen manipulierbar sind, wenn man nur die entsprechenden Weichen stellt und an den entscheidenden Rädchen dreht. Es geht ihm nicht um Gut oder Böse, sondern um die Logik der Dinge – das ist seine sogenannte Spieltheorie.
Alev ist gerade erst auf eine neue Schule gewechselt, wo er sich prompt neue Opfer sucht: So stiftet er seine Mitschülerin Ada dazu an, den Sportlehrer Smutek zu verführen – und Ada gibt sich aus Liebe zu Alev diesem perfiden Plan hin.
Als ich das Buch im Rahmen der Castingvorbereitungen zum ersten Mal gelesen hatte, dachte ich nur: Ach du heilige Nuss, wie soll ich das bloß spielen, wenn ich die Rolle bekomme? Und wie bringe ich das meinen Eltern bei, was ich da mache? Ich habe im echten Leben noch nie einen Menschen kennengelernt, der ansatzweise so wäre wie Alev.

Rückblickend kann ich sagen: Es gab für mich noch nie eine so große Herausforderung wie „Spieltrieb“.

Jonas:
Die Frage ist ja, ob es überhaupt einen Menschen gibt, der so ist wie Alev.

Jannik:
Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann ich es mir nicht vorstellen. Selbst einer so fiesen Figur wie der des Henry aus „Homevideo“ ist man ja irgendwann schon einmal in seinem Leben begegnet oder hat von ihr gehört.

Alev unterscheidet sich dagegen von allem, was ich bisher kannte – alleine schon durch seine Sprache. Eigentlich redet er nie „normal“, sondern nur in bedeutungsschweren Sätzen und Zitaten. Das zieht sich konstant durch das gesamte Drehbuch und somit auch durch den kompletten Film.
Bevor die Dreharbeiten losgingen, hatte ich absolut keine Ahnung, wie ich um Himmels Willen diese Texte über die Lippen bekommen soll, sodass es für das Publikum glaubhaft ist.
Und selbst während der Dreharbeiten haben wir uns manchmal gedacht: Ob das alles in allem so funktioniert? Ich hatte anfangs echt ziemlich Muffensausen, aber letztendlich hat es doch geklappt. Rückblickend kann ich sagen: Es gab für mich noch nie eine so große Herausforderung wie „Spieltrieb“.

Jonas:
Wie ist es euch gelungen, die 600 Seiten und rund zwei Jahre erzählte Zeit des Romans in 90 Minuten Film zu packen?

Jannik:
Man muss den Film als ein eigenes Werk betrachten: Um das Wesentliche dieses 600-Seiten-Buchs in einem 90-Minuten-Film unterbringen zu können, ließ man beispielsweise Alev direkt in der ersten Filmszene auftreten, obwohl er im Roman erst viel später und nach einer erzählten Zeit von etwa einem Jahr die Bühne betritt. Man wollte die Handlung der 90 Filmminuten konsequent auf das Dreieck Alev, Ada und Smutek maßschneidern. Daher wurde etwa die Hälfte aller Roman-Figuren gestrichen. Und während man beispielsweise auf der einen Seite Personen wie Alevs Eltern oder seine Zimmergenossen im Internat stärker beleuchten musste, fielen dafür auf der anderen Seite Rollen raus, die im Buch hauptsächlich die Figur der Ada berühren und somit für die Dreiecksbeziehung Alev-Ada-Smutek keine unmittelbare Bedeutung haben.

Jonas:
Wie hast du dich dem Drehbuch genähert und dich auf diese komplexe Rolle vorbereitet?

Jannik:
Ich habe das Drehbuch schlicht und einfach auswendig gelernt, weil es mir sonst nicht möglich gewesen wäre, diese schwerwiegenden Sätze so zu sprechen, als wären sie normale Alltagssprache.
Außerdem war es sehr hilfreich, dass im Drehbuch die einzelnen Seiten nur auf der Vorderseite bedruckt waren. Wenn ich es also aufgeschlagen habe, gab es zwei Hälften: Der rechte Teil war beschriftet, der linke dagegen frei. Dort konnte ich meine Anmerkungen und Analysen zu jedem einzelnen Satz meiner Rolle aufkritzeln.
Davor musste ich aber erst einmal Nietzsche verstehen und mich mit seinen Theorien auseinandersetzen, sonst wäre es mir wahrscheinlich nicht gelungen, Alevs Sätze so umfangreich zu analysieren und für mich persönlich zu deuten. Ohne Nietzsche hätte ich Alev nicht verstanden.
Das ist ja auch überhaupt das Abgefahrene an der Schauspielerei: Dass man sich durch die Vorbereitung auf Rollen mit Themen auseinandersetzt, mit denen zumindest ich mich eher nicht mal so eben auseinandergesetzt hätte oder mich in absehbarer Zeit detailliert befassen würde.

Jonas:
Ist Nietzsche etwas, das sich in dir manifestiert hat und über die Rolle hinaus präsent geblieben ist?

Jannik:
Natürlich entwickelt man sich durch die Auseinandersetzung mit einer solchen Problematik auch intellektuell ein Stückchen weiter und nimmt das über die Rolle hinaus für sein Leben mit, trotzdem muss man zu den Gedanken und Vorstellungen Alevs eine klare Grenze ziehen. Alev und ich, wir beide haben nichts gemeinsam.

Jonas:
Hattest du denn mit Alev etwas gemeinsam, als du die Rolle gespielt hast?

Jannik:
Ich würde sagen, dass ich Alev war.

Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin, war ich plötzlich nicht mehr Jannik.

Jonas:
War es für dich schwierig, dich von dieser Rolle wieder zu trennen, mit der du so verwachsen warst?

Jannik:
Ehrlich gesagt hat mir das Kostüm ziemlich dabei geholfen, die Rolle wieder loszuwerden. Wie im Buch fällt Alev auch im Film durch seine teure und exzentrische Kleidung auf, durch die er sich von seinen Klassenkameraden in krasser Weise unterscheidet: Er trägt Designeranzug, spitze Lederschuhe und Burberry-Mantel.
Wenn ich morgens in den Anzug geschlüpft bin, war ich plötzlich nicht mehr Jannik. Als wäre plötzlich ein Hebel umgelegt worden, dachte ich wie Alev, bewegte mich wie Alev, redete wie Alev. Und umgekehrt konnte ich abends wieder Jannik sein, wenn ich den Anzug abgestreift habe.

Jonas:
Hattest du nicht die Befürchtung, dass das tiefe Eintauchen in diese Rolle dein eigenes Wertesystem beeinflussen könnte?

Jannik:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich würde sagen, dass ich durch „Spieltrieb“ eine gewisse Wachsamkeit entwickelt habe. Es werden einem viele Dinge klarer, vor allem in Bezug auf das menschliche Handeln und die Gefahr der Manipulierbarkeit.

Jonas:
Hast Du bei der Analyse deiner Rolle versucht herauszufinden, wie Alev überhaupt zu dem Menschen werden konnte, der er ist?

Jannik:
Naja, Alev ist ein eiskalter Mensch, der nichts für die Gefühle anderer übrig hat und selbst auch keine Emotionen zulässt – bis auf wenige Momente. Und in genau diesen wenigen Momenten scheint er mit seinen Gefühlen total überfordert zu sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass in seiner Kindheit irgendetwas Schlimmes passiert sein muss, das dafür verantwortlich ist.
Im Buch wie im Film bleibt dieser Aspekt aber absolut offen. Daher muss sich jeder Zuschauer ein eigenes Bild machen und für sich selbst eine mögliche Erklärung finden. Mir jedenfalls hat es sehr geholfen, zu Alev eine fiktive Biographie anzulegen, durch die ich halbwegs nachvollziehen konnte, warum dieser Mensch so ist, wie er ist.

Jonas:
Wie werden deiner Meinung nach die Zuschauer auf „Spieltrieb“ reagieren?

Jannik:
Ich glaube, dass dieser Film sehr provozieren wird. Es gibt viele beklemmende, traurige und teils schockierende Szenen, bei denen ich mir vorstellen kann, dass die Zuschauer großen Schmerz empfinden werden.
Wenn das passieren würde, wäre ich sehr zufrieden – denn dann wüsste ich, dass ich als Schauspieler funktioniert hätte. Einige der Szenen sind so sogar so abstoßend, dass den Zuschauern gar nichts anderes übrig bleiben wird als mich zu hassen. Das wäre großartig, denn dann hätte ich als Schauspieler wirklich gewonnen.

Überwältigt vom Farb- und Lichtermeer des Times Square setzen wir unsere kleine Reise durch Manhattan fort und laufen einige Zeit den Broadway entlang Richtung Süden. Irgendwie brauchen wir mehr Luft, mehr Freiheit, mehr Sonne: Hier in den tiefen Häuserschluchten verirrt sich einfach zu wenig natürliches Licht auf den Boden. Am Herald Square entscheiden wir uns daher kurzerhand, in die U-Bahn zu steigen und downtown zu fahren. Und so geht es im F-Train ruppig, aber zügig unter dem East River hindurch nach Brooklyn.

In der U-Bahn sitzen wir uns schweigend gegenüber, schauen einander an, beobachten andere.

Während Janniks hellblauen Augen durch den Wagon wandern und unauffällig die nähere Umgebung abtasten, hüllen die schummrigen Deckenleuchten und das matte Metall der Wandverkleidung den Innenraum in zartes Gold.

Der F-Train hat mittlerweile den East River passiert und ruckelt an der York Street ein. Wir finden, dass wir genug Zeit im Untergrund verbracht haben, verlassen die U-Bahn und streben Richtung Ausgang.

Kaum sind wir die Treppen hinaufgestiegen, begrüßt uns die hohe Mittagssonne mit ihrem grellsten Weiß.

Wir schauen uns um: Das also ist Brooklyn. Irgendwie schön hier, alles wirkt so ruhig und beschaulich. Zufrieden schlendern wir zum Brooklyn Bridge Park, lassen uns auf einer großen Wiese nieder und bestaunen die Skyline von Manhattan, die direkt vor unseren Füßen liegt.

Jonas:
Am 15. September wirst du im Berliner Tatort zu sehen sein, wo Du einen jugendlichen U-Bahn-Schläger spielst, der verdächtigt wird, eine Person zu Tode geprügelt zu haben – ebenfalls eine Rolle, die die Zuschauer eher hassen als lieben werden.

Jannik:
Ja, das stimmt. Dieser Tatort basiert auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2009. Am Münchener S-Bahnhof Solln wurde der 50-jährige Familienvater Dominik Brunner ermordet, weil er einige Schüler vor jugendlichen Schlägern beschützen wollte. Im Berliner Tatort, den wir vor kurzem abgedreht haben, ist die Handlung aber etwas abgewandelt. Trotzdem geht es um Zivilcourage und die Tatsache, dass die Leute eher wegsehen als eingreifen.
Ich bin total dankbar, dass ich diese Rolle spielen durfte. Ich mag es einfach, wenn ich Charaktere darstellen kann, die meilenweit entfernt sind von meiner eigenen Persönlichkeit. Ich übernehme zwar auch ganz gerne mal eine Rolle, in der ich der Schwarm der Schule bin und mich alle lieben, aber das andere ist für mich doch irgendwie eine größere Herausforderung.

Jonas:
Wie verlief der Dreh?

Jannik:
Der Dreh war in zweierlei Hinsicht eine außergewöhnliche Erfahrung. Zum einen hatte ich während der gesamten Produktion mit einem richtig starken grippalen Infekt zu kämpfen, weshalb ich mich immer noch wundere, wie ich diesen Dreh überstehen konnte. Zum anderen war es aber natürlich trotzdem toll, mit Dominic Raacke und Boris Aljinovic zu drehen. Der Tatort ist ja eine solche Institution im deutschen Fernsehen, dass man anfangs dachte, man würde tatsächlich vor den Kommissaren Ritter und Stark stehen.
Daher war ich im ersten Moment schon ein wenig eingeschüchtert, was sich aber nach kurzer Zeit gelegt hat. Es macht sehr viel Spaß, mit den beiden zu drehen und zu arbeiten.

Jonas:
Du beginnst gerade mit den Vorbereitungen für deine Rolle im Film „LENALOVE“, bei dem Grimme-Preisträger Florian Gaag Regie führen wird. Dieser Film stellt ebenfalls einen starken Bezug zur Realität her – worum geht es genau?

Jannik:
Der Titel „LENALOVE“ bezieht sich auf den Nickname der jugendlichen Lena, die im Chat gemobbt wird und daraufhin flieht. Ich spiele den 18-jährigen Tim, der der große Schwarm von Lena ist und sie am Ende rettet. „LENALOVE“ ist interessanterweise der erste Kinofilm, der sich dem Thema Cybermobbing widmet. Die Dreharbeiten dazu beginnen im Oktober.

Jonas:
Da spielst du aber ausnahmsweise mal keinen Bösewicht…

Jannik:
Nein. Tim ist zwar auch nicht der nette Junge von nebenan, immerhin vertickt er Drogen und wohnt im Heim. Aber er ist auch keine Figur, die irgendwelche Menschen umbringt. Diese Rolle ist wieder etwas komplett anderes, auch was die Vorbereitung angeht. Zwar werde ich auch wie sonst auf die Straßen gehen und nach bestimmten Menschentypen schauen, aber diesmal wohl nach ganz anderen Charakteren. Darauf freue ich mich sehr.

Der Mittag ist ein gutes Stück älter geworden, die Sonne steht tiefer. Wir machen uns wieder auf den Weg zurück nach Manhattan, denn es zieht uns ins Greenwich Village – jener Gegend, in der Jannik sich so gerne verliert und fallen lässt. Wir wandern also die Promenade der Brooklyn Heights entlang und steigen an der High Street in den A-Train, der uns an der 14 Street ausspuckt.

Es Zeit ist für einen großen Americano. Und so betreten wir einen kleinen Coffeeshop am Jackson Square Park, wo wir uns an den großen Fenstern des Cafés niederlassen.

Janniks Augen tasten schon wieder ihre Umgebung ab, unauffällig wandern sie durch das kleine Café. Für einen Moment verharren sie bei einem Gast, ziehen nach wenigen Sekunden zum nächsten weiter und verlieren sich irgendwann im bunten Treiben auf der anderen Fensterseite des Coffeeshops.

Jonas:
Ist das Beobachten von Menschen grundsätzlich Teil deiner Vorbereitung auf Rollen?

Jannik:
Ja, allerdings ist es mir als Schauspieler wichtig, nicht einfach das Verhalten anderer Menschen zu kopieren, sondern eher ihre Gestik und Mimik in bestimmten Situationen zu studieren. Vor allem wenn sie sich unbeobachtet fühlen, offenbaren sich die interessantesten Details, z.B. wenn jemand im Café sitzt, liest und sich am Kopf kratzt. Und diese Details sind es, nach denen ich suche.

Jonas:
Sind diese Details in New York andere als in Berlin?

Jannik:
Ne, in New York ist alles nur etwas schneller und wirkt wie vorgespult. Alles ist irgendwie wie mal zwei. Aber davon abgesehen funktionieren Menschen in bestimmten Dingen auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich.

Jonas:
Welche Erkenntnisse bringst du außerdem aus New York mit, wenn du in wenigen Tagen wieder nach Berlin zurückfliegst?

Jannik:
Ich war jetzt vier Wochen hier, das ist eine irrsinnig lange Zeit. Ich habe das Gefühl, in diesen Wochen wieder ein Stückchen gewachsen zu sein in meinem Leben und finde es total schön, dass mein Reise-Stickeralbum um einige Andenken reicher geworden ist.
Letztes Jahr war ich noch als Tourist hier und bin in acht Tagen von Freiheitsstatue zu Empire State Building gehetzt. Jetzt jogge ich morgens durch den Central Park, schlendere durch die Gassen im Village und sauge die Häuserschluchten in mich auf – wie ein echter New Yorker. So fühlt es sich zumindest an. Und dabei ist der „places to be before you die“-Schatz in meinem Kopf wieder ein Stück größer geworden.

Mich begleiten immer die Gedanken an meine Freunde und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn ich nachhause komme.

Jonas:
Gab es ein Andenken an Berlin, das du mit nach New York gebracht hast?

Jannik:
Es ist eigentlich egal, wohin ich reise: Mich begleiten immer die Gedanken an meine Freunde und die Gewissheit, sie alle wiederzusehen, wenn ich nachhause komme.

Jonas:
Erinnerst du dich noch an den Moment, als deine Agentin dich vor vielen Jahren durch Zufall in einer Tankstelle entdeckt und angesprochen hat?

Jannik:
Ja, das habe ich noch sehr deutlich vor Augen.

Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck.

Jonas:
Hast du dich jemals gefragt, wie dein Leben wohl verlaufen wäre, wenn es diesen Zufall nicht gegen hätte?

Jannik:
Ich glaube nicht an Zufälle. Alles, was im Leben passiert, hat irgendeinen Sinn und Zweck. Sogar die kleinsten Kleinigkeiten haben eine Bedeutung und lassen einen wachsen – und darauf kommt es an.

Wir verlassen das kleine Café und steuern den Jackson Square Park auf der anderen Seite der Straße an. Nachdem wir dort einige Portraits geschossen haben, packen wir unser Equipment zusammen und winken ein vorbeifahrendes Taxi herbei.

Wir wollen den Tag im Central Park ausklingen lassen, jener grünen Lunge, die New York vor dem Ersticken bewahrt.

Und so liegen wir irgendwann einfach da und atmen tief die Luft der großen Stadt ein, die so friedlich vor uns liegt. Oder wir vor ihr.

Wir beobachten, wie das sanfte Licht des New Yorker Abends allmählich den Central Park in das gleiche zarte Gold hüllt, das uns mittags in der U-Bahn begegnet ist.

Jannik schweigt und richtet seinen Blick auf die imposante Skyline. Vergnügt lässt er seine strahlend blauen Augen von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer tanzen. Als sie den höchsten Punkt erreichen, ziehen sich die Mundwinkel des jungen Schauspielers weit nach oben – genau wie damals an jenem Nachmittag im Mai 2011.

Als es regnete und er das Grau besiegt hat.

Nur mit einem Lächeln.


Philipp Bloch

Submission — Philipp Bloch

Das Fenster

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text & Foto: Philipp Bloch

Der Anblick eines Andenkens lässt uns alle an etwas denken. Viele Menschen kaufen, verschenken oder erben Andenken, die an einen besonderen Moment oder eine geliebte Person erinnern sollen.

Ich dagegen bin anders. Ich bin gut im Wegschmeißen. Im Wegschmeißen von Dingen, die mich ständig dazu bringen, an das Vergangene zu denken. An schöne Momente, die – genau so – niemals wiederkommen werden. An Menschen, die es so nie wieder in meiner Gegenwart geben wird.

Ich kann mich nicht an alte Tage klammern. Das wäre falsch gegenüber meiner inneren Zuversicht. Es wäre Melancholie. Dieser anlastende Zustand macht mich nicht glücklich. Nein, er erdrückt mich.

Der Anblick eines Andenkens macht mich schwach. Er sagt meiner Seele: „Das war schön damals. Das wird so nie wieder passieren.“

An alte Zeiten denken, um sich darin verlieren zu können, lässt meine Seele leiden. Aber ich bin Optimist, ich will leben. In meinem Fokus steht die Hoffnung. Ich will sagen: „Es kommt wie es kommt. Lass es kommen.“ Das macht mich neugierig. Das macht mein Leben so lebenswert. Wie eine rasante Autofahrt, bei der hinter jeder Kurve etwas anderes auf mich wartet – eine Herausforderung, ein nicht vorhersehbares Hindernis. Genau an das möchte ich denken. Das ist mein Andenken. Der Gedanke an eine wunderbare Zukunft, der Gedanke an das Leben.

Und trotz meiner Lust am Wegschmeißen besitze ich Andenken. Vielleicht weil ich ein ganz normaler Mensch bin, vielleicht weil ich die Melancholie doch brauche.

Ich besitze aber nichts Großes. Vielmehr Bilder, Fotos, Motive. Das sind meine Andenken. Ein Ausschnitt aus einer vergangen Zeit, die so zwar nie mehr wieder kommt, aber die ein Fenster widerspiegelt, durch das ich kurz einmal durchschauen kann, um mich zu erinnern.

Falls ich jemals vergessen werde, wie es war, was dort war, wo ich war.


Jonathan Kluth

Submission — Jonathan Kluth

Schöner Morgen

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text: Jonathan Kluth, Foto: Roberto Brundo

Die Stadt ist wie ein Spiegel, in den man jeden Tag schauen muss. So lange ich da bin, erzählen mir die quadratischen Backsteine abgekühlte und brennende Geschichten über meine Seele.

Einmal im Jahr, wenn der Jungbusch blüht, kriecht die Hitze guter Freunde, der Schweiß und der Geruch von Bier und Zigaretten in die Klamotten und setzt sich fest.

Lieb mich und akzeptier mich. Eine Selbstaufgabe hat immer die Folge der noch höheren Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation.

Wenn ich an die Zeit in Mannheim denke, werde ich kühl und unruhig, gleichzeitig emotional und nostalgisch. All die Jahre haben meine Geigensaiten gehalten, das raue Pferdehaar und Kolophonium haben sie überstanden, Sonne und Regen, viele Winter und Sommer. Ein Jahr ist es her, dass ich nach Berlin gezogen bin. Ich öffne den Koffer meiner Violine und stelle fest, dass eine Saite gerissen ist. Wenn Dinge sich auflösen, werden sie woanders zu etwas Neuem.

Ich höre „Starwars“ von Pohlmann und trällere „Train yourself to let go…“. Es ist ein schöner Morgen.