Submission — Tzimon Budai

Der Mann ohne Lungen

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text: Tzimon Budai, Foto: Maximilian König

„Das Meer, junger Mann. Ich suche das Meer. Können Sie mir helfen, es zu finden?“ Es war Nacht. Ich war auf dem Weg nach Hause, der Mond stand schon hoch oben und wog die Straßen, Bäume und Wiesen in seinem stillem Netz aus Schlaf.
„Wieso denn das Meer?“, fragte ich ihn ganz verwundert. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen hochgewachsenen, dürren Mann. Er schien recht nervös und unbeholfen, gar hilflos zu sein. Seine Augen rasten von links nach rechts, von oben nach unten, und er schaute sich immer wieder um, als ob er etwas suchte. „Na verstehen sie, junger Mann, ich möchte nach Hause. Ihre Welt ist mir zu laut.“
„Meine Welt? Zu laut?“, wollte ich wissen, während ich mich wieder ärgerte, an wen ich hier geraten war. „Ach, ihr seid ein Atmer, nicht wahr? Zeigt mir doch bitte den Weg zum Meer, ich erkläre es Ihnen unterwegs.“ – „Na gut, folge mir.“

Schweigend wanderten wir die ersten Straßenbiegungen entlang, der Mond über uns hielt Wache über sein Reich der Stille. Wir verließen nun das kleine Dorf, in dem ich wohnte, und das fahle Licht der Straßenlaternen verschwand immer mehr. Ich vermochte meinen Mitläufer kaum zu erkennen, sein Gesicht lag vollkommen im Schatten der vielen Bäume um uns herum. Wir liefen auf meinem eigenen Weg gen Meer. Den Weg, den ich immer benutzte, wenn mir alle anderen zu voll waren und ich meine Ruhe haben wollte. Plötzlich stieß der Mann neben mir einen seltsamen Laut aus, es klang wie Schluchzen und Seufzen vereint. „Hier ist schon besser. Viel ruhiger als in euren Städten und Dörfern. Nicht auszuhalten.“ – „Aber es ist doch überall so laut.“ „Nein. Nicht bei mir in meiner Heimat. Es gibt nur sehr wenige von uns. Ein Dutzend vielleicht. Wir leben in solch einer wunderbaren Stille, wie sie nie einer von euch Atmern erleben wird.“
„Moment mal,“ unterbrach ich ihn, „Atmer? Du atmest doch auch?“ – „Ihr ja! Aber wir nicht. Wir besitzen keine Lungen. Wir können wandern und ziehen, wohin wir wollen. In die tiefsten Tiefen des Meeres oder die höchsten Berge dieser Welt. Doch ziehen wir meist dorthin, wo es still ist. Eure ganze Welt voller Atmer ist so laut, dass ihr es gar nicht mehr mitbekommt. Eure Schiffe, Autos, Häuser: all das. Der Lärm legt sich über euch, erstickt eure Seele.“

Er hielt inne und blieb stehen. Nach diesen Worten konnte ich meinen Blick nicht von seinem Brustkorb lassen: Tatsächlich, er bewegte sich weder auf und ab. Keinen Millimeter. „Das kann doch nicht sein“, dachte ich.

„Die Menschen, wie ihr euch nennt, haben vergessen, wie wichtig Stille für sie ist. Dennoch fürchtet ihr sie sehr. Ihr fühlt euch verloren in ihr, aber irgendwie auch geborgen. Alle Laute und Töne regieren euch von ihrem Thron und ihr gehorcht widerstandslos. Ihr lebt in jedem Ort voller Lärm und voller Angst vor diesem Wort: Stille.
Doch ihr braucht sie. Denn sie nimmt euch die Brille ab, die euch den Blick in eure Seele verhindert. Nur in der Stille, alleine, begreifen Menschen, was sie lieben, fürchten, hassen oder wollen. Aber die meisten haben Angst, sich in diese Stille fallen zu lassen, da sie sich vor dem fürchten, was sie erblicken werden. Und so packt ihr eure Welt voller Lärm, um der Wahrheit über einen jeden von euch entgehen zu können. Wahre Stille bietet euch die Wahrheit über dich selbst! Sogar hier draußen ist es noch zu laut für uns. Das Summen der Lichter, Autos in der Ferne, Flugzeuge in der Luft. Es ist so unerträglich…“

Er schwieg. Ich schloss die Augen und versuchte, auf alles zu hören. Alles um mich herum. Doch ich hörte nichts, für mich war es totenstill hier draußen in der Nähe der Dünen. „Ich möchte sie nicht so lange stören, es ist ja schon spät. Ich kann das Meer schon riechen, wir sind nicht mehr weit weg.“ – „Nein, noch ein paar hundert Meter. Hier entlang.“ Wir schwiegen beide. Ich ging voraus, er hinter mir. Ich wusste nicht so ganz, ob ich begriff, was er mir erzählt hatte. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob er denn Recht habe, dass unsere Welt zu laut geworden sei und uns das gar nicht mehr auffalle.

Die Bäume lichteten sich langsam und gaben den Blick frei auf das atmende Meer. Ein bezaubernder Anblick. Das monotone Auf und Ab der Wellen, wie sie sich am Strand das Wasser kräuseln und die Gischt das Mondlicht reflektiert. Ich drehte mich um und sah nun zum ersten Mal richtig meinen Begleiter. Sein Alter zu schätzen wäre unmöglich gewesen. Er war zwar groß und dürr, hatte aber kräftige, breite Schultern. Er war eher unscheinbar, doch seine Augen zogen mich in ihren Bann. Pechschwarz reflektierten sie das Mondlicht. Es waren alte Augen, aber in einem jungen Mann. Sie schienen eine Geschichte von dem erzählen zu wollen, was sie schon alles gesehen und erlebt hatten. Doch sie hatten auch etwas Einsames und Trauriges. Wie bei den Menschen, denen man auf der Straße begegnet, in deren Augen sich pure Einsamkeit spiegelt.

„Endlich. Mein geliebtes Zuhause.“ Seine Augen begannen noch viel mehr zu leuchten. Als er an mir vorbeikam, drehte sich der Mann ohne Lungen noch einmal um. „Vielen Dank, Fremder. Ich werde nun nach Hause gehen. Bleiben sie doch noch ein wenig hier an meiner Türschwelle und genießen sie die Ruhe und Stille, die in der Nacht so nah an meinem Zuhause herrscht.“

Er ging zwei, drei Schritte weiter und drehte sich noch ein letztes Mal um. „Ach, und haben Sie keine Angst mehr vor der Stille. Sie ist etwas so Wunderbares! Ihr Atmer solltet viel mehr von ihr kosten. Sie kann euch Wege zeigen, die euch keine Töne, Geräusche und Laute dieser Welt weisen könnten. Lebt wohl!“.

Er schritt voran. Sein Körper bäumte sich auf und ab, wie bei einem kleinen Kind, das sich freut, die Geburtstagskerzen auszupusten. Er hatte nun die Brandung erreicht und die Wellen streichelten seine Knöchel. Das Wasser verschluckte seine Knie und Beine nun fast vollständig. Er ging weiter. Es schien, als ob das Meer ihn mit seinen Wellen empfing, ihn in die Arme schloss wie einen alten Freund, den man schon sehnsüchtig erwartet hatte.