Nataša Vučković

Submission — Nataša Vučković

Pierres Geheimnis

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text & Foto: Nataša Vučković

Der Eiffelturm. Auf meinem Tisch, dem dunkelbraunen Holztisch aus Mahagoni im Wohnzimmer. Da steht er. Natürlich nicht der echte. Der wäre auch etwas zu groß gewesen. Aber eine maßstabsgetreue Miniaturausgabe davon. Wenn ich ihn ansehe, dann die Augen schließe und einen kurzen Moment abwarte, dann passiert etwas Wunderbares:

Auf einmal bin ich wieder mitten in Paris. Ich laufe an den vielen kleinen Ständen der Künstler und Buchverkäufer am Ufer der Seine vorbei. Laufe ich wirklich? Nein. Ich schlendere. Langsam. Ohne jede Eile. Hin und wieder bleibe ich stehen. Zum Beispiel bei Pierre. Pierre ist ein kleiner, hagerer Mann, der früher einmal sehr gut ausgesehen haben muss. Heute, mit seinen 83 Jahren steht er noch immer hier hinter seinem kleinen Stand. Er verschwindet fast hinter den hohen Stapeln von alten, gebundenen Büchern, die er dort feil bietet. Ein kurzes Lächeln, verschmitzt und freundlich, so wie Pierre gerne lächelt, wenn er ein bekanntes Gesicht entdeckt, huscht über seinen großen, breiten Mund, als ich an seinen Stand trete.

„Bonjour, Mademoiselle“, sagt er und schaut mich dabei mit seinen braunen, nicht zu eng zusammen liegenden Augen freundlich an. Pierre steht hier am Seine-Ufer seit mittlerweile 52 Jahren, wie ich bei meinem letzten Besuch einige Tage zuvor erfahren durfte. Es können auch schon 53 Jahre sein. Das ist ihm nicht so wichtig. Überhaupt hat Pierre ein sehr liebevolles Verhältnis zur Zeit. Alles, was er macht, ob er morgens seinen hellgrünen Holztisch aufbaut, auf dem die vielen mittlerweile ganz gelb gewordenen Bücher liegen, oder ob er einen neuen Kunden begrüßt, der wie zufällig an seinem Stand stehen bleibt; all das tut er mit Bedacht und ohne auch nur einen Anflug von Hektik.

Einmal habe ich ihn gefragt, was denn sein Geheimnis sei. Ich bewunderte seine unerschütterliche Ruhe und wohltuende Gelassenheit und hatte mir fest vorgenommen, dahinter zu kommen. Pierre zeigte sein schönstes Lächeln und sagte nur: „Geheimnis, Mademoiselle? Ich kämpfe nicht gegen die Sekunden, Minuten und Stunden, wie so viele andere Menschen. Die Zeit ist mein Freund. Ich komme gut mit ihr aus. Warum also sollte ich versuchen, sie zu besiegen?“

Dann öffne ich wieder die Augen und schaue noch eine ganze Weile den Eiffelturm auf meinem Holztisch an. Pierre hat Recht, denke ich dann und muss nun selber lächeln.


Jonas Meyer

Submission — Jonas Meyer

About Sharing

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text: Jonas Meyer, Foto: Roberto Brundo

Dass dieser Moment kommen würde, das wussten wir beide nur zu gut. Dabei lag er noch vor einer Stunde so unendlich weit im Irgendwann, dass er einfach nicht präsent sein wollte in unseren Köpfen, nicht existent sein durfte in unseren Herzen. Und so sahen wir auch gar nicht ein, nur einen einzigen Gedanken an das zu verschwenden, was uns jetzt so plötzlich und brutal den Boden unter den Füßen wegriss.

Dabei standen wir gar nicht. Sondern saßen. Nebeneinander. Schweigend, früh morgens am Brunnen. Irgendwie schien sich gerade der ganze Schmutz der Stadt in diesem trüben Wasser aufzulösen – jener großen Stadt, die noch schlief, obwohl es bereits hell war.

Wir waren wach, immer noch. In zwei Stunden würdest du aufbrechen zum anderen Ende der Welt, würdest zurückkehren in dein Leben und mich zurücklassen in meinem.

Und so sahen wir hilflos dabei zu, wie die Zeit unsere letzten gemeinsamen Minuten fraß. Eine nach der anderen, rasend schnell und doch so quälend langsam, dass der Schmerz uns zu zerreißen drohte.

Reden ging nicht, Tränen blockierten den Hals. Trotzdem nahmst du dieses Buch, das ein ständiger Begleiter war auf deiner langen Reise und braune Flecken hatte vom schmutzigen Brunnen.

Ich solle es behalten, sagtest du, denn ich könne damit deine Sprache lernen.
Wie sie klingen würde, würdest du mir demonstrieren, und last mir die laut ersten Zeilen vor:

Miércoles, 17 de marzo. HISTORIA DE DIOS. Descubrir que no se es inmortal, que hay más dioses, cuya vida tampoco es eterna. El drama de saberse absoluto, pero sólo para sus criaturas.

„Nein“, fuhr ich dich an, „hör auf! Merkst du denn nicht, dass du es dadurch nur noch schlimmer machst?“

Wir standen auf und liefen einige Schritte mit Beinen aus Blei. Der Moment des Abschieds, der eben noch irgendwo im Irgendwann lag, stand uns nun Auge in Auge gegenüber – und nahm dich mit.

Nur das Buch lies er da. Und deine letzten Worte.

„Life’s about sharing, Jonas!“


Julian Schievelkamp

Submission — Julian Schievelkamp

Lange Nacht der Musen

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text & Foto: Julian Schievelkamp

Eden Calling: Inmitten einer Frühlingslichtung wache ich unter einem raschelnden Meer dicht bewachsener Baumkronen auf, als ein leichter Hauch die farbenprächtige Wildflora um mich herum erzittern lässt. Während ich versuche, den Duft von feuchtem Eichenholz zu erhaschen, bringt mich ein fernes Raunen aus der Fassung. Ich habe das seltsame Gefühl, die vernarbten Astlöcher einiger Bäume flüstern meinen Namen. Klingt fast wie Herbstlaub im Auslauf des Windes, hat dabei jedoch seinen ganz eigenen Charakter.

Einen tiefen Atemzug lang halte ich still, bis ich pollenartige Körnchen bemerke, die von oben hinunter fallen und in den Boden sickern. Die Erde leuchtet auf und weitet sich, lässt Wurzeln um meinen Körper ranken, um mich zu halten.

Bevor ein solch utopischer Waldzauber die Fantasien des einen oder anderen beflügelt, muss ich anmerken: Das Ganze ist gar nicht so märchenhaft wie es klingt, denn das Kitzeln überdimensionaler Mikrosporen in der Nase ist wirklich unerträglich.

Wenn ich heute daran zurückdenke, genieße ich den Moment häufig mit einer Zigarette und einem Notizblock, auf dem ich einfach die Gedanken einfange, die mir in Form von goldglühendem Blütenstaub in der Luft erschienen.

Ich fiel nur einen kurzen Moment in die Hänge des Waldes, aber wenn ich guten Kitsch nicht so lieben würde, wäre ich dort wahrscheinlich nie gelandet.

Es war jedoch ausgeschlossen, mich bloß auf eine verschwommene Traumvorstellung zu beschränken, die irgendwann in den Winkeln meiner Gedankenkonstruktionen dahinvegetiert. Ich war zu Hause.


Nirav Solanki

Submission — Nirav Solanki

The Colors Of Earth

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »My Souvenir« — Text & Photo: Nirav Solanki

I recently visited Flagstaff, Arizona to shoot a wedding for a client of mine and since Flagstaff is well over 8 hours from where I reside, I decided to go exploring while I was there.

Arizona is truly a magnificent state that has so much natural beauty that one can appreciate, especially for a photographer.

This particular photo was taken at the Sunset Crater Volcano National Monument Park. I was moved by the texture and the colors of earth.

In the background, the mountains add depth to the entire image. I stood for a few minutes embracing this magnificent sight that is not seen everyday. This sight was only one of many I had witnessed on my journey.


Tanja Freudenthaler

Submission — Tanja Freudenthaler

Der wahre Genuss

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text: Tanja Freudenthaler, Foto: Sandrine Mause und Tanja Freudenthaler

Se souvenir de…

Jäger und Sammler,
durchstreifen Metropolen,
jagend nach Erinnerungen,
dem einzigartigen Stück.

Sprinten durch Massen,
Menschen, die bummeln,
aus verschiedenen Welten,
sind schon vorbei.

Fokussiert auf die Highlights,
von einem zu nächsten,
blitzend und zoomend,
blenden sie aus.

Tausend Bilder im Chip,
keines im Kopf
hinter der Linse,
verfliegt der Moment.

Verpassen das Wichtige,
der wahre Genuss.
Die Erinnerung bleibt,
zumindest im Bild.


Isabella Pikart

Submission — Isabella Pikart

Kleine Kreaturen

14. Juli 2013 — MYP No. 11 »Mein Souvenir« — Text: Isabella Pikart, Foto: Roberto Brundo

Mariana Magtaz, Kuratorin und Galeristin der „Escola de Arte e Metal“ in São Paulo, bat mich zur Eröffnung meiner Ausstellung, etwas auf Deutsch auf eine grosse Wand mit Kreide zu schreiben. So entstand über meine Arbeit mein Andenken an diesen Moment:

Eine Reise in den Süden – „L‘Histoire de Mimi Cri“
São Paulo, 23.8.2012

Ein paar Steine auf der Straße, Sand der aus Meiner Tasche rieselt, das Blau der Kacheln eines Schwimmbads.

Erinnerungen an einen Sommertag, ein flüchtiger Moment, der ein Gefühl lässt, das bleibt. Es klopft ein paar Jahre später an und ist wieder da. So wird aus einem Kieselstein, einer Welle, einem Sandkorn eine Zeichnung, ein Bild, eine Skulptur.

Meine Skulpturen wurden kleiner und tragbarer. Sie wurden zu Schmuck, den wir an uns tragen können.

Kleine Kreaturen, Lebewesen, ihre Namen sind „Ouro Branco“, „Pool Blue“ und „Bicho“.


MYP10 – Prolog "Meine Nacht"

Editorial — MYP Magazine N° 10

Prolog »Meine Nacht«

14. April 2013 — Samuel Schneider fotografiert von Lukas Leister

— Samuel Schneider im Interview


Samuel Schneider

Interview — Samuel Schneider

Nachtsonne

In seinem neuen Film spielt Samuel Schneider einen Jungen, der sich meist von seiner Krankheit eingeengt fühlt, aber plötzlich inmitten einer überfüllten Großstadt seine Freiheit beansprucht. Ein Interview über das Vergessen der Zeit und wie es ist, an der Seite von Ulrich Tukur zu spielen.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Lukas Leister

Der Hackesche Markt an einem Sonntagnachmittag im März. Alles könnte sein wie immer, wenn es Frühling wird in Berlin: Mit singenden Vögeln und flanierenden Menschen, die mit einem Lächeln im Gesicht die ersten warmen Sonnenstrahlen inhalieren.

Es könnte so sein. Ist es aber nicht, nicht diesmal.

Denn es gibt weder Vögel noch Sonnenstrahlen noch Wärme noch Frühling. Nur Schnee, Eis und zornigen Wind, der ein lebloses Grau in alle Ecken drückt.

Aus wissenschaftlicher Perspektive mag es sicher spannend sein, diesen kältesten März seit 130 Jahren live zu erleben – am Hackeschen Markt scheint sich allerdings gerade niemand aufzuhalten, der diesen Enthusiasmus teilen würde. Die wenigen Menschen, die auf dem sonst so lebendigen Flecken Berlins unterwegs sind, huschen dick verpackt in überfüllte Cafés oder nähern sich mit strammen Schritten der S-Bahn, um jenen unwirtlichen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.

Hier stehen wir also, mitten auf dem Marktplatz. Und frieren. Wir warten hier auf Samuel Schneider, mit dem wir in wenigen Minuten zum Interview verabredet sind. Der junge Schauspieler hat vor kurzem den Film „Exit Marrakech“ abgedreht, für den er drei Monate in Marokko unterwegs war.

Marokko… was würde man nur geben für einen einzigen Sonnenstrahl in diesem leblosen Berliner Grau!

Plötzlich nähert sich ein junger Mann, der fragend seine Zeigefinger auf uns richtet. Zwischen Winterjacke und Wollmütze breitet sich ein freundliches Lächeln aus, das von klaren blauen Augen flankiert wird.

Da ist er also, pünktlich auf die Minute. Eine ausgedehnte Begrüßung muss auf gleich verschoben werden, denn jede weitere Minute in der Kälte wirkt wie eine Bestrafung. Also packen wir das Equipment unter den Arm und laufen zum Restaurant Pan Asia, das uns nur wenige Meter entfernt seine wohl temperierten Arme entgegenstreckt.

Hinter der Eingangstür erwartet uns auch schon das Gegenmittel zum gnadenlosen Winter: Sanftes Licht, freundliche Farben und der frische Duft asiatischer Köstlichkeiten lassen in Sekundenbruchteilen das Grau vergessen, das uns eben noch so gnadenlos im Nacken saß.

Wir legen unsere Jacken ab, lassen uns an einem Tisch am Fenster nieder und atmen entspannt durch. Viermal heiße Minze, bitte!

Jonas:
Du hast im Jahr 2005 zum ersten Mal auf der Bühne gestanden. Wie bist Du so früh zur Schauspielerei gekommen?

Samuel:
Eher durch Zufall! Als ich etwa acht Jahre alt war, hatte ich einen guten Freund, der regelmäßig an einem Schauspiel-Coaching teilnahm. Dieses Coaching wurde von einer Schauspielagentur hier in Berlin angeboten und richtete sich speziell an Kinder und Jugendliche. Da der Kurs immer samstags stattfand und ich irgendwann mal von Freitag auf Samstag bei meinem Kumpel geschlafen hatte, bin ich einfach am nächsten Tag mit ihm mitgekommen.
Das Schauspiel-Coaching hat mir sofort total viel Spaß gemacht. Allerdings hat mich am Anfang weniger die Schauspielerei fasziniert, sondern vielmehr die Tatsache, dass ich einfach mal zwei Stunden lang rumschreien und rumspringen konnte, wie ich wollte. Noch bevor ich meine Mutter fragen konnte, hat mich der Agent für den Kurs eingeschrieben – den ich dann insgesamt acht Jahre lang besucht habe.

Jonas:
Und plötzlich hast du dein erstes Theaterstück gespielt…

Samuel:
Genau! Im Jahr 2005 gab es ein großes Casting auf der Bühne des Berliner Ensembles. Robert Wilson, ein großartiger Regisseur, war damals auf der Suche nach Schauspielern für sein Stück „Wintermärchen“. Irgendwie hat es geklappt – und dann habe ich zwei Jahre lang dort gespielt!

Jonas:
Danach hast du allerdings der Bühne den Rücken gekehrt und bist zum Film gewechselt. Vermisst du das Theater?

Samuel:
Ich würde es schon ganz gerne mal wieder ausprobieren – nach dem Engagement am Berliner Ensemble habe ich ja nur noch Film gemacht. Während dieser zwei Bühnenjahre hing ich jedes Wochenende bis spät abends am Theater rum und hatte viele tolle Schauspieler in meiner Nähe. Das war wie eine große Familie!
Damals hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, gemeinsam mit anderen wirklich etwas zu arbeiten, für das ich auch noch Applaus bekam – das hat mich sehr beeindruckt.
Zur Zeit überlege ich übrigens, ob ich Schauspiel studieren soll oder nicht. Leider redet gerade irgendwie jeder zu dem Thema auf mich ein und hat eine andere Meinung. Ich möchte und werde das aber ganz alleine entscheiden – und zwar so, wie es sich am besten für mich anfühlt.

Jonas:
Was hält dich davon ab, dich ins Schauspielstudium zu stürzen?

Samuel:
Es soll ja den einen oder anderen Regisseur geben, der bei Schauspielern erkennen kann, von welcher Schauspielschule sie kommen – weil scheinbar jede Schule ihren eigenen Stil verfolgt und den Schauspielern mitgibt. Das hat mich etwas eingeschüchtert.
Es kann sein, dass es für jemanden, der in seinem Leben schauspielerisch noch nicht so viel gemacht hat, leichter ist, eine solche Schule zu absolvieren. Für Leute wie mich, die bereits einiges gedreht haben und in der Zeit ihren eigenen Stil und Rhythmus entwickeln konnten, ist es wahrscheinlich schwieriger.
Andererseits glaube ich, dass man an einer Schauspielschule total viel lernen kann. Mal sehen, wie ich mich entscheide…

Ich sehe allem sehr gelassen entgegen und schaue einfach, was passiert.

Jonas:
Nervt dich diese Situation?

Samuel:
Nö, eigentlich gar nicht. Im Moment bin ich relativ entspannt. Ich habe gerade meinen Film abgedreht und bin jetzt dabei, mein Abi zu machen. Ich sehe allem sehr gelassen entgegen und schaue einfach, was passiert.

Wir legen eine kurze Pause ein, denn uns allen knurrt der Magen: Seit wir das Restaurant betreten haben, streicht uns der verführerische Duft exotischer Speisen um die Nase.

Also knüpfen wir uns die Speisekarte vor. Zahllose Köstlichkeiten buhlen um unsere Gunst und malen in unseren Köpfen Bilder von fernen Ländern. Ach, wie schön wäre es, wenn man jetzt irgendwo ganz anders wäre – weit weg, in der Sonne…

Jonas:
Vor ziemlich genau einem Jahr bist du für Dreharbeiten nach Marokko aufgebrochen. Hast du Fernweh?

Samuel:
Für Fernweh wäre es noch etwas früh: Ich bin ja vor nicht allzu langer Zeit wieder aus Marokko zurückgekommen. Insgesamt war ich drei Monate dort und hatte eine ziemlich intensive Zeit in dem Land.
Dieses Jahr werde ich aber wegen eines Filmfestivals wieder für einige Tage nach Marrakech fliegen und ganz viele Menschen wiedersehen, die ich während der Dreharbeiten ins Herz geschlossen habe. Darauf freue ich mich total!

Jonas:
Du hast insgesamt drei Monate in Marokko verbracht. Wie hast du die Tatsache erlebt, plötzlich in eine ganz andere Kultur und Mentalität geworfen zu sein?

Samuel:
Eigentlich war mir diese Kultur gar nicht so unbekannt. Ich selbst bin Halbtürke und kenne die islamische Welt, weil ich jedes Jahr mindestens einmal in der Türkei bin und dort eine riesige Familie habe. Marokko ist im Prinzip der Türkei sehr ähnlich, nur einen Tick orientalischer und intensiver.

Jonas:
Man ist ja immer wieder erstaunt von dem kreativen Potenzial des Landes…

Samuel:
Ja, ich war extrem überrascht, als ich erfahren habe, wie viele Kinofilme dort gedreht werden. Die abwechslungsreiche Landschaft ist auch wie geschaffen dafür und bietet Drehorte, die die verschiedensten Länder imitieren können. Es gibt da zum Beispiel die Stadt Ouarzazate, da hat sich ganz Hollywood getummelt. Das hätte ich nicht gedacht.

Wir unterbrechen unser Gespräch erneut, denn das Essen wird serviert. Wie wundervoll!

Während wir still vor unseren Tellern sitzen und die exotischen Leckereien genießen, drückt der graue Winter draußen seine Nase gegen die Fensterscheibe und sieht uns eifersüchtig zu.

Samuel scheint den eisigen Beobachter nicht zu bemerken. Zufrieden sitzt er auf seinem Stuhl und verzehrt die Köstlichkeiten, die ihm serviert wurden. Ab und zu blitzt dabei sein goldener Anhänger auf, der an einer filigranen Halskette hängt. Es wirkt fast, als würde dieser Anhänger dem grauen Winter Sonnenstrahlen entgegenschleudern, um ihn zu vertreiben.

Jonas:
Stammt der goldene Anhänger an deiner Halskette auch aus Marokko?

Samuel:
Nein, der wurde mir von meiner Familie geschenkt, als ich geboren wurde. Der Anhänger zeigt Atatürk und wird in der Türkei zu besonderen Lebensereignissen wie Geburt oder Hochzeit überreicht. Er ist ein Talisman für’s Leben und soll Glück bringen – ich habe ihn immer an.

Jonas:
Er scheint seine Aufgabe bisher gut gemeistert zu haben: Letztes Jahr wurdest du für die Hauptrolle in dem Caroline Link Film „Exit Marrakech“ besetzt und durftest drei Monate an der Seite von Ulrich Tukur drehen. Erinnerst du dich noch an den Moment, als du davon erfahren hast?

Samuel:
Ja, klar! Ich habe mich total gefreut. Erst wenige Monate vorher hatte ich überhaupt registriert, dass Caroline den Oscar gewonnen hatte und eine großartige Regisseurin ist. Damals hatte ich noch gedacht: Was wäre das für eine große Ehre, mal mit ihr drehen zu dürfen. Ich hätte nie gedacht, dass ich ein halbes Jahr später zum Casting für ihren Film nach Hamburg fahre und dann noch die Rolle bekomme.
Und sowieso: Was für eine Rolle! 55 Drehtage mit Fokus mehr oder weniger nur auf mir und Uli, das war ein riesiges Geschenk.

Das Besondere an Ulrich Tukur ist, dass er sich für so vieles begeistern kann.

Jonas:
Dein junger Kollege Patrick Mölleken hat uns vor wenigen Monaten erzählt, wie viel er während der Dreharbeiten zu „Rommel“ von Ulrich Tukur gelernt hat. Ging es dir genauso?

Samuel (lacht):
Von Uli habe ich gelernt, gut zu essen und welche Weinsorten es gibt. Er ist ein absoluter Genussmensch!
Aber im Ernst: Das Besondere an ihm ist, dass er sich für so vieles begeistern kann. Es ist toll, diesen Spirit zu erleben. Menschlich hat er mich total beeindruckt – und schauspielerisch nicht weniger: Uli spielt ja oft die großen Charaktere der Zeitgeschichte wie etwa Rommel. Bei „Exit Marrakech“ hat er allerdings etwas gemacht, was eher neu für ihn war: Hier sollte er extrem klein und zärtlich sein, sollte sich öffnen. Für mich war es faszinierend zu sehen, wie Uli dieser Rolle genau so viel Tiefe und Intensität gegeben hat wie all’ den großen Figuren, die er bisher gespielt hat.

Jonas:
Worum dreht sich denn die Handlung in dem Film?

Samuel:
Ganz einfach gesagt: um eine Vater-Sohn-Geschichte. Caroline Link thematisiert ja klassischerweise sämtliche Problematiken innerhalb der Familie. Und so erzählt auch „Exit Marrakech“ einen Konflikt, den die meisten Menschen aus ihrem eigenen Leben kennen: Der Sohn fühlt sich vom eigenen Vater vernachlässigt.
Im Film heißt die Vaterfigur Heinrich und wird gespielt von Ulrich Tukur. Heinrich ist ein erfolgreicher Regisseur, der in Marokko ein Stück im Rahmen eines Theaterfestivals vorstellt. Ich spiele seinen 17jährigen Sohn Ben, der sich entschließt, seinem Vater nach Marokko nachzureisen, um ihn dort besser kennenzulernen und wieder einen Bezug zu ihm herzustellen.
In dem fremden Land merken aber beide, dass dieses Vorhaben nicht wirklich funktioniert: Auf der einen Seite will Ben zwar, dass Heinrich mehr Papa ist, gleichzeitig weigert er sich aber, sich der väterlichen Authorität zu unterwerfen. Dieser Konflikt spitzt sich im Laufe des Films zu: Ben haut ab, verliert sich in der marokkanischen Nacht und brennt mit einer jungen Hure durch – und Heinrich macht sich auf die Suche nach seinem Sohn.

Jonas:
Etwas provokant gefragt: Muss man sich überhaupt auf solch eine Rolle vorbereiten, wenn es eh um einen Konflikt geht, den jeder mehr oder weniger aus dem eigenen Leben kennt?

Samuel:
Ben ist Diabetiker – alleine deshalb musste ich mich intensiv vorbereiten. Ich wusste zwar ungefähr, was Diabetes ist, hatte aber wie die meisten Menschen keine Ahnung, welche Probleme dadurch für die Betroffenen im Alltag entstehen können und wie sie damit umgehen.
Daher habe ich mich mit vielen Diabetikern unterhalten und ganz praktisch versucht, mich selbst in deren Lage zu versetzen: Ich habe mir eine Woche lang in alltäglichen Situationen wie zum Beispiel der Fahrt in der U-Bahn Kochsalzlösung gespritzt, um die Insulininjektion zu imitieren. Ich wollte mir einfach ein eigenes Bild davon machen, wie die Leute reagieren und wie man sich selbst in einer solchen Situation fühlt. Viele dachten wirklich, dass ich mir in aller Öffentlichkeit einen Schuss setze – sie hatten absolut keine Ahnung.
Was mir ganz allgemein bei der Rollenvorbereitung hilft ist die Tatsache, dass ich seit zwei Jahren Schauspielcoach für Kinder und Jugendliche bin – an dem Ort, wo ich vor zehn Jahren selbst damit angefangen habe. Ich finde es total interessant, das Ganze mal von der anderen Seite zu sehen. Wenn ich mal ein Casting oder einen Dreh hatte, nehme ich die Szenen, gebe sie den Kursteilnehmern und beobachte, wie sie die Rollen interpretieren. Das ist für mich ein wichtiger Input.
Zu der Rolle des Ben in „Exit Marrakech“ durfte ich selbst übrigens ein wenig Input geben: In der Urfassung war die Figur ein unsportlicher 14jähriger mit Zahnspange, der nicht wirklich viel mit mir persönlich zu tun hatte. Als Caroline Link und ich uns trafen, um die Rolle zu besprechen, fiel ihr auf, dass es viel interessanter wäre, dem Vater keinen Jungen an die Seite zu stellen, sondern einen jungen Mann. Das versprach viel mehr Reibung. Also hat sie die Rolle ziemlich verändert und eher an mir orientiert – und am Ende war sie total auf meine Person geschrieben! So steckt in dem Film auch irgendwo sehr viel von mir selbst.

Jonas:
Ist Ben eigentlich Samuel?

Samuel (lacht):
Nein, so extrem ist es nicht, aber die Figur hat schon sehr viel von mir. Diesen Vater-Sohn-Konflikt kenne ich ja auch selbst ein Stück weit. Mein Papa und ich waren jahrelang etwas weit voneinander weg und nähern uns gerade erst wieder an – und lernen uns besser kennen. Daher verstehe ich es nur zu gut, wenn man sich auf der einen Seite wünscht, dass der Vater seine Vaterrolle stärker übernimmt, sich aber auf der anderen Seite nichts mehr von ihm sagen lassen will.

Ich weiß gar nicht, wie es sich ohne Schauspielerei anfühlen würde.

Jonas:
Gab es in deinem Leben eigentlich diesen berühmten Klick-Moment – den Punkt, an dem du gemerkt hast, dass Schauspielerei genau das ist, was du machen willst?

Samuel:
Ne, das hat sich einfach so entwickelt und ist in mein Leben reingewachsen. Ich weiß gar nicht, wie es sich ohne anfühlen würde. Ich merke bloß immer wieder, dass ich wirklich schon einiges gemacht habe in den letzten zehn Jahren.
Und ich spüre auch, dass es so langsam ernst wird. Vor kurzem habe ich auch meine Schauspielagentur gewechselt und stehe jetzt bei Players unter Vertrag. Das hat sich sehr richtig angefühlt und gut gepasst.

Jonas:
Inwiefern?

Samuel:
Ich wollte ohnehin zu einer Erwachsenen-Agentur wechseln. Von Players wurde ich vor einigen Jahren bereits angesprochen, nachdem ich „Boxhagener Platz“ gedreht hatte. Damals war ich aber noch zu jung – ich hätte volljährig sein müssen.
Letztes Jahr gab es dann im Vorfeld zu den Dreharbeiten von „Exit Marrakech“ einen Empfang, auf dem erneut eine Players-Agentin auf mich zukam. Wir haben vereinbart, dass ich mit meiner Entscheidung warte, bis ich den Film abgedreht habe – ich wollte mir einfach ganz sicher sein, dass ich diesen Beruf wirklich will und ihn längerfristig ausüben möchte.
Und so kam es dann auch: Nach „Exit Marrakech“ war mir tatsächlich relativ schnell klar, dass Schauspielerei genau das ist, was ich machen will. Ich wusste ganz genau, dass es etliche junge Schauspieler gibt, die sich ein Bein dafür ausreißen würden, bei Players aufgenommen zu werden. Ich wäre doof gewesen, wenn ich nicht ja gesagt hätte.

Ich muss bei der Rolle direkt das Gefühl haben: Das will ich machen!

Jonas:
Ist es dir generell wichtig, dass deine Filme ein familiäres oder gesellschaftliches Thema aufgreifen, oder kannst du dir vorstellen, auch mal etwas ganz anderes wie zum Beispiel eine Komödie zu drehen?

Samuel:
Es stimmt schon, dass die Filme, in denen ich bisher gespielt habe, überwiegend in einem familiären oder gesellschaftlichen Kontext standen. Vor „Exit Marrakech“ hatte ich eine Hauptrolle in dem Kurzfilm „Schautag“, der vielfach ausgezeichnet wurde und von jugendlichen Steinewerfern auf Autobahnbrücken erzählt.
Ganz allgemein ist es aber so, dass ich immer das drehe, womit ich mich wohlfühle. Ich muss bei der Rolle direkt das Gefühl haben: Das will ich machen! Ich hatte bei allen Produktionen das Glück, auf sehr professioneller Ebene arbeiten zu können und in Filmen mitwirken zu dürfen, die etwas vermitteln.
Thematisch bin ich aber nicht festgelegt. Bisher habe ich zwar noch keine Komödie gemacht, aber vielleicht probiere ich es irgendwann mal aus und schaue, wie es ist. Ich bin in meiner Entscheidung ja absolut frei.

Jonas:
Im Film taucht die Figur Ben in die rohe Nacht Marrakechs ab, lässt sich treiben und verliert sich – ebenfalls eine Parallele zu deinem Leben?

Samuel:
Ich mag ja die Erfindung „Zeit“ nicht so wirklich. Ich liebe es, wenn ich losziehen und die Zeit vergessen kann. Daher suche ich schon ab und zu nach diesen Räumen, in denen Zeit nicht existiert.
Wenn man sich treiben lässt, lässt man generell auch zu, dass Gedanken entstehen, die sich nicht um den reinen Alltag drehen. Das ist immer wieder eine sehr schöne Erfahrung.

Jonas:
Du bist also eher ein Nachtmensch?

Samuel:
Eigentlich nur im Winter, weil da die Nacht allgegenwärtig ist. Die Sonne fehlt in dieser Jahreszeit einfach, es wird nie so richtig hell. Aber wenn ich die Wahl habe, bin ich ein absoluter Tagmensch. Dafür liebe ich die Sonne viel zu sehr!

Samuel strahlt. Seine hellen Augen scheinen immer noch das marokkanische Licht in sich zu tragen – so klar und zuversichtlich wirken sie.

Wir trinken den letzten Rest der heißen Minze aus, legen die Jacken an und schlendern schweigend Richtung Ausgang. Und kaum haben wir den ersten Schritt nach draußen getan, steht auch der Berliner Winter wieder vor uns, dessen Leblosigkeit noch lebloser geworden ist in den letzten Stunden.

Aber etwas ist diesmal anders: Das Grau hat irgendwie seinen Schrecken verloren. Auch wenn die Kälte in den letzten 130 Jahren noch nie so viel Macht über den März hatte wie in diesem Jahr, sind ihre Tage letztlich doch gezählt.

Während wir noch ein paar Meter in dieselbe Richtung laufen, blitzt unter Samuels Jacke immer wieder der goldene Talisman hervor und blendet den Winter.

Er wirkt wie eine Sonne in der Nacht.

Da hat das Grau keine Chance.


Alexander Finkenwirth

Interview — Alexander Finkenwirth

Austausch

Vorhang auf für Alexander Finkenwirth. Der Theaterschauspieler fasst für uns zusammen, was seit allen Zeiten einen guten Künstler ausmacht, und nimmt uns mit hinter die Kulissen des Hans Otto Theaters in Potsdam.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Steven Lüdtke

Manchmal im Leben muss man einfach mal raus – und sei es nur für ein paar Stunden. Um durchzuatmen. Und abzuschalten. Oder um den Blick auf die Dinge zu justieren.

Für alltagsgeplagte Berliner empfiehlt sich in diesen Momenten ein Abstecher in Tarifzone C. Gerade einmal 40 Minuten benötigt die S7, um den Berliner Hauptbahnhof gegen den in Potsdam einzutauschen. Das One-Way-Ticket in die nahe Ferne gibt’s dabei für 3,10 Euro – schnell und günstig also. In diesen Zeiten muss man ja wirtschaftlich denken.

Auch wir verlassen heute mal Berlin und fahren raus nach Potsdam. Dort sind wir mit dem jungen Schauspieler Alexander Finkenwirth verabredet, den wir bereits wenige Wochen zuvor im Stück „Waisen“ erleben durften. Vor kurzem hat der 26jährige sein Schauspielstudium an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) „Konrad Wolf“ abgeschlossen und ist seit letztem Jahr festes Mitglied des Ensembles am Potsdamer Hans-Otto-Theater.

Es ist kurz vor halb zwei, gerade haben wir unseren Treffpunkt am Luisenplatz erreicht. Nur wenige Sekunden später biegt auch Alexander um die Ecke. Zielgerichtet kommt er auf uns zu und begrüßt uns freundlich. Der junge Mann strahlt eine bemerkenswerte Präsenz aus, wirkt aber gleichzeitig angenehm unaufdringlich. Seine wachen, klaren Augen werden umrahmt von einem markanten Gesicht, das heraussticht aus der Beliebigkeit der heutigen Zeit.

Wir wollen gemeinsam zu Mittag essen, also steuern wir gemeinsam das „My Keng“ in der Brandenburger Straße an. Das Lokal gehört zu den Lieblingsrestaurants von Alexander und platzt heute Mittag vor Gästen aus allen Nähten. Mit etwas Glück finden wir einen freien Tisch und bestellen munter aus der Speisekarte.

Jonas:
Du warst in den vergangenen Monaten vielfach im Theaterstück „Waisen“ zu sehen, wo du die Rolle des Marco gespielt hast. In dem Stück werden in zwei Stunden so ziemlich alle menschlichen Konflikte behandelt, die man aus dem eigenen Leben kennt. Ist das der Grund, warum du „Waisen“ vor kurzem als dein Lieblingsstück bezeichnet hast?

Alexander:
Ja, schon. Dieses Stück ist einfach richtig toll! Ich glaube aber, dass ich es vor allem deshalb so mag, weil mir die Figur des Marco im Laufe der Zeit etwas ans Herz gewachsen ist.
Das klingt im ersten Moment etwas abstrus, immerhin baut Marco ja ziemlich großen Mist und stellt total schlimme Sachen an. Aber der Typ macht das alles irgendwo ja nur, weil er geliebt werden will. Und er hat ständig das Gefühl, seine Familie beschützen zu müssen. Darum glaubt er auch, dass sein Handeln absolut richtig sei.
Ich kenne das Stück übrigens schon länger. Vor etwa zwei Jahren hatte ich es in einem Beiheft der „Theater heute“ entdeckt und während einer Zugfahrt komplett durchgelesen. Ich fand’s von Anfang an richtig cool – lange bevor ich überhaupt wusste, dass ich es mal spielen werde. Als dafür dann später irgendwann das Hans-Otto-Theater angefragt hat, war ich natürlich total begeistert.

Jonas:
Man ist ja bei der Figur so hin- und hergerissen: Soll man ihn jetzt mögen und Mitleid haben? Oder soll man ihn verurteilen?

Alexander:
Ja, da sagt auch jeder etwas anderes. Ich finde aber, dass man als Schauspieler die Figur immer mögen muss, die man spielt. Zumindest muss man ein gewisses Verständnis für sie entwickeln. Es geht ja darum, dass man in der Lage ist nachzuvollziehen, warum genau die Figur was tut.
Bei Proben merkt man allerdings ab und zu, dass es Kollegen gibt, die echte Probleme damit haben, ihre Figur zu mögen. Sie stellen sich dann ständig die Frage: „Wie kann man nur so sein, wie kann man so etwas nur machen?“ Mir hilft es enorm, mir immer wieder vor Augen zu führen, dass ich einen Mensch spiele. Und der handelt eben auch menschlich. Das erleichtert es, bis zu einem gewissen Grad ein Verständnis für die Figur aufzubauen.
Ganz allgemein ist das Gute an der Schauspielerei ja, dass es irgendwo nur ein Spiel ist, an das man ganz wertfrei herangehen kann. Es macht daher auch einfach Spaß, wenn man mal zum Beispiel einen Mörder spielen kann – weil man spürt, wie das Publikum dagegen innerlich eine Haltung aufbaut und Emotionen entstehen.

Jonas:
Wie merkst du denn genau, was das Publikum gerade fühlt?

Alexander:
Man kann das ja natürlich nicht messen. Aber ich bilde mir ein zu spüren, ob ein Publikum gerade emotional ganz nah dran ist oder nicht. Da findet eine Art Austausch statt, die sich über die Spannung im Raum von den Zuschauern unmittelbar auf uns Schauspieler überträgt. Und diese Unmittelbarkeit ist das Tolle an Theater.

Ich habe nach etwas gesucht, das das, was ich in mir trage, irgendwie nach außen transportieren kann.

Jonas:
Zur Schauspielerei bist du aber erst relativ spät gekommen…

Alexander:
Ja, das stimmt. Es gibt ja viele, die schon mit zwölf Jahren anfangen, über die Theater AG in der Schule oder irgendwo sonst zu schauspielern. Bei mir war das allerdings etwas anders. Ich hatte nach meinem Abi im Jahr 2006 absolut keine Ahnung, was ich machen will, und war durch diese Orientierungslosigkeit nicht besonders ausgeglichen und recht unglücklich. Ich wusste bloß, dass ich nicht das machen werde, was meine Freunde so machten – also etwa BWL oder Jura studieren. Das hatte ich zwar zwei Semester probiert, aber so wollte und konnte ich einfach nicht leben.
Also habe ich nach etwas gesucht, das das, was ich in mir trage, irgendwie nach außen transportieren kann. Eine Freundin hatte mich damals mal zu einer Laienschauspielgruppe mitgeschleppt, wo eine ehemalige Schauspielerin mit jungen Leuten gearbeitet hatte. Da habe ich gemerkt, dass ich das unbedingt machen will – und habe von heute auf morgen beschlossen: Ich werde Schauspieler!
Also habe ich radikal mein Leben geändert, plötzlich sehr diszipliniert gelebt und total viele Jobs gemacht, weil ich unbedingt nach Berlin ziehen wollte. Und dafür brauchte ich Geld.

Jonas:
Und wie hat deine Familie diesen Entschluss aufgefasst?

Alexander:
Mein Vater war im ersten Moment ziemlich erschrocken. Aber er hat dann recht schnell gemerkt, wie ernst mir die ganze Sache ist. Und dagegen konnte er nicht wirklich viel machen.
Mittlerweile hat er sich damit arrangiert – ich muss ihm immer die ganzen Kritiken schicken, die er alle lesen will.

Jonas:
Hattest du dich vor deinem Umzug nach Berlin schon an der HFF beworben?

Alexander:
Ne, ich bin erst nach Berlin und habe dann dort verschiedene Schauspielschulen abgeklappert. Das war total krass, weil ich absolut keine Erfahrung hatte und total naiv war. Ich dachte, ich geh’ da jetzt hin und die nehmen mich. So einfach war’s aber nicht. Daher bin ich auch echt froh, dass es letztendlich an der HFF geklappt hat.

Jonas:
Und seit 2012 bist du festes Ensemblemitglied am Hans-Otto-Theater!

Alexander:
Ja, nach sechs Semestern, also kurz vor meinen Abschluss. Ich hatte vorher schon öfter dort gespielt und mich dann irgendwann beworben. Das kam alles Stück für Stück.

Wir legen eine kurze Pause ein, das Essen wird serviert. Ein seltsam vertrautes Gefühl der Zufriedenheit stellt sich gerade ein – nicht nur wegen der aromatischen Leckereien auf unseren Tellern.

Während man Alexanders Antworten und Erzählungen lauscht, hängt man gespannt an seinen Lippen und stellt unweigerlich einen Bezug zum eigenen Leben her. Und obwohl wir gemeinsam an diesem kleinen Tisch sitzen, wirkt es für einen Augenblick so, als seien wir das Publikum. Und er stünde vor uns auf der Bühne.

Ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass ich echt ein bisschen auf mich aufpassen muss.

Jonas:
Du hattest in den letzten Jahren gleich zwei große Bezugspunkte – auf der einen Seite die HFF, auf der anderen Seite das Hans-Otto-Theater. Wie problematisch war es denn, ständig am Theater zu spielen und gleichzeitig irgendwie das Studium an der HFF zu absolvieren?

Alexander:
Naja, als es am Theater richtig los ging, war ich eigentlich kaum noch an der Uni. Die HFF hat ziemlich viel Rücksicht darauf genommen, dass ich quasi schon ein Engagement am Theater habe. Es ist ja auch in deren Interesse, dass ihre Schauspieler möglichst schnell einen Job bekommen.
Alles in allem hat das gut geklappt – obwohl es von der Belastung natürlich krass war. Irgendwann kommt man an den Punkt, wo man denkt: Jetzt geht es gerade gar nicht mehr, weil ab einem gewissen Grad der Erschöpfung auch die Kreativität flöten geht. Ich habe Gott sei Dank im Laufe der letzten Jahre gelernt, dass ich echt ein bisschen auf mich aufpassen muss.

Jonas:
Glaubst du, dass die Gefahr besteht, dass man sich selbst vergisst, wenn man zu viel tut?

Alexander:
Ja. Im Herbst zum Beispiel hatte ich das Gefühl, dass ich körperlich an meine Grenzen stoße. Damals haben sich die Proben zu unserem Abschlussfilm an der HFF mit den Proben zum Stück „Der Eisvogel“ am Theater überschnitten – und bei beiden hatte ich eine intensive und fordernde Rolle: Im Film war ich einer der Amokläufer und im Eisvogel habe ich die Figur des Wiggo übernommen, der ein superkrasser Charakter ist.
Diese Figur ist auch insgesamt drei Stunden am Stück auf der Bühne präsent, das hat unendlich viel Energie gekostet. Trotzdem war das natürlich eine gigantische Erfahrung.

Jonas:
Was macht den Charakter des Wiggo denn so besonders?

Alexander:
Wiggo ist ein junger Mann, der zwischen Nizza und London aufgewachsen ist und Philosophie studiert hat. Er stammt aus einer äußerst wohlhabenden Familie und ist in seinem Beruf sehr erfolgreich. Aber Wiggo ist auch ein Rebell: Er stellt vieles in Frage und will mit der Welt seiner Eltern nichts zu tun haben – dort erscheint ihm alles zu zynisch und oberflächlich.
Ein wenig erinnert sein Charakter an Faust, weil er in gewisser Weise auch herausfinden will, was die Welt zusammenhält. Dabei rutscht er ab und kommt mit einer rechten Terrorzelle in Berührung, die irgendwie die ganze Demokratie anzweifelt – ein ziemlich aktuelles und wichtiges Thema.

Jonas:
Ist es dir wichtig, durch deine Rollen einen Bogen zur Realität spannen zu können?

Alexander:
Ja, das ist mir total wichtig, egal ob es um einen eher familiären, privaten Bezug geht wie in „Waisen“ oder um einen eher politischen wie in „Der Eisvogel“. Das sind einfach Problematiken, die mich persönlich auch sehr interessieren und berühren. Ich glaube, dass ich als Mensch eh recht kritisch bin mit dem, was so um mich rum und in der Gesellschaft passiert.
Generell bin ich für alle Themen aber total offen. Ich mag es wirklich sehr an meinem Beruf, dass man sich in so viele verschiedene Thematiken und Problematiken stürzen kann. Wichtig ist dabei nur immer, dass es irgendetwas auslöst beim Zuschauer. Denn dafür macht man’s ja auch.

Wir zahlen und brechen auf. Um 15.00 Uhr sind wir am Hans-Otto-Theater mit Stefanie Eue verabredet, der Presseverantwortlichen des Hauses. Sie hat uns einen kleinen Rundgang durch das Theater mit Blick hinter die Kulissen angeboten, um geeignete Orte für das Shooting mit Alexander zu finden. Dieses Angebot nehmen wir natürlich gerne an und steigen in die Straßenbahn Richtung Schiffbauergasse.

Wenig später erreichen wir unser Ziel. Das imposante Theatergebäude liegt direkt am Tiefen See. Was für eine Aussicht! Was für eine Ruhe!

Stefanie empfängt uns am Künstlereingang und führt uns gemeinsam durch das Haus: Garderobe, Maske, Requisite, Technik – ein Theater hinter den Kulissen.

Während wir gemütlich durch das Hans-Otto-Theater laufen und Raum für Raum entdecken, schießen wir immer wieder mal ein Foto von dem jungen Schauspieler, probieren Einstellungen aus, portraitieren, halten fest.

Dieser Austausch zwischen Bühne und Publikum erzeugt eben eine ganz besondere Energie.

Jonas:
Machst du eigentlich lieber Theater als Film, weil du dort die Wirkung auf das Publikum viel intensiver und direkter wahrnehmen kannst?

Alexander:
Ne, ich mag ehrlich gesagt beides. Durch meine Ausbildung an der HFF habe ich das Drehen ebenfalls total schätzen gelernt und würde gerne zukünftig auch in beiden Richtungen arbeiten können.
Trotzdem ist natürlich die Situation am Theater eine ganz Besondere, das stimmt. Dieser Austausch zwischen Bühne und Publikum erzeugt eben eine ganz besondere Energie.

Jonas:
Seit kurzem gibt es ein neues Stück, in dem du mitwirkst: „Torquato Tasso“ von Goethe. Worum geht es?

Alexander:
In dem Stück geht es um die Stellung des Dichters in der höfischen Gesellschaft – im übertragenen Sinne also um die Position des Künstlers in der Gesellschaft allgemein. Goethe selbst bezeichnet das als die Disproportion des Talents mit dem Leben.

Jonas:
Das klingt sehr zeitlos.

Alexander:
Ja, absolut. Zwar ist die Sprache des Stücks nicht mehr wirklich zeitgemäß und wird etwas anstrengend über die zwei Stunden, aber der Inhalt ist nach wie vor hochaktuell.

Jonas:
Findest du, dass der Beruf des Schauspielers mehr Anerkennung finden sollte in der Gesellschaft?

Alexander:
Ja, das sollte er auf jeden Fall. Viele Menschen assoziieren diesen Beruf ja mit wenig Arbeit, üppigen Gehältern und einem eher schillernden Leben im Rampenlicht.
Dabei sieht die Realität ganz anders aus: Die meisten verdienen eher bescheiden und stehen auch nicht im Fokus der Öffentlichkeit. Trotzdem opfern sie ihr Leben für diesen Beruf auf und arbeiten hart, um ein guter Schauspieler zu sein.

Jonas:
Was macht denn einen guten Schauspieler aus?

Alexander:
Dasselbe, was ganz allgemein auch einen guten Künstler ausmacht: Er kritisiert Missverhältnisse und stellt der Gesellschaft Fragen. Dabei steht er immer etwas abseits der Normalität, betrachtet die Dinge aus der Distanz und aus einem anderen Blickwinkel.

Ich habe nicht das Problem, dass ich nach dem Theater nach Hause komme und denke, dass ich jemand anderes bin.

Jonas:
Hast du das Gefühl, dass deine Rollen dich selbst in gewisser Weise verändern, etwas in dir auslösen und dir Fragen stellen?

Alexander:
Naja, es passiert schon häufiger mal, dass man die Rolle mit nach Hause nimmt und gar nicht so richtig abstreifen kann. Das ist vor allem in der Probenzeit so, weil man sich da intensiv mit dem Charakter seiner Figur auseinandersetzt und stundenlang in ein komplett anderes Leben denken muss.
Wenn man dann abends zuhause sitzt, merkt man, dass man sich schon noch damit beschäftigt und auch irgendwie mitgenommen ist – man war ja schließlich den ganzen Tag in diesem anderen Leben unterwegs.
Menschlich verändert man sich natürlich auch mit der Zeit – das hat aber weniger mit dem Inhalt der Rolle zu tun. Vielmehr ist es eine persönliche Weiterentwicklung, weil man durch das Spielen eine gewisse Erfahrung ansammelt.
Daher habe ich jetzt nicht das Problem, dass ich nach dem Theater nach Hause komme und denke, dass ich jemand anderes bin. Ich bin Alexander Finkenwirth, und das bleibe ich auch.

Im Foyer des Hans-Otto-Theaters endet unser Rundgang. Hier in dem hellen und lichtdurchfluteten Raum entstehen die letzten Fotos des Tages.

Wir bedanken uns bei Stefanie Eue, verabschieden uns und begleiten Alexander noch zur Straßenbahn-Station, wo sich unsere Wege trennen.

Unser Ausbruch aus dem Alltag neigt sich dem Ende zu, es geht zurück nach Berlin. Durchatmen konnten wir heute. Und abschalten.

Manchmal im Leben muss man einfach mal raus – und sei es nur für ein paar Stunden. Um den Blick wieder zu justieren. Und Antworten zu finden.

Dazu muss man nur nach Potsdam fahren.

Oder ins Theater gehen.


Michelle Barthel

Interview — Michelle Barthel

Durch die Nacht

Michelle Barthel gehört zu den seltenen Wesen, deren Augen dich verzaubern, während du wie hypnotisiert an ihren Lippen hängst. Durch die Berliner Nacht mit Michelle Barthel.

14. April 2013 — MYP N° 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Christian Hasselbusch

Es gibt Momente im Leben, da sollte man sich einfach treiben lassen und darauf vertrauen, dass alles gut wird. In diesen Momenten braucht es keinen Plan und keinen Kompass: Gesteuert wird rein aus Gefühl, gefahren wird auf Sicht.

Einer dieser Momente hat sich für den heutigen Samstagabend angekündigt. Wir wollen ihn gemeinsam mit der jungen Schauspielerin Michelle Barthel erleben, mit der wir uns zum Interview verabredet haben. Hier, am U-Bahnhof Weinmeisterstraße, soll unser Abend beginnen. Wohin die Reise geht: Keine Ahnung.

Wir wollten es ja auch gar nicht anders, hatten diese Idee irgendwann im letzten Herbst – an irgendeinem Küchentisch auf irgendeiner Party irgendwo in Berlin. Aus jener Idee wurde schnell ein Vorhaben, aus dem Vorhaben ein Versprechen und aus dem Versprechen das, was dieser Samstagabend bringen mag.

Und so gibt es heute nur ein Ziel: eine Antwort zu finden auf die Frage, wer und wie dieser Mensch wohl ist – dieser Mensch namens Michelle Barthel, die so plötzlich vor uns steht auf der Weinmeisterstraße mitten in Berlin.

Es ist gerade einmal 18 Uhr, also irgendwie erst Mittag und eigentlich noch viel zu früh für einen Samstagabend in der Hauptstadt. Aber das macht nichts, denn unsere Mägen knurren um die Wette. Und es ist kalt. Also brauchen wir eine Grundlage.

Wir ziehen los, die Gipsstraße entlang, und biegen schließlich in die Auguststraße ein. Neben dem Café „The Barn“, wo gerade die Stühle hochgestellt werden, springt uns eine hübsch gestaltete Schiefertafel ins Auge. Wir schauen uns an und überlegen: Wer das Wort „Bio-Burger“ so liebevoll auf eine Tafel schreibt, kann kein schlechtes Essen haben.

Also rein in diesen Laden, der den netten Namen „Fräuleinburger“ trägt. Kaum haben wir die Tür hinter uns geschlossen, fühlen wir uns in eine andere Zeit gebeamt – eine Zeit irgendwo zwischen Fifties und Captain Future, wo rote und gelbe Neonröhren um die Wette strahlen. Gemütlichkeit mal sonderbar anders. Angenehm anders.

Hinter dem Tresen empfängt uns Katharina Guntermann. Vor wenigen Monaten hat sie diese kleine Wohlfühloase erst eröffnet, trotzte seitdem wacker diversen Steinwurfattacken und Farbanschlägen. Gelassen und freundlich nimmt sie unsere Bestellung auf. Wirklich alles ist hier selbstgemacht. Authentizität lässt sich eben nicht vertreiben.

An einem kleinen Tisch im Untergeschoss nehmen wir Platz und warten auf unsere Burger. Während wir das Diktiergerät starten, legt Michelle ihre Hände um eines der kleinen Teelichte, die überall auf den Tischen verteilt sind.

Jonas:
Du hast 2001 zum ersten Mal auf der Bühne gestanden – mit gerade einmal acht Jahren. Wie kam es dazu, dass du so früh schon Theater gespielt hast?

Michelle:
Meine Eltern hatten damals in einem recht kleinen Ort in der Nähe von Münster neu gebaut, wir waren gerade umgezogen. Um die Leute in dieser neuen Umgebung besser kennenzulernen und schneller Anschluss zu finden, gab es verschiedene Möglichkeiten. So standen etwa Chor, Ballett oder Theater zur Auswahl – und ich habe mich für Theater entschieden.
Zwar war das eher eine Laientheatergruppe, trotzdem hat es mir super viel Spaß gemacht. Wir haben diverse Märchen gespielt und alle Kinder haben mitgemacht. Das war echt schön – und so stand ich mit acht Jahren schon auf der Bühne.

Jonas:
Und zwei Jahre später hast du dann zum ersten Mal vor einer Kamera gestanden…

Michelle:
Ja, stimmt. Dazu gibt es aber eine lustige Vorgeschichte. Zu der Zeit, als ich freizeitmäßig Theater gespielt habe, hatte ich gemeinsam mit einer guten Freundin die fixe Idee, Model zu werden – was man sich eben mit acht Jahren so ausdenkt. Damals gab es in Münster ein Casting für einen Fotokatalog. Und wir dachten: Lass’ uns mal hingehen.
Beim Casting mussten wir einige Fragen beantworten, zum Beispiel was unsere Hobbys sind. Ich sagte, dass ich Theater spiele, und wurde daraufhin gefragt, ob ich nicht auch mal Lust hätte, zu einem Filmcasting zu kommen. Das habe ich natürlich gemacht – und wurde dort für meinen ersten Film besetzt.
Dieser Film hieß „Der zehnte Sommer“ und war ein Kinderkinofilm mit Katharina Böhm und Kai Wiesinger. Gedreht haben wir irgendwann in 2002, da war ich neun Jahre alt.

Jonas:
Konntest du damals schon einen Unterschied erkennen zwischen Theater- und Filmschauspiel?

Michelle:
Ja, absolut. Vom Spielen her habe ich da einen echt großen Unterschied wahrgenommen. Ich weiß noch, am ersten Drehtag hat der Regisseur zu mir gesagt: „Michelle, mach’ mal die Hälfte!“ Beim Theater hatte ich damals gelernt, dass ich alles sehr groß spielen muss, um auch das ganze Publikum mitnehmen zu können. Man muss dort eben einen Raum füllen, den man beim Drehen so gar nicht hat. Vor der Kamera muss man sein Spiel daher sehr minimieren.

Man merkt direkt, ob man die Menschen vor sich erreicht oder nicht.

Jonas:
Das heißt, du streckst auf der Theaterbühne viel deine Arme viel weiter aus, um alle mitzunehmen zu können?

Michelle:
Ja natürlich. Man fühlt dort oben ja auch genau, was das Publikum fühlt. Und man merkt direkt, ob man die Menschen vor sich erreicht oder nicht. Diese unmittelbare Verbindung von Bühne und Publikum ist am Theater einfach unglaublich stark und wichtig.

Jonas:
Gibt einem dieses Unmittelbare zusätzlichen Auftrieb?

Michelle:
Klar, weil man ständig das Gefühl hat, um das Publikum kämpfen zu müssen. Man muss es schaffen, dass die Leute genau das empfinden, was man selbst gerade empfindet. Bei dem einen Publikum ist das leichter, bei dem anderen schwerer.
Ich hatte auch ganz oft Vorstellungen, wo viele Kinder saßen. Und Kinder sind bekanntermaßen sehr kritisch: Wenn man öde ist, ist man öde. Und das lassen sie einen auch spüren. Sie sind das ehrlichste Publikum, das man haben kann.

Wir unterbrechen unsere Unterhaltung für einige Minuten, denn die bestellten Burger sind fertig. In kleinen Körbchen werden sie an unseren Tisch gebracht und sehen tatsächlich so wunderbar lecker aus, wie es die Schiefertafel vermuten ließ. Glück kann so einfach sein.

Diese Grundlage war mehr ordentlich. Und so scheinen wir gut gerüstet, um die unbekannte Reise fortzusetzen. Durch den Abend. Durch die Nacht.

Nachdem wir uns herzlich von Katharina verabschiedet haben, ziehen wir weiter. Mittlerweile ist es 19:30 Uhr, die Dämmerung hat eingesetzt.

Nach links oder nach rechts? Oder doch besser geradeaus? Irgendwie zieht es uns Richtung Rosenthaler Platz, also laufen wir die Auguststraße weiter. Nach etwa hundert Metern stehen wir vor einer Bar namens „Hackbarth’s“. Sieht nett aus. Also rein da.

Und tatsächlich: Goldene Wände, schwarze Kacheln und ein opulenter Tresen erzeugen eine angenehm warme und vertraute Atmosphäre. Und wie bei „Fräuleinburger“ stehen hier überall kleine Teelichte. Ob diese kleinen Kerzen heute Abend unsere stillen Begleiter sind?

Die Bar ist gut besucht, nur ein Tisch ist noch frei – Glück gehabt.

Jonas:
Wie ging es nach dem Film mit deiner Schauspielerei weiter?

Michelle:
Ich wurde von der Kinder- und Jugendagentin Maria Schwarz angesprochen, die mich in ihre Agentur aufgenommen hat. Sie kannte mich schon, da sie für „Der zehnte Sommer“ gecastet hatte und später auch den Film gesehen hatte.

Jonas:
Und so flatterte dir dann Projekt über Projekt ins Haus?

Michelle:
Nein, dann kam ganz lange erst einmal gar nichts mehr. Mein Vater war zu der Zeit gestorben – die Schauspielerei hatte ich dabei irgendwie gar nicht mehr auf dem Schirm und total vergessen. Das Ganze war nur noch als irgendeine coole Kindheits-Aktion in Erinnerung. Dass ich überhaupt nochmal die Chance erhalten würde zu spielen – damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.
Irgendwann bekam meine Mutter aber eine Email von meiner Agentin: Für eine Rolle im Film „Keine Angst“ wurde ein dreijähriges Mädchen gesucht. Meine Mutter wurde gefragt, ob sie zufällig jemanden kennen würde, der auf die Rollenbeschreibung passt. Sie kannte zwar kein dreijähriges Mädchen, fragte aber nach, ob die Hauptrolle schon besetzt sei – und dachte dabei an mich.
Die Rolle war zwar noch frei, allerdings stand das Casting dafür schon unmittelbar bevor. Und da ich mittlerweile 15 war und ich mich im Laufe der letzten Jahre natürlich äußerlich sehr verändert hatte, mussten wir noch auf die Schnelle ein paar Fotos schießen – kurz vor knapp morgens um 6:00 Uhr, bevor ich zur Schule gegangen bin. Dementsprechend fertig sah ich auf den Fotos aus, was aber eventuell ganz gut gepasst hat auf die Rolle.
Wenig später wurde ich zum Casting eingeladen und tatsächlich für die Hauptrolle besetzt –die Figur Becky in „Keine Angst!“

Jonas:
Was für ein Zufall!

Michelle:
Ja, total. Es ist auch nicht normal, dass eine Mutter so nachhakt. Das Ganze hing einfach an einem seidenen Faden des Schicksals.

Jonas:
Vielleicht hatte deine Mutter einfach das Gefühl, dass es das Richtige für dich sein könnte.

Michelle:
Kann sein. Vielleicht fand sie es aber auch einfach nur etwas schade, dass ich das mit der Schauspielerei nicht mehr gemacht habe. Schließlich hatte es mir ja als Kind richtig viel Spaß gemacht.
Ich muss dazu aber sagen, dass ich durch den Tod meines Vaters und alle schmerzlichen Erfahrungen, die damit verbunden waren, auf eine ganz andere Gefühlsebene gekommen bin. Als Kinderdarstellerin habe ich ja einfach nur gespielt wie ein Kind. Was wirklich hinter dieser Kunst steckt und was man dafür geben muss, habe ich erst durch den Dreh für „Keine Angst“ gelernt.

Jonas:
Wie hast du dich damals auf die Rolle vorbereitet?

Michelle:
Es gab viele intensive Probetage, wir haben uns wieder und wieder sehr ausführlich über die Problematik unterhalten. Jede Szene haben wir dabei auseinandergenommen und überlegt, was wir damit genau sagen wollen. Alleine dadurch hatte ich eine ganz andere Bindung zum Spiel als vorher.

Jonas:
„Keine Angst“ wurde mit insgesamt vier Preisen ausgezeichnet – und plötzlich war der Name Michelle Barthel überall ein Begriff. Wie hast du das aufgenommen?

Michelle:
Gar nicht. Ich checke das auch immer noch nicht so wirklich. Es wundert mich nach wie vor, wenn mich jemand beim Casting oder auf der Straße erkennt.

Jonas:
Die meisten Leute haben dich wahrscheinlich schon viel öfter im TV gesehen als sie meinen – du hast ja alleine in vier Tatorten mitgespielt, die jedes Mal ein Millionenpublikum erreicht haben.

Michelle:
Ja, ich bin auch sehr stolz, dass ich da mitwirken durfte. Allerdings dachte ich nach dem vierten Tatort: Ein fünftes Mal muss es nicht unbedingt geben, irgendwann fällt es sicher auf, dass immer wieder dasselbe Mädchen in einer ähnlichen Rolle zu sehen ist. Ich kann mir vorstellen, dass das die Zuschauer vielleicht irgendwann nervt.

Jonas:
Nervt es dich selbst?

Michelle:
Nein, ganz im Gegenteil. Ich spiele dort ja immer sehr spezielle Charaktere, die vor ganz bestimmten existenziellen Problemen stehen – und das finde ich sehr spannend. Ich mag diese Rollen äußerst gerne, weil sie mich dazu bringen, mich mit dieser Problematik intensiv auseinanderzusetzen. Daraus schöpfe ich sehr viel Kraft.
Bei „Keine Angst“ habe ich übrigens zum ersten Mal gemerkt, wie das ist, wenn man eine gewisse Empathie für die Figur empfindet, die man spielt. Es hilft mir immer sehr, wenn ich versuche, mich in deren Lage zu versetzen. Ich hoffe dadurch besser verstehen zu können, warum die Figur gerade so handelt.
Seit „Keine Angst“ gehe ich auch viel weniger kritisch mit anderen Menschen um und verurteile nicht mehr so schnell, weil ich gelernt habe, dass jeder irgendwo seine Beweggründe hat für das, was er tut.

Jonas:
Erreicht man da nicht irgendwann eine Grenze des Verstehens?

Michelle:
Natürlich gibt es Dinge, die sind so grausam, so brutal oder einfach so sonderbar, die kann man nicht begreifen. Und darf sie auch nicht tolerieren. Trotzdem habe ich erlebt, dass man oft viel zu schnell den Begriff „unmenschlich“ benutzt, ohne dabei wirklich zu überlegen, was das überhaupt heißt. Nicht selten wirkt das wie eine faule Ausrede, mit dem wir das Geschehene weit von uns wegschieben können. So müssen wir uns damit nicht ernsthaft auseinandersetzen.
Ich halte es einfach grundsätzlich für wichtig, dass man sich bei allem genau die Hintergründe anschauen muss, um nachvollziehen zu können, warum beispielsweise jemand eine so ungeheure Wut entwickelt hat.

Die Bar wird voller und voller, der Geräuschpegel steigt empfindlich. Immer mehr Menschen strömen nun in das goldgelb schimmernde Lokal, das sein stimmungsvolles Licht durch große Fenster weit nach draußen wirft. Kurz vor 21.00 Uhr ist es jetzt – was wohl die nächste Station auf unserer Reise sein mag?

Wir laufen zurück zur U-Bahnstation Weinmeisterstraße, die nächste Entscheidung steht an: Wollen wir nach Norden oder lieber in den Süden? Die U8 Richtung Herrmannstraße kommt zuerst, also wird’s der Süden.

Fünf Stationen weiter steigen wir aus. Das Kotti ist ja immer einen Abstecher wert, wenn man sich in die Nacht stürzen will. Auf die Oranienstraße haben wir aber gerade keine Lust, und so laufen wir den Kottbusser Damm entlang, bis wir vor der Mariannenstraße an der Ampel stehen. Oh, lasst uns ins „Hotel“ gehen, das ist doch hier gleich!

Das „Hotel“ ist eigentlich eine Bar und immer eine gute Idee. In dem kleinen, verwinkelten Laden gibt es kein künstliches Licht, dafür aber etliche Kerzen – eine Stimmung, die so schön ist, dass man sie nicht beschreiben kann.

Wir finden eine kleine freie Ecke vor dem Klavier, legen unsere Jacken ab und machen es uns gemütlich.

Jonas:
Vor kurzem hast du den Film „Spieltrieb“ abgedreht, der auf dem gleichnamigen Roman basiert. Du wurdest auch hier für die Hauptrolle besetzt – war deine Herangehensweise bei der Vorbereitung dieselbe wie sonst?

Michelle (lacht):
Auf jeden Fall hat der Dreh turbulenter begonnen als sonst! Ich habe zu der Zeit gerade mein Abi gemacht. Meine mündliche Prüfung hatte ich morgens um 7:30 Uhr und saß um 12:00 Uhr schon im Flieger nach München, um den ersten Probentag nicht zu verpassen.
Aber im Ernst: Alleine die physische Vorbereitung war viel intensiver als bei meinen früheren Rollen. Ich musste sehr viel trainieren, da die Figur, die ich spiele, sehr sportlich ist und im Film viel rennt.

Jonas:
Der Film wird wahrscheinlich im Herbst 2013 Premiere haben. Freust du dich?

Michelle:
Ja, ich freue mich sehr. „Spieltrieb“ ist auf der einen Seite sehr düster, auf der anderen Seite aber äußert lebendig und provokant. Ich bin total gespannt darauf, was die Leute empfinden werden, wenn sie ihn sehen.

Jonas:
Was charakterisiert die Rolle der Ada, die du spielst?

Michelle:
Ada ist ein fünfzehnjähriges Mädchen, das ziemlich isoliert durchs Leben geht und sich ihrer Umwelt geistig überlegen fühlt. Sie ist sehr gebildet, intellektuell und stillt ihren Wissenshunger zum Beispiel mit Sartre. Sie will aus dem Hierarchiesystem ausbrechen, das ihr das Leben und die Schule aufzwingen.
Irgendwann kommt ein neuer Schüler in ihre Stufe, sein Name ist Alev. Bei ihm hat sie das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der ihr die Stirn bieten kann. Alev und Ada ticken ähnlich, sie reiben sich aneinander – und irgendwann verliebt sie sich in ihn.
Auf einer Klassenfahrt rettet Ada dann die Frau des Sportlehrers vor dem scheinbaren Suizid, weshalb ihr der Sportlehrer sehr dankbar ist. Alev kommt dabei auf die perfide Idee, dass Ada diese Dankbarkeit ausnutzen und den Lehrer verführen könnte. Aus Liebe zu Alev gibt sie sich seiner Idee hin und tut, was er verlangt. Dabei wirft sie all’ ihre Prinzipien und Ideale über Board…

Jonas:
Hast du für Ada auch eine gewisse Empathie entwickelt?

Michelle:
Als ich mich zum ersten Mal mit der Figur beschäftigt habe, war sie total weit weg von mir. Aber je länger ich die Rolle gespielt habe, desto mehr ist mir aufgefallen, wie sehr wir uns in bestimmten Dingen ähneln – zum Beispiel in dem Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Angefreundet haben Ada und ich uns allerdings nicht – ich glaube, Ada fände mich nicht besonders cool. Ich wäre ihr wahrscheinlich nicht hart genug.
Ada und ich haben uns übrigens sehr tragisch verabschiedet – am letzten Drehtag in Bonn. Ich stand abends auf einer Brücke über dem Rhein und habe ein Armband durchgeschnitten, das ich über die gesamte Drehzeit getragen hatte. Dieses Armband gehörte zur Figur Ada – ich habe es im Rhein versenkt.
Ich musste das einfach tun, weil mich die Rolle so eingenommen hatte, dass es echt schwer für mich war, wieder den Bogen zu mir selbst zu finden. Ich brauche zwar sonst keine Rituale im Leben, aber dieser symbolische Akt war mir wichtig.

Jonas:
Du bist danach auch recht bald nach Berlin umgezogen…

Michelle:
Ja, nach Spieltrieb war ich zum Drehen noch etwa einen Monat in Norwegen und bin dann im Oktober letzten Jahres nach Berlin gekommen. Irgendwie wollte ich ja nie in die Hauptstadt ziehen, aber es gab so einen Wink und ich wusste, dass in meinem Leben jetzt der nächste Schritt kommen musste.
Ich liebe meine Heimat ja total, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich gehen muss. Und da hatte sich Berlin zufällig angeboten. Ich kannte hier ja eh schon einige Leute.

Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich weg muss.

Jonas:
Anfang Januar hast du der Hauptstadt aber erst einmal wieder für vier Wochen den Rücken gekehrt und bist nach Thailand aufgebrochen.

Michelle:
Ja, es war so eine Aufbruchsstimmung in mir. Das neue Jahr fing an und ich hatte mich von vielem getrennt und vieles aufgegeben. Es veränderte sich gerade einfach viel um mich herum. Ich habe plötzlich gemerkt, dass ich weg muss. So richtig weg.
Beim Dreh zu „Spieltrieb“ gab es einen Bühnenbauer, der immer so von Thailand geschwärmt hatte. Er meinte, dass man da unbedingt mal gewesen sein müsste in seinem Leben. Also ging es nach Thailand.
Es ist tatsächlich ein unglaublich schönes Land mit einer tollen Atmosphäre und einer atemberaubenden Landschaft. Man trifft auf seiner Reise so viele Gleichgesinnte, die aus den verschiedensten Ecken der Welt kommen.
Der größte Vorteil von Thailand ist aber, dass die Distanz zu Deutschland so groß ist, dass man sich in Ruhe die Frage stellen kann, wer man ist und wo man hin will.

Jonas:
Hast du dort die Antworten darauf gefunden?

Michelle:
Ja, absolut. Und ich habe dort auch endgültig den Entschluss gefasst, eine Schauspielschule zu besuchen. Momentan bewerbe ich mich in Berlin, Potsdam, Leipzig und Rostock. Ich bin gespannt, wo ich lande.

Jonas:
Fühlst du dich in Berlin mittlerweile zuhause?

Michelle:
Ich mag die Stadt, weil ich mich hier einfach frei fühle und viele Menschen um mich herum habe, die mir sehr ans Herz gewachsen sind.

Jonas:
Gibt es trotzdem noch andere Orte auf der Welt, an denen du mal leben willst?

Michelle:
Früher hatte ich immer den Traum, dass ich irgendwann mal mit einem VW Bulli quer durch Europa bis nach Griechenland fahren will, wo ich am Strand wohne, bis ich sterbe.
Heute will ich aber überall mal hin – aber idealerweise immer noch mit einem VW Bulli.

Michelles Augen werden groß und fangen an zu funkeln. Dabei malen die vielen kleinen Kerzen, die das Hotel so stimmungsvoll erleuchten, geheimnisvolle Figuren aus Licht und Schatten auf ihr Gesicht.

Für einen Moment verliert sie sich in ihren Gedanken. Die junge Schauspielerin scheint gerade irgendwo am Strand zu liegen. In Thailand. Oder Griechenland. Oder sonstwo auf der Welt.

Kurz vor Mitternacht ist es jetzt, wir brechen auf. Nur wenige Schritte sind es von hier bis zur Kottbusser Brücke, die sich über den tiefschwarzen Landwehrkanal streckt.

Langsam und lautlos bahnt sich das Wasser seinen Weg durch die Dunkelheit, nur begleitet von den Sternen und dem Mond.

Ich liebe die Nacht einfach, weil sie so unendlich frei ist.

Jonas:
Was für eine schöne Nacht.

Michelle:
Ja, die Nacht ist eigentlich der schönste Teil des gesamten Tages. Es ist irgendwie die Zeit, die man ganz in Ruhe verbringen kann.
Daher hat die Nacht für mich auch einen unglaublichen Zauber. Alles steht still. Und obwohl trotzdem an einigen Stellen das Leben pulsiert, findet man so viele Orte, an denen man total die Zeit vergessen kann.
Ich liebe die Nacht einfach, weil sie so unendlich frei ist. Leider geht sie immer viel schneller vorbei als der Tag. Aber das ist ja irgendwie bei allem Schönen so.

Wir laufen zurück zum Kottbusser Tor. Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich zu verabschieden.

Aber irgendwie finden wir alle, dass diese Reise noch nicht zu Ende sein kann, nicht zu Ende sein darf. Und so beschließen wir, in der „Luzia“ vorbeizuschauen. Ein riskantes Unterfangen – denn Samstagsabends platzt die Bar aus allen Nähten.

Egal, wir probieren es trotzdem. Und haben Glück: Vor kurzem erst wurde der Raucherbereich ausgebaut und zu einem Club innerhalb des Lokals umfunktioniert. Nicht Viele verirren sich in diesen kleinen Raum, in dem man sich abgeschottet vom Lärm der Außenwelt von feinen Elektroklängen beschallen lassen kann.

Und so schlagen wir uns vom Eingang durch die Massen bis zum Club durch, wo wir über eine Leiter eine kleine Nische erklimmen, die nur erhellt wird durch eine schwach flackernde Kerze. Schon wieder dieses Licht!

Wir lehnen uns zurück, lauschen der Musik und schauen uns schweigend an: Das Ziel der Reise scheint erreicht zu sein.

Ganz ohne Plan. Ganz ohne Kompass.

Es gibt Momente im Leben, da sollte man sich einfach treiben lassen und darauf vertrauen, dass alles gut wird.

Meistens hat man Glück.

Wie in dieser Nacht.