Robert Stadlober

Interview — Robert Stadlober

»Goebbels ist sich permanent selbst auf den Leim gegangen«

Es war eine Qual für ihn, sagt Robert Stadlober über seine Rolle als Joseph Goebbels im Kinofilm »Führer und Verführer«. Kein Wunder, denn der Schauspieler ist selbst ein feuriger Redner – allerdings mit antifaschistischer Leidenschaft: ein Gespräch über mächtige Manipulatoren, einbahnstraßenhafte Diskurse, den Berliner Buddhismus und die Kraft von Kurt Tucholsky, mit dessen Werk er sich reinwaschen konnte von all dem Nazi-Wahnsinn.

11. Juli 2024 — Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: Frederike van der Straeten

Privat tourt Robert Stadlober (41) gerade mit den Gedichten von Pazifist und Antimilitarist Kurt Tucholsky durch Deutschland, im Kino dagegen sieht man ihn zurzeit als einen der – im negativen Sinne – berühmtesten Hetzer der Welt: Joseph Goebbels. Eine reizvolle Casting-Entscheidung, denn Stadlober galt lange Jahre als Punk des deutschen Kinos. Nun motiviert der charismatische Darsteller das deutsche Volk als Hitlers Propagandaminister zum „totalen Krieg“.

Der Film selbst ist vielleicht der wichtigste des Jahres: Er nimmt seine Chronistenpflicht ernst und erzählt faktenreich die Hintergrundgeschichte der Propaganda des Dritten Reichs. Teilweise durchbrechen dokumentarische Elemente die vierte Wand, wie zum Beispiel Kommentare der 102-jährigen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer.

Um das beispiellose Grauen der Nazidiktatur zu zeigen, benutzt der Film echtes Bildmaterial von Erschießungskommandos oder aus Konzentrationslagern. Lediglich den Szenen, die sich mit den Handlungen der Parteiobrigkeit befassen und die in der Regel hinter verschlossenen Türen stattfanden, werden von Fritz Karl als Adolf Hitler und Robert Stadlober in der Rolle des Joseph Goebbels cineastisch illustriert.

Dass der „Führer“ einst von der Kunstakademie in Wien abgelehnt wurde, ist bekannt. Aber auch Goebbels bemühte sich darum, ein klassischer Weimarer Schöngeist zu werden: Aufgrund seines Klumpfußes durfte er nicht zum Militär und studierte stattdessen Germanistik, und das bis zum Doktortitel. Allerdings wurde seine Bewerbung unter anderem von der damals überregionalen Tageszeitung „Berliner Tageblatt“ abgelehnt. Stattdessen nahm ihn das Parteiorgan der NSDAP als Schreiberling.

»Wenn Hitler und Goebbels irgendwo künstlerisch untergekommen wären, dann sicher nur bei Leuten, die ihres eigenen Geistes Kind gewesen wären.«

MYP Magazine:
Wie viel Künstler steckt in Deinem Goebbels?

Robert Stadlober:
Natürlich steckt in ihm eine gewisse Kreativität, das ist aus moralischer Sicht erst mal nicht bewertbar. Dennoch wären sowohl Hitler als auch Goebbels sicher nicht zu Feingeistern der Weimarer Republik geworden. Von Hitler kennt man nur biedere Landschaftsmalereien. Und den Goebbels-Text sieht man an, dass er versucht hat, eine Welt zu verhindern, die bereits in der Weimarer Republik begonnen hat. Nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs sahen viele Menschen eine unglaubliche Chance darin, ein neues gesellschaftliches Zusammenleben zu erfinden – und ich glaube, jegliche Arbeit von Goebbels, auch die kreative, stand dem entgegen.
Wenn beide daher irgendwo künstlerisch untergekommen wären, dann sicher nur bei Leuten, die ihres eigenen Geistes Kind gewesen wären. Und da sie das nicht geschafft haben, versuchten sie es schließlich über die Sphäre der Politik und trampelten alles kaputt, was an der Weimarer Republik frei und öffnend war. In dem Staat, den die beiden dann geschaffen haben, herrschte eine „Kultur“, die in ihren ästhetischen Überzeugungen dem Talent der beiden entsprach.

»Der italienische Futurismus hatte durchaus progressivere Ansätze als dieser Bierkeller-Nationalismus von Hitler.«

MYP Magazine:
Goebbels inszenierte sich als Liebhaber der schönen Künste – oder zumindest der schönen Künstlerinnen. Gerade mit der Filmbranche war er eng verbandelt. Welche Details und Anekdoten aus diesem Teil seiner Biografie haben Dich besonders überrascht oder berührt?

Robert Stadlober:
Im Vergleich zu vielen anderen Figuren der späteren NS-Führungsriege war Goebbels tatsächlich vom italienischen Futurismus beeinflusst. Der führte zwar später auch in den Faschismus, hatte aber durchaus progressivere Ansätze als dieser Bierkeller-Nationalismus von Hitler. Ich fand es spannend, dass Goebbels es geschafft hat, Hitler davon zu überzeugen, dass man einen Unterhaltungsfilm braucht, der näher an dem tatsächlichen Leben der Menschen ist. Hitler hat ihn an diesem Punkt oft wieder eingefangen. Aber letztlich war Goebbels schon ein „moderner Mensch“. Das erklärt auch sein Interesse am Film, der damals die modernste Kulturform war. Und eben auch sein Interesse an den Machern und Macherinnen des Films – wie etwa den Schauspielerinnen.

»Goebbels war der Erste, der verstanden hat, dass man die Politik in den Unterhaltungsfilm hineinschreiben kann.«

MYP Magazine:
War Goebbels’ Nähe zum Kunst- und Kulturbetrieb entscheidend für die Art und Weise, wie Ihr euch die Rollen erarbeitet habt?

Robert Stadlober:
Ganz entscheidend für ihn ist, dass er zwei Sphären zusammengebracht hat, die bis dahin nichts miteinander zu tun hatten: Zum einen die Politik und zum anderen die Ästhetik, die Kunst, die Kultur. Vor seiner Ära stand auf dem Marktplatz eine Kiste herum. Da hat sich einer draufgestellt und eine politische Rede gehalten. Das hat man sich vielleicht kurz angehört und ist danach ins Theater gegangen. Goebbels war dann der Erste, der verstanden hat, dass man die Politik in den Unterhaltungsfilm hineinschreiben kann. Und dass die Leute, die bei einem amourösen Tête-à-Tête ins Kino gehen, nach ihrem letzten Kuss aus dem Film rauskommen und auf einmal die NSDAP wählen wollen. Heute sind solche Suggestiv-Techniken ganz normal. Das fängt schon bei der Shampoo-Werbung an, da werden einem Sache untergejubelt, von denen man am Ende glaubt, man wäre selbst darauf gekommen.

»Wir versuchen das zu zeigen, von dem Goebbels verhindern wollte, dass es gezeigt wird.«

MYP Magazine:
Euer Film „Führer und Verführer“ versucht jedoch, hinter die Manipulation zu blicken…

Robert Stadlober:
Exakt. Wir stellen Momente nach, die zu diesem Grauen geführt haben und die Menschen dazu verleitet haben, bei dem ganzen Wahnsinn mitzumachen. Die Grundprämisse unseres Films ist, dass wir versuchen das zu zeigen, von dem Goebbels verhindern wollte, dass es gezeigt wird. Sein gesamtes Schaffen und auch sein privates Leben waren eine einzige Inszenierung. Das merkt man an seinen Tagebüchern. Die hat er für einen sehr hohen Vorschuss verkauft, bevor sie überhaupt geschrieben waren. Man merkt den Texten an: Er schreibt in seinem privaten Tagebuch klar für ein Publikum.

»Gegenüber Leuten, die sie als Kollaborateure, Mittäter oder Großfinanziers gewinnen wollten, haben Sie andere Töne angeschlagen.«

MYP Magazine:
Hitler wurde bereits in etlichen Filmen gespielt und ist bei den Zuschauenden mit sehr spezifischen Vorstellungen bezüglich Auftritt, Stimme oder Körperhaltung verbunden. In Eurem Film wirkt er anders.

Robert Stadlober:
Da gibt es eine schöne Anekdote: Einige Monate vor unserem Film hatte Fritz Karl, der Hitler spielt, ein anderes Angebot, bei dem er ebenfalls den „Führer“ verkörpern sollte. Zur Vorlage hatte er sich die einzige Tonaufnahme von Hitler genommen, die ohne dessen Wissen und ohne Inszenierung aufgenommen wurde, und zwar auf einer Zugreise durch Finnland. Nachdem der Regisseur ihn beim Casting gehört hatte, sagte er zu Fritz Karl: „Sie haben ja überhaupt gar nichts verstanden.“
Aber eigentlich hatte er es sehr genau verstanden. Denn die Tonaufnahmen, die wir von Adolf Hitler kennen, sind immer Inszenierung in der Kraft. Privat hat er so nicht gesprochen. Seine Sprache ist eine Bühnensprache, wie sie damals übrigens von den meisten Politikerinnen und Politikern verwendet wurde. Wir empfinden das heute als Nazi-Deutsch, aber so haben auch Leute aus der SPD oder Kommunisten gesprochen – auch wenn es bei Hitler und Goebbels natürlich wieder in etwas Wahnhafteres gekippt ist.
Es ist aber wichtig zu wissen: Die haben sich nicht die ganze Zeit angeschrien. Gegenüber Leuten, die sie als Kollaborateure, Mittäter oder Großfinanziers gewinnen wollten, haben Sie andere Töne angeschlagen.

»Das Interessante ist, dass Goebbels keine gefestigte politische Meinung hatte.«

MYP Magazine:
Du scheinst „Deinen“ Goebbels auch mit viel Lebensfreude zu spielen, die Figur hat oft etwas unternehmerisches – wie jemand, der in einer Werbeagentur arbeitet. War das Absicht?

Robert Stadlober:
Goebbels war ein Charmeur. Lída Baarová, die Frau, mit der er ein langes Verhältnis hatte und in die er wirklich wahnsinnig verliebt war, sagte später über ihn: Sie habe diesen Menschen gar nicht richtig gekannt, sie war stattdessen verliebt in seine Liebe. Sie war verliebt in die Art und Weise, wie er um sie geworben hatte.

MYP Magazine:
Fängt man irgendwann an, die Geniestreiche dieses Massenmörders zu bewundern?

Robert Stadlober:
Nein, bewundern ist das falsche Wort. Das Interessante ist, dass Goebbels keine gefestigte politische Meinung hatte. Er war am Anfang nicht der glühende Antisemit, der Hitler immer war. Goebbels diente sich verschiedensten politischen Strömungen an und landete dann irgendwann bei dem sozialrevolutionären Flügel der NSDAP im Rheinland, der mit der Hitler-Bewegung in Bayern eigentlich nichts zu tun hatte. Irgendwann in den 1920er-Jahren hat er dann Hitler sprechen gesehen – und war sofort tief beeindruckt von diesem Mann, was er auch in seinen Tagebüchern schreibt. Danach konzentrierte er alle seine Anstrengungen darauf, Anerkennung von seinem neuen Vorbild zu erhalten, und richtete dementsprechend auch seine Politik auf ihn aus.

»Das zeugt von einer möglicherweise dissoziativen Persönlichkeitsstörung.«

MYP Magazine:
Gab es auch mal Uneinigkeiten zwischen „Führer“ und „Verführer“?

Robert Stadlober:
Später, während es Krieges, beobachten Historiker, dass es viele Entscheidungen Hitlers gab, die Goebbels zunächst abgelehnt hatte. Den Angriff auf die Sowjetunion zum Beispiel fand er absurd. Doch dann gab es eine längere Unterredung mit dem „Führer“, und am nächsten Tag schrieb Goebbels in sein Tagebuch, dass dies der genialste Schachzug der Außenpolitik in der gesamten Menschheitsgeschichte gewesen sei. Goebbels ist sich also permanent selbst auf den Leim gegangen. Nach der berühmten Sportpalast-Rede schrieb er auf, wie sehr er sich über das gute Presseecho seiner Rede gefreut hätte. Dabei hatte er die guten Pressekritiken im Prinzip selbst geschrieben, da er den Journalisten entsprechende Anweisungen gegeben hatte, was sie am nächsten Tag in ihren Zeitungen schreiben sollten.

»Ich bin da durchgerast in einer absoluten Manie, das hatte mit Spaß überhaupt nichts zu tun.«

MYP Magazine:
Hat es auf eine perfide Art auch Spaß gemacht, das zu spielen?

Robert Stadlober:
Es war eine absolute Qual, eine wirkliche Tortur. Wir hatten nur 24 Drehtage, was sehr wenig ist. Ich habe jeden Tag seitenweise Text geredet. Ich bin da durchgerast in einer absoluten Manie, das hatte mit Spaß überhaupt nichts zu tun. Ich habe es keine Sekunde genossen, das zu machen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich meine Instrumente nutzen kann, um wichtige Sachverhalte und Fragen aufzuwerfen – etwa die, wie man das Manipulationspotenzial von Film durch das Medium Film aufdecken kann: Das hat mich daran interessiert, deshalb war ich bereit, mich darauf einzulassen.

»Die AfD-Trolle finden alles, was sie von dem Film gesehen haben, scheiße – das ist der beste Beweis dafür, dass der Film sehr gut ist.«

MYP Magazine:
Gab es bereits Reaktionen aus der rechtsextremen Blase zu Eurem Film?

Robert Stadlober:
Man muss natürlich heutzutage Trailer und anderes Material auf Social Media ausspielen. Aber leider merkt man sehr schnell, dass das so Honigtöpfe sind, in denen sofort alle AfD-Trolle drinhängen – und die in den Kommentarspalten vom Grün-Rot-faschistischen Regime in Berlin sprechen. Die finden alles, was sie von dem Film gesehen haben, scheiße – und das ist, glaube ich, der beste Beweis dafür, dass der Film sehr gut ist. Denn er ist dafür gedacht, dass ihn solche Leute richtig scheiße finden.

MYP Magazine:
Weil es nichts Verherrlichendes gibt?

Robert Stadlober:
Genau. Ich finde niemanden in diesem Film, den ich verstehe. Da gab es überhaupt keinen Moment, in dem ich dachte: Jetzt wird es für mich menschlich nachvollziehbar, wie man so grausam sein kann. Ich möchte Goebbels auch nicht psychologisch verstehen. Ich möchte nichts von dem, was er getan hat, mit irgendeinem Leid, das er in seiner Kindheit erlitten hat, entschuldigen. Mit dem Film ging es uns um geschichtliche Tatsachen, die wir bebildern müssen, da es die Originalbilder dafür nicht gibt – weil er sie verhindert hat.

»Es ist schockierend, wie einbahnstraßenhaft Diskurse mittlerweile funktionieren.«

MYP Magazine:
Propaganda und Desinformation gehören zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit. Gab es in Deinem privaten Leben auch schon Situationen, in denen Du mit Mechanismen der Medienmanipulation und -kontrolle konfrontiert warst?

Robert Stadlober:
Goebbels hatte mit der Nutzung des Massenmediums Radio einer ganzen Nation das Gefühl gegeben, nah am vermeintlichen Zeitgeschehen zu sein. Das tragen wir jetzt permanent in unserer Hosentasche. Und wir bilden uns auch noch ein, dass wir selbst bestimmen, wer dieses Radio spielt. Die Manipulation durch Algorithmen und Echokammern ist so extrem, dass ich nicht glaube, dass man heute schon die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Entwicklung überblicken kann. Es ist schockierend, wie einbahnstraßenhaft Diskurse mittlerweile funktionieren – durch jene Medienformen, die uns ständig suggerieren: Es ist etwas ganz Schlimmes passiert und du darfst hautnah mit dabei sein.

»Es waren schon immer viele Dinge schlecht auf der Welt. Wir wissen heute nur mehr darüber.«

MYP Magazine:
Endzeitstimmung also?

Robert Stadlober:
Es sind viele Dinge schlecht auf der Welt, mit Sicherheit. Aber es waren auch schon immer viele Dinge schlecht auf der Welt. Wir wissen heute nur mehr darüber. Und die große Gefahr ist, dass man sich in diesen Strudel der Negativität hineinziehen lässt. Das einzige Instrument dagegen ist aus meiner Sicht, gemeinsam ins Gespräch zu kommen, aus seiner Echokammer herauszutreten und mal in der U-Bahn nach links oder rechts zu gucken.

»Was ist eure Einladung an die Menschen? Die Einladung muss doch sein, dass wir das schönere Leben bauen.«

MYP Magazine:
Wie nimmst Du aktuelle politische Diskurse wahr?

Robert Stadlober:
Ich erlebe eine unglaubliche Verengung – und das nicht nur in rechter Politik, sondern auch in den vermeintlich progressiveren Lagern: Einmal das falsche Wort gesagt, sofort bist du draußen. Es wird permanent auf alle eingeschrieben. Es gab Wahlkampfplakate zur Europawahl, auf denen stand: „Gegen Hass, gegen Hetze“. Da frage ich mich: Das ist euer politisches Programm? Das sollte doch die Grundvoraussetzung sein! Aber wo wollt ihr denn hin? Was ist eure Einladung an die Menschen?
Die Einladung muss doch sein, dass wir das schönere Leben bauen. Und dass wir wollen, dass die Menschen da mitgehen. Unsere Party ist doch ganz klar die schönere, weil wir keinen Jägerzaun darum herumgezogen haben. Sondern weil es eine Welt ist, in der verschiedenste Meinungen und Hintergründe nebeneinander existieren können.

»Das System der Kultur im 21. Jahrhundert ist ein zutiefst ungerechtes.«

MYP Magazine:
Auf der einen Seite gibt es politische Propaganda und investigative Berichterstattung. Auf der anderen Seite gibt es den Kino- und Kulturbetrieb, der andere Regeln hat. Schaust Du nach dem Dreh dieses Films anders auf selbstverständliche Praktiken Deiner Branche?

Robert Stadlober:
Ich schaue schon immer anders auf selbstverständliche Praktiken in meiner Branche – und da gibt es wahnsinnig viel Hinterfragenswertes. Das System der Kultur im 21. Jahrhundert – und auch in den 20, 30 Jahren davor, die ich persönlich überblicken kann – ist ein zutiefst ungerechtes. Zum demokratischen Diskurs gehört immer dazu, die Sprecherposition in Frage zu stellen und zu beleuchten: Warum hast du jetzt gerade die Hoheit über mich?

»Geschichten kann man am besten erzählen, wenn man bei sich selbst anfängt.«

MYP Magazine:
Was ist mit dem Thema Schönfärberei? Wie stark muss man sich in Deiner Branche verstellen, um einen gewissen Marktwert zu erlangen?

Robert Stadlober:
Klar, auch ich kenne Leute, die vorne das eine erzählen und privat etwas ganz anderes leben. Das finde ich persönlich schwierig. Aber vielleicht bin ich auch einfach zu naiv in der Art und Weise, wie ich Kultur mache. Das kommt bei mir aus einem anderen Antrieb. Mir geht’s nicht um den Karrieregedanken, sondern tatsächlich darum, Geschichten zu erzählen. Und die kann man am besten erzählen, wenn man bei sich selbst anfängt – aber dafür muss man mit sich und seinem Publikum ehrlich sein.

»Dieses sich selbst darstellen – das ist ein ungemütlicher Teil der ganzen Geschichte.«

MYP Magazine:
Du hattest bereits als Teenager Deinen Kino-Durchbruch. Wie hat sich in den letzten Jahrzehnten Dein Verhältnis dazu, Dich selbst darstellen zu müssen, verändert?

Robert Stadlober:
Dieses sich selbst darstellen – das ist ein ungemütlicher Teil der ganzen Geschichte. Eigentlich geht es in meinem Beruf darum, andere darzustellen. Mich selbst stelle ich nur dar, um die Sachen zu verkaufen, in denen ich andere dargestellt habe. Mein Verhältnis dazu ist unverkrampfter geworden.
Ich hatte früher viel mehr Angst davor, was die Leute von mir denken. Aber wenn man lange genug etwas macht – oder vielleicht, wenn man lange genug gelebt hat – merkt man irgendwann, dass viele meistens eh nur irgendeinen Scheiß denken. (reimt)

Sie reden und reden,
über alle und über jeden,
die ganz besonders Blöden,
die reden über dich.

»Ich fand schon immer all jene faszinierender, die genau das gemacht haben, was man nicht erwartet hat.«

MYP Magazine:
Vom Leistungsgedanken bist Du also eher genervt?

Robert Stadlober:
Ja, ich habe darauf schon immer keinen Wert gelegt und fand all jene faszinierender, die genau das gemacht haben, was man nicht erwartet hat. Dabei ist es übrigens ein Irrtum, dass man immer irgendetwas Neues für sich oder andere erschaffen und entdecken muss.
In „Es gibt keinen Neuschnee“ erklärt Tucholsky: Egal, wie weit du nach oben kletterst, irgendjemand war schon vor dir auf dem Berg. Aber für dich ist es neu – und das reicht doch vollkommen! Er sagt: Klettere, steige, steige! Aber es gibt keine Spitze. Und es gibt keinen Neuschnee.
Das ist Berliner Buddhismus. Wenn die Leute das ein bisschen mehr verinnerlichen würden, würden sie sich auch nicht permanent gegenseitig auf die Nerven gehen. Lasst die Leute das machen, was sie gerne machen – und gebt ihnen den Raum, dass daraus etwas Gemeinsames entstehen kann, das viel schöner ist als die Sage von dem Einen, der es erreicht hat. Ich will, dass alle zusammen Schönes erleben.

MYP Magazine:
Man sollte über die Wanderungen reden, nicht über das Ziel?

Robert Stadlober:
Das ganze Leben ist so – weil das Ziel schlussendlich der Sarg ist.

MYP Magazine:
Hast Du diese Gelassenheit, weil Du bereits als Teenager das erreicht hattest, worauf andere viele Jahre warten?

Robert Stadlober:
Mit 20 habe ich mir ein ganz anderes Leben vorgestellt oder möglicherweise auch erträumt. Aber ich bin extrem froh und zufrieden mit dem Leben, jetzt mit 41. Ich möchte all das gar nicht haben, was ich mir mit 20 Jahren erträumt habe.

»Tucholsky hat mich reingewaschen von diesem Nazi-Wahnsinn.«

MYP Magazine:
„Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut“ – so heißt Dein neues Herzensprojekt, bei dem Du Gedichte von Kurt Tucholsky vertont hast. Was ist mit Deinen Gedankengängen passiert, als du diese beiden Männer, mit denen Du dich aktuell so viel beschäftigt hast, zusammen gedacht hast?

Robert Stadlober:
Tucholsky hat mich reingewaschen von diesem Nazi-Wahnsinn. Die Beschäftigung mit seinem Werk war eine direkte Folge aus dem Arbeiten an Goebbels. Tucholsky hat sich schon 1938 wegen dem umgebracht, was in Europa durch die Nazis passiert ist. Er hatte immer eine unglaubliche Liebe zu den Unterschieden im Menschsein und hat das auch total gefeiert. Das gibt mir eine enorme Kraft und auch den Mut zu wissen: Ich kann jetzt diese Platte machen und werde dafür nicht verhaftet und geschlagen. Und der Grund dafür ist, dass Goebbels nicht gewonnen hat. Er hat unvorstellbares Leid über Europa gebracht, aber schlussendlich haben wir gewonnen. Wir sind die Sieger. Wir können frei hier sitzen, vor dem „Diener Tattersall“, Bierchen trinken und Zeugs labern – das ist doch wirklich wunderbar.

»Führer und Verführer« (135 min., Regie: Joachim A. Lang) ab dem 11. Juli 2024 im Kino.


Wanda

Interview — Wanda

»Mit einer Verantwortung zu leben, ist deutlich besser«

Mit ihrem sechsten Studioalbum melden sich Wanda fulminant zurück: »Ende nie« ist eine Platte voller lyrischer und instrumentaler Goldstücke, auf der die österreichische Rockband ihre gesamte Lebens- und Musikerfahrung zusammenführt – und gleichzeitig zwei private Katastrophen verarbeitet. Ein Interview über reife Musik von reifen Menschen, das Nebeneinanderstehen von Euphorie und Trauer und eine komisch-wilde Phase im Leben von Marco Wanda, in der er Harry Styles sein wollte.

8. Juni 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

„Der nächste Song ist für alle, die jemanden verloren haben“, ruft Marco Wanda mit gefasster Stimme ins Mikrofon. Es ist der Abend des 7. Mai, zusammen mit seinen Bandkollegen Reinhold „Ray“ Weber am Bass und Manuel „Manu“ Poppe an der Gitarre hat er gerade zwei Stunden lang das Potsdamer Waschhaus zum Beben gebracht.

Marco hält einen Moment inne, dann fügt er hinzu: „Das betrifft ja wahrscheinlich alle hier. Denn so ungeküsst geht niemand durchs Leben.“ Wenige Sekunden später schlägt der 37-Jährige auf dem Klavier die ersten Töne zu „Bei niemand anders“ an.

Dieses Lied, das kann man nicht anders sagen, hat es in sich. Nicht nur, weil es einem bereits nach dem ersten Hören einen Ohrwurm einpflanzt, der absolut keine Anstalten macht, sein neues Zuhause wieder zu räumen. Sondern auch, weil „Bei niemand anders“ zu dem Gefühlvollsten, Ehrlichsten und Nahbarsten zählt, was die Wiener Rockband jemals in die Welt geworfen hat.

Dieser Song war es auch, mit dem Wanda im November 2023 ein erstes musikalisches Lebenszeichen sendete, nachdem die Band innerhalb kürzester Zeit von zwei Katastrophen überrollt wurde. Zuerst starb im September 2022 der Keyboarder und Wanda-Mitbegründer Christian Hummer. Und wenige Monate später verlor Marco auch noch seinen Vater. Hätte die Band an dem Punkt alles hingeschmissen, ganz ehrlich, man hätte es verstanden.

Doch es war Sebastian „Zebo“ Adam, der Wanda half, wieder zurück ins künstlerische Leben zu finden. Der Produzent, der als Gitarrist auch Teil der Live-Besetzung ist und an diesem Abend in Potsdam mit auf der Bühne steht, schuf für die Band einen sicheren Raum, in dem Marco, Ray und Manu über Monate und ganz behutsam an einem neuen Album arbeiten konnten.

„Ende nie“ heißt das gute Stück, gerade hat es das Licht der Welt erblickt. Es ist das mittlerweile sechste Studioalbum der Österreicher, die sich 2012 als fünfköpfige Combo gegründet hatten und nach Christians Tod und dem Ausscheiden von Drummer Lukas Hasitschka im Jahr 2020 nun „nur“ noch zu dritt sind. Eröffnet wird die neue Platte von „Bei niemand anders“, es folgen elf weitere kleine und große Goldstücke, mit denen man Wanda auch mal von einer anderen Seite kennenlernen darf, stilistisch wie inhaltlich. Ganz am Ende des Albums scheint sogar mal der Geist von Rio Reiser durch die Lautsprecher zu schweben. Aber dazu später mehr.

Am 28. März 2024, dem Tag der Veröffentlichung ihrer dritten Single-Auskopplung „Jeder kann es sein“, haben wir Marco, Ray und Manu in Berlin zu einem sehr persönlichen Interview und einem noch persönlicheren Fotoshooting getroffen.

»Solange ich das Video noch nicht gesehen habe, ist der Song für mich auch noch nicht auf der Welt.«

MYP Magazine:
Wir wünschen Euch einen happy release day, wie man in der Musikindustrie so schön sagt. Aber sind solche Tage nach 14 Jahren Wanda überhaupt noch etwas Besonderes für Euch?

Marco:
Klar! Mich berührt immer noch jeder einzelne Single-Release – vor allem, wenn er mit einem Musikvideo verbunden ist. An so einem release day schnappe ich mir abends ein Fläschchen Weißwein, setze die Kopfhörer auf und habe ein großes Privatvergnügen daran, dem neuen Song mit den Augen und Ohren eines Fremden zu begegnen. Erst in diesem Moment erschließt sich mir unsere Musik zur Gänze – und solange ich das Video noch nicht gesehen habe, ist der Song für mich auch noch nicht auf der Welt. Daher ist es für mich total spannend, den Moment der Geburt live mitzuerleben.

»Das Leben zu besitzen ist die größte Komödie, die ich mir vorstellen kann.«

MYP Magazine:
„Jeder kann es sein“ – die Single, die Ihr heute veröffentlicht habt – wirkt wie die logische Ergänzung zu „De Kinettn wo I schlof“. In dem über 50 Jahre alten Song erzählt Wolfgang Ambros, wie es sich aus der Perspektive eines Obdachlosen anfühlt, für die Gesellschaft mehr oder weniger unsichtbar zu sein. Aus welchem Bedürfnis heraus habt Ihr „Jeder kann es sein“ geschrieben? Wolltet Ihr allen, die auf der Gewinnerseite des Lebens stehen, klar machen: Es hätte auch anders kommen können?

Marco:
„Jeder kann es sein“ ist das einzige Stück auf der Platte, bei dem ich selbst nicht wirklich weiß, worum es geht. Mich hat schlicht und einfach dieses Thema interessiert: die Einteilung von Menschen in Gewinner und Verlierer. Die Gewinner sind für mich gleichbedeutend mit denen, die leben. Und die Verlierer stehen für die, die sterben. Das Leben zu verlieren ist die größte Tragödie, die ich mir vorstellen kann. Und das Leben zu besitzen ist die größte Komödie, die ich mir vorstellen kann.
Aber eigentlich will ich den Text gar nicht so sezieren. Es handelt sich dabei immer noch um Lyrik – und die kann niemals eindeutig sein. Selbst wenn ich eine Zeile wie „der Himmel ist blau“ in einen Song hinein schreiben würde, gäbe es da immer noch ein riesiges Spektrum an Bedeutungen.

»Wir haben beim Arrangement der Musik darauf geachtet, dass nichts bremst.«

MYP Magazine:
Im Musikvideo zu dem Song sehen wir Euch im Smoking auf einer tropischen Insel. Habt Ihr euch von „Triangle of Sadness“ inspirieren lassen, jener erfolgreichen Kinokomödie aus dem Jahr 2022, in der das dekadente Leben der Luxus-Gesellschaft persifliert wird?

Marco:
Wir waren in der Bildsprache vor allem von „Saltburn“ beeinflusst. Die Regenschirme zum Beispiel sind eine eindeutige Hommage an diesen großartigen Film.

MYP Magazine:
Der inhaltlichen Tiefe von „Jeder kann es sein“ steht ein eher leichtfüßiger, tanzbarer und sehr eingängiger Sound gegenüber – eine Gegensätzlichkeit, die sich wie ein roter Faden auch durch die anderen Songs des neuen Albums zieht.

Manu:
Stimmt. Wir haben beim Arrangement der Musik darauf geachtet, dass nichts bremst – von der Bass Drum bis zu den Gitarren. Alles sollte ständig im Fluss sein und sich richtig schön locker-flockig anfühlen.

»Emotionen wie Euphorie und Trauer können in ihrem Extrem auch nebeneinanderstehen, und zwar permanent.«

MYP Magazine:
Dennoch ist bei allen zwölf Tracks auch eine gewisse emotionale Dringlichkeit zu spüren. Man muss immer wieder an die Katastrophen denken, die Euch in der jüngeren Zeit widerfahren sind. Aber bei all der Tragik will man sich auch permanent zu den eingängigen Hooks und Gitarrenklängen bewegen. War die Dualität aus ernsten Texten und energetischer Musik für Euch ein Weg, den Tod von Christian und Marcos Vater zu verarbeiten?

Marco:
Es gibt einen Satz von Leonard Cohen, der mich immer sehr beschäftigt hat: „There’s a crack in everything, that‘s how the light gets in.“ Das bringt es auf den Punkt. Ich glaube, man kann das Leben auf zwei verschiedene Arten leben: Man kann entweder in einer negativen Gefühlslage verharren wollen und dann in eine positive wechseln – und meistens sind beide sehr extrem. Oder man kann anerkennen, dass Emotionen wie Euphorie und Trauer in ihrem Extrem auch nebeneinanderstehen können, und zwar permanent.
Das ist übrigens etwas, das vor allem in der Wiener Kunst immer wieder zu beobachten ist. Bereits Gustav Klimt hatte in seinen Bildern den Tod in schillerndsten Farben dargestellt. Diese Ambivalenz ist zutiefst wienerisch und ich frage mich manchmal, ob so etwas in Deutschland überhaupt möglich wäre. Ich hatte mal ein Gespräch mit Sido, der mir sagte: „Hier in Deutschland musst du entweder total traurig oder total komisch sein. Irgendwo dazwischen geht nicht.“ Das ist hochinteressant, denn bei uns in Wien kann man nur Erfolg haben, wenn man genau die Mitte trifft – und nicht, wenn man nur eines von beiden Extremen bedient. Wir kommen da also aus einer gewissen Tradition.

»Ich habe schon sehr jung angefangen, mit der Musik zu weinen.«

MYP Magazine:
Nicht wenige Menschen machen die Beobachtung, dass sie mit zunehmendem Alter von Musik tiefer berührt werden und leichter mal ein Tränchen vergießen. Geht Euch das ähnlich?

Ray:
Ich habe schon sehr jung angefangen, mit der Musik zu weinen, und es gibt einige Lieder, die mich heute immer noch so berühren wie in meiner Kindheit und Jugend. Songs von Queen oder The Police zum Beispiel, die habe ich damals wirklich sehr, sehr viel gehört. Vor allem bei Queen war es so, dass ich manchmal stundenlang im Auto meiner Eltern saß und dabei drei Alben durchgehört habe, wenn wir irgendwo unterwegs waren. Ich habe zwar damals die Texte noch nicht verstanden, aber ich habe immer und immer wieder weinen müssen, wenn ich gehört habe, was Freddie Mercury da einfach so rausgehauen hat. Das ist eine Kindheitserinnerung, die mir immer noch sehr präsent ist.

Manu:
Mir geht’s da ganz ähnlich. Ich bin schon lange Fan von The Breeders und ich weiß noch gut, wie mir aus purer Freude das Wasser in die Augen geschossen ist, als ich die Band vor ein paar Jahren mal bei einem Konzert in Wien gesehen habe.

Marco: (nickt)
Für mich war das Musikhören schon in meiner Kindheit der Ort, an dem ich große Gefühle erleben konnte. Mal habe ich aus Freude geweint, mal aus Trauer, mal aus Ergriffenheit. Grundsätzlich aber hat Musik schon immer etwas in mir berührt.

»Das, was ich in letzten anderthalb Jahren erlebt habe, war auch für mich eine vollkommen neue Dimension.«

MYP Magazine:
Als Christian und kurz darauf Marcos Papa gestorben sind, wart Ihr Anfang, Mitte 30. In diesem Alter ist das Thema Tod für viele Menschen noch ganz weit weg. War die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens für Euch ebenso ein Debüt?

Marco:
Ich war damit leider schon häufiger konfrontiert – in meinem Leben sind bereits etliche Menschen gestorben. Aber das, was ich in letzten anderthalb Jahren erlebt habe, war auch für mich eine vollkommen neue Dimension. Wenn erst ein enger Freund und kurz darauf ein Elternteil geht, ist das absolut lebensverändernd. Wer so etwas noch nicht erlebt hat, steht da einfach sehr, sehr unwissend davor. Und ich glaube, diese Unwissenheit erzeugt eine gewisse Angst, da man plötzlich gezwungen ist, sich mit Tod und Vergänglichkeit zu beschäftigen. Ich persönlich würde auch empfehlen, sich mit dem Thema erst auseinanderzusetzen, wenn es wirklich so weit ist. Ansonsten würde man viel zu viel Energie und Zeit verschwenden, die man eigentlich noch als Geschenk hat – als Guthaben auf dem Konto des Lebens.

»Die Leute um uns herum hätten auch Verständnis dafür gehabt, wenn wir gesagt hätten: Wir lassen das jetzt ganz.«

MYP Magazine:
Wie haben Euer berufliches Umfeld und die Branche auf die Situation reagiert? Hattet Ihr Sorge, dass Ihr als Band in Zukunft auf das Thema Tod reduziert werdet?

Marco:
Wir haben um uns herum ein Team an fantastischen Menschen, die von Anfang an sehr unterstützend waren. Und ich erinnere mich: Nachdem wir am 30. September 2022 unsere letzte Platte veröffentlicht hatten, also wenige Tage nach Christians Tod, haben wir eine Woche lang absolut gar nichts gemacht. Erst dann ging es peu à peu weiter – ganz langsam wieder in Richtung Normalität. Dabei hätten die Leute um uns herum auch Verständnis dafür gehabt, wenn wir gesagt hätten: Wir lassen das jetzt ganz und sagen alles ab.
Wir haben das große Glück, dass unser berufliches Umfeld empathisch genug ist zu verstehen, dass man nicht alles von Menschen verlangen kann. Aber letztendlich waren wir es, die die Entscheidung getroffen haben, als Band weiterzumachen. Wir haben die Entscheidung getroffen, ein Album aufzunehmen. Wir haben die Entscheidung getroffen, innerhalb gewisser Grenzen darüber öffentlich zu reden.

»So etwas schauen Menschen in der Regel, um sich die Birne wegzuknallen. Und das ist auch völlig okay.«

MYP Magazine:
Ende 2023 seid Ihr bei der ARD-Show „Your Songs“ aufgetreten. Nachdem Ihr auf der Bühne den Song „Bei niemand anders“ gespielt habt, wurde Marco auf der Gästecouch von Moderatorin Jeannette Biedermann gefragt, wie man so ein exzessives Rockstar-Leben überstehen könne…

Marco: (lacht)
… es ist ja noch nicht überstanden!

MYP Magazine:
Auch Jeannette Biedermann lachte laut und bemerkte etwas flapsig: „Ihr habt’s überlebt!“ Das war ein sehr unangenehmer Moment, denn tatsächlich haben nicht alle von Euch überlebt. Wie ging es Dir in dieser Situation, Marco?

Marco:
In dieser Produktion wusste ich sofort, dass alle mit dem Thema überfordert sind – auf der menschlichen Ebene, nicht auf der professionellen. Mein Briefing für die Show war: Wir reden über Christian. Damit war eigentlich klar, dass sein Tod ein Thema sein wird. Aber ich habe dann sehr schnell gemerkt, dass niemand sich getraut hat, darüber zu reden. Gleichzeitig hatte ich selbst nicht das Bedürfnis, das Ganze von mir aus anzustoßen. Und so wurde in der Show über Christian einfach nicht gesprochen – wahrscheinlich auch zum Glück. Denn am Ende ist „Your Songs“ ja eine leichte Unterhaltungsshow. So etwas schauen Menschen in der Regel, um sich die Birne wegzuknallen. Und das ist auch völlig okay.

MYP Magazine:
Aber geht man dann nicht von der Bühne und denkt sich, was war das denn?

Marco: (lächelt)
Das denk‘ ich mir immer!

»Älter werden heißt ja auch, dass man lebt.«

MYP Magazine:
Marco, Du hast in einem Spiegel-Interview, das im Rahmen dieser ARD-Show entstanden ist, von einem Traum erzählt, den Du vor einer Weile hattest: Du hast dich im Wohnzimmer Deiner Eltern befunden und warst eine Playmobilfigur, die aus ihrer Perspektive auf die Welt blickte und das wunderschön fand. Du hast die Tür eines kleinen Playmobil-Schuppens geöffnet, in dem Dein Papa saß. Er hat sich gefreut, Dich zu sehen – dann bist Du aufgewacht. Diesen Moment hast Du als „Ende der Kindheit“ bezeichnet. Kannst Du, könnt Ihr bei aller Tragik diesem Ende der Kindheit etwas Positives oder zumindest Hoffnungsvolles abgewinnen?

Marco:
Wenn ein Elternteil stirbt, dann ist man kein Kind mehr – weil man kein Kind mehr von jemandem ist. So hätte ich es damals erklären sollen.

Manu:
Ich bin froh, dass ich schon älter bin und immer älter werde. Älter werden heißt ja auch, dass man lebt.

MYP Magazine:
Seid Ihr durch die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre auch angstfreier geworden?

Marco:
Ich glaube schon. Ich wüsste jetzt nicht, was da noch viel Schlimmeres kommen sollte.

»Es hat fast ein Jahr gedauert, diese Platte zu machen – für knapp 40 Minuten und ein Zehn-Euro-Abo auf Spotify.«

MYP Magazine:
Hat sich die Art und Weise, wie Ihr Musik macht, infolge der beiden Todesfälle verändert?

Marco:
Ja, und zwar fundamental – allein schon, weil wir nur noch zu dritt sind. Das ist ein völlig anderes Szenario. Daher fühlt sich die neue Platte auch wie ein Debütalbum an. Dazu kommt, dass zum ersten Mal jemand aus der Band ein Album mitproduziert beziehungsweise vorproduziert hat. Bereits vor anderthalb Jahren hatte ich Manu relativ viel Demo-Material geschickt, das er dann fast schon zu Ende arrangiert und wieder zurückgeschickt hat. Und auf dieser Grundlage sind wir überhaupt erst ins Studio gegangen. Das heißt, die neuen Songs hatten schon einen wichtigen Produktionsschritt durchlaufen, bevor sie aufgenommen wurden.
Das war für uns völlig neu. All die Jahre davor waren wir im Studio eigentlich wie die frühen Beatles. Soll heißen: ein Tag, ein Song, fertig. Alles lebte von dieser Energie, von dem Momentum, vom Rock’n’Roll, es durfte immer nur ein Take gespielt werden. Und diesmal war es so: Scheißegal, dann spielen wir halt hundert Mal das Gleiche – so lange, bis es passt. Wir haben uns also viel mehr Zeit genommen. Am Ende hat es fast ein Jahr gedauert, diese Platte zu machen – für knapp 40 Minuten und ein Zehn-Euro-Abo auf Spotify.

»Kurz bevor wir ins Studio gegangen sind, hing ich in einer sehr komischen und wilden Harry-Styles-Phase fest.«

MYP Magazine:
Dabei habt Ihr euch auch die Freiheit genommen, ein paar neue musikalische Pfade einzuschlagen. Der Song „Woher soll ich wissen“ zum Beispiel klingt wesentlich poppiger, als man von Euch gewohnt ist. Und „Niemand was schuldig“ fühlt sich an wie eine kleine Verneigung von Rio Reiser.

Marco:
Dadurch, dass das Album eine Art Debüt ist, hat sich zwangsläufig auch die Musik verändert. Ich fand es sehr reizvoll, die Chance zu nutzen und mal etwas ganz was anderes zuzulassen. Wir haben über all die Jahre mehr oder weniger innerhalb eines gewissen Baukastens operiert. Wenn man so genial wie die Beatles ist, schafft man es vielleicht, so einen Baukasten mit zwei, drei Tricks über fünf, sechs Alben zu Tode zu reiten. Aber spätesten dann muss sich konsequenterweise irgendwo ein Fenster öffnen.
Übrigens: An diesem Pop-Appeal, der unserer neuen Platte wesentlich stärker anhaftet als den vorherigen, bin ich nicht ganz unschuldig. Kurz bevor wir ins Studio gegangen sind, hing ich in einer sehr komischen und wilden Harry-Styles-Phase fest. Ich war regelrecht besessen von ihm und wollte sogar kurz mal er sein. Seine Musik hat irgendwie auf mich abgefärbt und ich habe ein bisschen was Unreines mit in die Probe gebracht. (lächelt)

MYP Magazine:
Nichts gegen Harry Styles! Immerhin hat er es geschafft, sich aus dem engen Korsett einer Boyband zu befreien.

Marco:
Im übertragenen Sinn haben wir das auch: Wir sind aus einer Boyband ausgebrochen und haben dann ein Album aufgenommen.

»In Deutschland hieß es immer, das sei der Wiener Schmäh. Dabei haben wir den gar nicht.«

MYP Magazine:
Boyband klingt sehr harmlos. Wenn man ein wenig zu Wanda recherchiert, stößt man immer wieder auf den Begriff Gang. Ist das eine Eigenbezeichnung? Oder wurde Euch das Wort unfreiwillig angedichtet?

Marco:
Der Begriff kommt unserem Lebensgefühl schon sehr nah, vor allem in den Anfangstagen der Band. Schon lange bevor wir berühmt wurden, waren wir immer sehr offen und haben gerne, wie soll ich sagen, den Gastgeber im Underground gespielt. Trotzdem waren wir fünf immer total hermetisch, allein durch den kryptischen und nach außen hin fast wirkungslosen Schmäh, den wir uns gemeinsam angeeignet haben. In Deutschland hieß es immer, das sei der Wiener Schmäh. Dabei haben wir den gar nicht, ganz im Gegenteil. Wir haben einen sehr spezifischen Cliquen-Schmäh, den auch in Wien keiner versteht.

»Das ist einfach so fucking German! Die Deutschen suchen immer irgendwo eine Message.«

MYP Magazine:
Da Ihr eben das Zehn-Euro-Abo auf Spotify angesprochen habt: Einer Eurer neuen Songs trägt den Titel „F*** Youtube“. Habt Ihr ein kritisches Verhältnis zu großen Streaming-Plattformen?

Marco: (lacht)
Überhaupt nicht! Das ist auch wieder so interessant… wie soll ich das jetzt sagen, ohne despektierlich zu sein?

MYP Magazine:
Bitte sei despektierlich!

Marco:
Okay, dann sage ich es: Das ist mal wieder so deutsch! Das ist einfach so fucking German! Die Deutschen suchen immer irgendwo eine Message. Aber der Songtitel ist keine Message, sondern einfach nur ein Teil einer Geschichte. In dem Lied geht es um jemanden, der einen bestimmten Song nicht hören kann, weil er ihn an eine schlimme Zeit erinnert. Und da dieser Song zufälligerweise auf Youtube läuft, fängt er an zu fluchen: Fuck Youtube! Ich dreh‘ das jetzt ab und spiele eine CD.

MYP Magazine:
Sorry.

Marco: (lächelt)
Es stimmt ja auch: Mit unserem Streaming-Konsum lassen wir alle uns einfach nie auf eine Sache ein. Wir haben verlernt, uns zu hyperfokussieren. Aber auch das ist keine Message, sondern einfach nur eine Tatsache. Und letztendlich ist der Song sogar eine Hommage an Youtube. Wir lieben diese Plattform, sonst würden wir dafür kaum so teure Clips produzieren. Was wir in den letzten zehn Jahren allein für die Produktion und Vermarktung von Musikvideos ausgegeben haben, kratzt mittlerweile an der Million. Das hätten wir nicht getan, wenn wir Youtube hassen würden.

»Wir machen reife Musik. Reife Musik von reifen Menschen.«

MYP Magazine:
Es gibt in Berlin einen Radiosender, der sich den Slogan „nur für Erwachsene“ gegeben hat. Da Ihr auf Eurem neuen Album etliche Themen behandelt, mit denen man sich eher mit Mitte 30 als mit 13 auseinandersetzt: Würdet Ihr sagen, dass Ihr heute schwerpunktmäßig eine Band nur für Erwachsene seid?

Ray:
Darüber haben wir erst vor Kurzem im Studio gesprochen. Wir haben festgestellt, dass wir über die letzten Jahre sehr erwachsen und reif geworden sind und mehr reife Musik machen. Der Slogan des Radiosenders würde daher auch ganz gut zu unser Band passen…

Marco:
… aber wir haben ja schon einen: „Wir machen reife Musik. Reife Musik von reifen Menschen.“ Den hat unser Produzent Zebo Adam bei der Albumaufnahme installiert.

»Für mich ist Therapie wie Staubsaugen. Ich räume ein bisschen auf und kann dann besser atmen.«

MYP Magazine:
Ein Zeichen menschlicher Reife ist es auch, offen über das Thema Therapie zu sprechen – dem habt Ihr sogar einen eigenen Song gewidmet. In dem eben erwähnten Spiegel-Artikel hast Du, Marco, die Psychotherapie als „die größte geisteswissenschaftliche Errungenschaft des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Wie nehmt Ihr die Debatte darüber in der österreichischen Gesellschaft wahr?

Manu:
Das ist eine Generationsfrage. Je jünger die Menschen sind, desto weniger Tabus und Stigmata sind mit dem Thema verknüpft. Gleichzeitig ist Therapie für viele immer noch etwas, das man machen muss, wenn man krank ist oder irgendwie kaputt. Für mich persönlich ist das eher wie Staubsaugen. Ich räume ein bisschen auf und kann dann besser atmen.

Marco:
Dabei erlebt das Thema Therapie in seinem Etablierungsmomentum aber auch eine grenzenlose Übersteigerung – was meiner Meinung nach verdammt wichtig ist. Wir alle wissen, dass etliche gesellschaftliche Themen und Strömungen gibt, die auch mal übersteigert auftreten müssen, damit sie am Ende bei zwei Prozent der Leute ankommen.
Dennoch ist Therapie natürlich nicht die Lösung, Therapie allein reicht nicht. Sie ist nur ein Tool von vielen, um als Mensch zu wachsen oder eine Krise zu bewältigen. Lustigerweise gibt es Gesellschaften, die so etwas wie Therapie gar nicht kennen. Auf den Seychellen zum Beispiel, wo wir unser Video zu „Jeder kann es sein“ gedreht haben. Ich habe mich dort mit sehr vielen Menschen unterhalten und es scheint tatsächlich so zu sein, dass es auf den Seychellen keinen einzigen Therapeuten gibt. Das ist eine Gesellschaft vollkommen ohne Therapie. Irgendwie faszinierend.

Ray:
Das habe ich auch gehört. Die Therapie der Menschen dort besteht einfach darin, am Strand zu sein, das Meeresrauschen zu hören und in die Ferne zu schauen. Und das scheint zu wirken. Die Leute, mit denen wir dort in Kontakt gekommen sind, wirkten wirklich sehr aufgeräumt.

»Vor der Band hatte ich keine Verantwortung – und damit habe ich sehr schlecht gelebt.«

MYP Magazine:
Auch Eure Musik hat für viele eine gewisse therapeutische Wirkung. Nach zwölf Jahren Wanda sind Eure Songs bei unzähligen Menschen mit ganz besonderen Momenten, Situationen und Erinnerungen verknüpft. Erwächst daraus eine gewisse Verantwortung?

Marco:
Seit es uns gibt, hören wir immer wieder sehr persönliche Sätze wie: „Hey, eure Musik hat mir wirklich geholfen in einer schweren, existenziellen Krise.“ Dementsprechend haben wir diese Verantwortung schon sehr früh gespürt – allerdings nicht auf der Bühne, wo alles immer sehr ekstatisch ist. Sondern eher hinter den Kulissen, wenn wir unseren Fans persönlich begegnen.

MYP Magazine:
Wie geht Ihr mit dieser Verantwortung um? Kann einen das nicht schnell mal überfordern, vor allem, wenn man selbst gerade in einer existenziellen Krise steckt?

Marco:
Ich bin für diese Verantwortung zu einem gewissen Grad dankbar, weil sie meinem Leben auch eine höhere Sinnhaftigkeit verleiht. Vor der Band hatte ich keine Verantwortung – und damit habe ich sehr schlecht gelebt. Mit einer Verantwortung zu leben, ist deutlich besser.

»Das neue Album allein macht uns nicht aus.«

MYP Magazine:
Zu Beginn unseres Gesprächs habt Ihr erklärt, dass Ihr „Ende nie“ als Debütalbum begreift. Wie blickt Ihr auf die vielen „alten“ Songs, mit denen Ihr bekannt und berühmt geworden seid? Entwickelt man nicht automatisch eine Distanz zu dem, was mal vor zehn, zwölf Jahren war?

Ray:
Das sind ja trotzdem immer noch wir! Klar, das neue Album ist eine große musikalische Weiterentwicklung. Aber das allein macht uns nicht aus. Sondern die Summe dessen, was wir in all der Zeit zusammen geschaffen haben.

Manu:
Ich freue mich auch jetzt schon auf den ersten Anschlag von „Bologna“, wenn wir wieder auf Tour gehen. Das spielt sich einfach nicht tot.


Angus & Julia Stone

Interview — Angus & Julia Stone

»Das Leben verändert sich permanent, darin liegt eine gewisse Melancholie«

Mit ihrem sechsten Studioalbum »Cape Forestier« haben Angus & Julia Stone gerade eine Platte veröffentlicht, die alles andere ist als business as usual: ein wundervoll empathisches, anschmiegsames und tiefgreifendes Stück Musik, mit dem die beiden Geschwister auf ihre gemeinsame künstlerische Reise zurückblicken. Im Interview sprechen sie mit uns über seltene Momente des Innehaltens, einen alten tasmanischen Fischkutter als Inspirationsquelle und die Frage, warum Hochzeiten immer auch etwas Melancholisches haben.

12. Mai 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

„Angus & Julia Stone, omg. 2010-2012 rauf und runter gehört, so viel Rotwein und Kippen auf der Fensterbank und Tränen, haha“, reagiert ein Leser vor ein paar Wochen auf unsere Instagram-Story, als wir ein Video von unserem Treffen mit dem berühmten australischen Geschwister-Duo posten. Und mit dieser Erinnerung ist er wahrscheinlich nicht alleine.

Seit fast zwei Jahrzehnten streicheln die heute 40-jährige Julia und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Angus mit ihren einfühlsamen Folk- und Indie-Pop-Songs die musikalische Seele der ganzen Welt. Aufgewachsen in Newport, einer beschaulichen Küstenstadt im Norden Sydneys, haben die beiden im Laufe ihres Lebens nicht nur unzählige Clubs, Hallen und Stadien auf der Nord- und Südhalbkugel bespielt, sondern auch Streaming-Zahlen im dreistelligen Millionenbereich erzielt.

Natürlich ist Quantität noch kein Beweis für Qualität. Doch solche Zahlen machen sichtbar, wie viele Menschen das Bedürfnis nach einer Musik zu haben scheinen, die sich um sie legt wie eine warme Decke, ohne dabei einen auf heile Welt zu machen. Ganz im Gegenteil: Unter jedem einzelnen Song von Angus & Julia Stone liegt immer auch eine gewisse Melancholie, mit der sie einem das Gefühl geben, emotional verstanden zu sein, ohne dass das irgendwo konkret artikulieren werden müsste.

Das ist bei den zwölf Stücken von „Cape Forestier“ nicht anders. Das sechste Studioalbum der Geschwister, das am 10. Mai erschienen ist, strahlt erneut jene musikalische Empathie und Vertrautheit aus, die wir von den beiden spätestens seit ihrer wunderbaren Platte „Angus & Julia Stone“ aus dem Jahr 2014 gewohnt sind.

Doch „Cape Forestier“ ist alles andere als business as usual. Das neue Album wirkt – etwa bei Stücken wie „Losing You“ oder „Wedding Song“ – spürbar nachdenklicher, tiefer und emotional verbindlicher als frühere Werke. Gleichzeitig strahlt „Cape Forestier“ eine unverrückbare Zuversicht und Gelassenheit aus, die sagt: Hier ist jemand ganz bei sich.

Stellvertretend hierfür ist der gleichnamige Song, zu dem die Geschwister Stone Anfang März ein ganz besonderes Video veröffentlicht haben. Mit einer Zusammenstellung aus etlichen privaten Filmaufnahmen blicken die beiden auf ihre gemeinsame musikalische Reise zurück – ein kurzes Verschnaufen und Innehalten, das große Lust macht auf das, was da in den nächsten zwei, drei oder vier Jahrzehnten noch so kommen mag.

»Wer so ein Leben führt, nimmt sich eher selten die Zeit, kurz Luft zu holen und zurückzublicken.«

MYP Magazine:
In dem Video zu Eurem neuen Song »Cape Forestier« blickt Ihr mit unzähligen kleinen Clips auf die vielen Jahre Eurer gemeinsamen Karriere zurück. Welche Gefühle hat es in Euch ausgelöst, als Ihr diese alten Aufnahmen gesichtet und zusammengestellt habt?

Angus:
Darüber haben Julia und ich erst gestern gesprochen. Für uns ist dieses Video – mit all seinen kleinen Erinnerungen – eine ganz persönliche Hommage an eine wirklich gute Zeit, die wir zusammen hatten und immer noch haben. Auch wenn es bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen, ein langer und oft auch schwieriger Weg war: Alles in allem war und ist es doch eine wirklich wundervolle Reise.

Julia: (nickt)
Solche Momente des Innehaltens sind für uns etwas ganz Besonderes, denn wir stehen eigentlich permanent unter Strom – nicht nur, weil wir sehr viel unterwegs sind und überall auf der Welt Shows spielen. Sondern auch, weil wir dabei gleichzeitig den Drang haben, immer neue Musik zu schaffen. Wer so ein Leben führt, nimmt sich eher selten die Zeit, kurz Luft zu holen, zurückzublicken und sich darüber auszutauschen, was man gemeinsam erreicht und erlebt hat. Dementsprechend hat uns die Arbeit an diesem Video auch erst mal emotional überwältigt, weil in der Unmenge an Footage, die wir gesichtet haben, so viele schöne Erinnerungen konserviert sind.
Wie Angus schon gesagt hat: Diese Reise war nicht immer leicht für uns, es gab viele herausfordernde Momente und Situationen. Aber ich bin echt stolz darauf, dass wir das alles bewältigt haben und als Geschwister, Musiker und Freunde daran gewachsen sind. Die Zeit hat uns beide stärker und resilienter gemacht – und ich finde, das wird in dem Video sehr deutlich.

MYP Magazine:
Haben diese alten Clips auch nostalgische oder sogar melancholische Gefühle in Euch ausgelöst?

Julia: (lacht)
Klar, total – ganz so wie unsere Musik.

»Manchmal schreibe ich einen Song und verstehe erst viele Jahre später, was ich damit emotional ausdrücken wollte.«

MYP Magazine:
Angus, in den ersten Sekunden des Videos hören wir Dich sagen: »Als wir angefangen haben, gemeinsam Musik zu machen, hatten wir keinen Plan oder eine Karte, die uns gezeigt hätte, in welche Richtung wir laufen müssen. Ich glaube, die Musik war schon immer das Einzige, mit der man es schafft, durch all das zu navigieren.« Und dann fügst Du hinzu, dass es etwas Magisches habe, wenn man durch die Musik erforsche, was man zu sagen habe. Was genau macht diesen Prozess für Dich so magisch?

Angus:
Für mich persönlich ist das Besondere am Songwriting, dass es meinem Unterbewusstsein erlaubt, Dinge zu erzählen oder Gefühle zu äußern, über die ich sonst nicht bewusst nachdenken würde. Manchmal schreibe ich einen Song und verstehe erst viele Jahre später, was ich damit emotional ausdrücken wollte. Ich finde, das gibt dem Musikmachen eine ganz besondere Schönheit – zumindest dann, wenn man dadurch in der Lage ist, Teile seiner eigenen Gefühlswelt freizulegen, die sonst verborgen blieben.

»Für uns hat es sich über all die Jahre immer wieder bestätigt, dass es das Richtige ist, unserem Instinkt zu folgen.«

MYP Magazine:
In Deutschland gibt es ein Sprichwort: keine Zukunft ohne Herkunft. Erinnert Ihr euch an bestimmte Momente in Eurer Vergangenheit, bei denen Ihr sofort wusstet, dass sie Euren gemeinsamen Weg entscheidend beeinflussen würden?

Julia:
Hmm… ich kann mich nicht erinnern, dass es in unserer Karriere solche Schlüsselmomente gab. Vielleicht habe ich sie auch einfach nicht erkannt. Natürlich erlebe auch ich in meinem Leben immer wieder Momente, die sich ganz besonders und außergewöhnlich anfühlen. Aber ich hatte bisher nie den Eindruck, dass eine bestimmte Situation zu einer völlig anderen Entwicklung geführt hätte; oder dass eine bestimmte Handlung die Saat für das Geschehen in einer weit entfernten Zukunft gelegt hätte.
Ich würde die Frage daher gerne anders beantworten: Für Angus und mich hat es sich über all die Jahre immer wieder bestätigt, dass es das Richtige ist, unserem Instinkt zu folgen und uns auf unser Bauchgefühl zu verlassen. Waren wir in jungen Jahren vielleicht noch etwas unsicherer in unseren Entscheidungen, wissen wir heute, dass wir unserer Intuition voll und ganz vertrauen können. Diese Intuition ist es, die uns an all die wunderbaren Orte geführt hat. Und jede einzelne unserer Entscheidungen, egal ob gut oder schlecht, hat uns am Ende an einen Punkt gebracht, an dem wir wie heute mit Euch über unsere Musik sprechen dürfen.

»Wir fanden, dass dieses abenteuerliche Dasein eine schöne Metapher für unser eigenes Leben ist.«

MYP Magazine:
Wie ich mit Hilfe von Google Maps herausgefunden habe, ist Cape Forestier ein kleines Kap im äußersten Osten von Tasmanien. Was ist das Geheimnis dieses Ortes?

Angus: (lächelt)
Das ist schwer zu erklären. Cape Forestier strahlt einfach eine ganz besondere Energie aus…

Julia:
… es ist aber auch der Name eines Bootes, genauer gesagt eines kleinen Fischkutters – ihm und seinem Kapitän haben wir unseren Song gewidmet. Seit vielen Jahren sind die beiden Tag für Tag auf den antarktischen Gewässern südöstlich von Tasmanien unterwegs, ganz egal, wie gut oder schlecht das Wetter ist und wie hoch sich die Wellen über ihnen auftürmen. Wir fanden, dass dieses abenteuerliche Dasein eine schöne Metapher für unser eigenes Leben ist: konstant auf der Reise zu sein, ohne jemals zu wissen, ob ein heftiger Sturm aufkommt oder man eher in ruhigen Gewässern segelt.

MYP Magazine:
Weiß der tasmanische Fischer, dass Ihr ihm einen Song gewidmet habt?

Julia:
Ja, er hat sich darüber sehr gefreut, auch weil der alte Fischkutter seit Jahrzehnten in Familienbesitz ist.

»Das, was man als Kind hört, beeinflusst, wie man sich als Erwachsener in der Welt bewegt.«

MYP Magazine:
Apropos Familie: Im Pressetext zum Song »Losing You« heißt es, dass Euch die Emotionalität des Liedes an die Musik erinnert, die in Eurer Kindheit immer im Auto Eurer Eltern lief. Glaubt Ihr, dass die musikalischen Begegnungen, die wir als Kinder machen, letztendlich auch unsere Persönlichkeiten im Erwachsenenalter definieren?

Angus:
Unser Vater war ein sehr gefragter Hochzeitssänger und hat uns Kinder oft zu seinen Auftritten mitgenommen. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, habe ich immer wieder das Bild vor Augen, wie wir an festlich gedeckten Tischen saßen und irgendwann einschliefen – umgeben von einer sanften Geräuschkulisse aus klirrenden Sektgläsern, netten Gesprächen und unzähligen Coversongs, die unser Vater auf der Bühne performte. Sein Repertoire reichte von den Beatles über die Beach Boys, Neil Young, Joni Mitchell bis zu Janis Choplin. All das hat sich wie eine wärmende Decke über uns schlafende Kinder gelegt – und ich glaube, dass das Gemisch aus unterschiedlichsten musikalischen Stilen und der künstlerischen Qualität dieser vielen Songs mit der Zeit ein Teil unserer eigenen DNA wurde. Wenn man klein ist, saugt man alles um sich herum auf wie ein Schwamm, vor allem Musik. Ich bin fest davon überzeugt, dass das, was man als Kind hört, beeinflusst, wie man sich als Erwachsener in der Welt bewegt.

Julia: (lächelt)
Das heißt aber auch: Wenn unsere Eltern auf Heavy Metal gestanden hätten, wären wir beide heute wahrscheinlich Heavy-Metal-Künstler.
Aber im Ernst: Folkmusik ist einfach perfekt geeignet, um Geschichten zu erzählen. Dieses Genre hat uns in besonderer Weise geprägt. Unsere Eltern legten damals ständig Musik von Fleetwood Mac, Stevie Nicks oder Bob Dylan auf. Und auch wenn das natürlich mystische und unerreichbare Ikonen waren, hatte ich immer das Gefühl, dass diese Menschen fest zu unserer Familie gehörten – einfach, weil wir fast täglich zu Hause von ihren Stimmen umgeben waren. Daher hat es sich auch extrem verrückt angefühlt, als wir vor ein paar Jahren mit Fleetwood Mac auf Tour gegangen sind und die Band tatsächlich mal persönlich kennengelernt haben.

»Wenn man sich seinen Ängsten nicht stellt, wird man mit ihnen nie richtig umgehen können.«

MYP Magazine:
»Losing You«, so beschreibt Ihr es im Pressetext, handelt »vom Tanz zwischen Entdeckung und Verlust, vom Wesen der Liebesreise, von Momenten des Findens und Verlierens«. Ändern wir mal kurz die Perspektive: Welchen Vorteil könnte es haben, sich selbst von Zeit zu Zeit zu verlieren?

Angus:
Ich sage es in der Bildsprache von eben: Manchmal, wenn man allein auf hoher See ist, fühlt man sich einfach nur verloren. Und wenn dann noch ein Sturm aufzieht, Chaos ausbricht und man vielleicht sogar kentert, findet man sich plötzlich in einer Situation wieder, in der man nur noch versucht, den Kopf über Wasser zu halten. Aber diese Momente haben auch ihr Gutes – nicht nur, weil sie die eigene Widerstandsfähigkeit sichtbar machen. Sondern auch, weil sie viele unbearbeitete Probleme und Konflikte an die Oberfläche spülen. Daher ist es wichtig, dass man – sobald sich der Sturm gelegt hat und man wieder in ruhigen Gewässern segelt – in Ruhe reflektiert, was da zu Tage getreten ist und wie man damit in Zukunft umgehen will.

Julia:
Stimmt. Nur an solchen Situationen kann man persönlich wachsen. Wenn man sich seinen Ängsten nicht stellt, wird man mit ihnen nie richtig umgehen können. Das ist, wie wenn man als Treuzeugin auf der Hochzeit eine Rede hält. Zuerst fühlt man sich total verloren, weil man sich mit seinen Gedanken und Emotionen so vielen Leuten aussetzt. Man bekommt plötzlich weiche Knie und fängt an zu stottern. Aber wenn man die Rede erst einmal gehalten hat, fühlt man sich viel größer und glücklicher. Ich finde, man muss sich solchen Momenten viel öfter aussetzen, um zu verstehen: Am Ende wird alles gut.

»Die Liebe ist das Licht, das wir brauchen, um zu verstehen, dass alles nicht so schlimm, dunkel und beängstigend ist, wie es sich anfühlt.«

MYP Magazine:
Vielleicht braucht man in seinem Umfeld auch einfach mehr Menschen, die einem sagen, dass alles gut wird – und dass es okay ist, sich hin und wieder zu verlieren.

Julia:
Ja, und genau darum geht es in »Losing You«. Der Song sagt nichts anderes, als dass wir Menschen einander brauchen – egal, ob wir freundschaftlich, familiär oder romantisch miteinander verbunden sind. Diese Verbindung, oder mit anderen Worten Liebe, ist das Licht, das wir brauchen, um zu verstehen, dass alles nicht so schlimm, dunkel und beängstigend ist, wie es sich anfühlt. Es ist der eine Funken, der uns realisieren lässt, dass es auch noch eine andere Perspektive auf unsere scheinbar ausweglose Situation gibt; dass wir nicht in einem großen dunklen Wald sitzen, sondern nur in einem kleinen Raum, in dem das Deckenlicht nicht funktioniert und man nur mal die Glühbirne auswechseln muss. Aber das ohne eine menschliche Verbindung zu verstehen, ist oft sehr schwer.

»Jener magische Moment, in dem man sich entscheidet, eine Verbindung fürs Leben einzugehen, ist plötzlich vorbei.«

MYP Magazine:
Euer gesamtes Album ist von einer wunderbaren und herzerwärmenden Melancholie durchzogen, auch der »Wedding Song«. Sind Hochzeit und Melancholie nicht ein Widerspruch in sich?

Julia: (grinst)
Ich hoffe, ich darf das so sagen, auch wenn wir beide unverheiratet sind: Das Melancholische an einer Hochzeit ist doch die Tatsache, dass die Sekunde, in der man sich das Jawort gibt, im nächsten Augenblick schon Vergangenheit ist. Jener magische Moment, in dem man sich entscheidet, eine Verbindung fürs Leben einzugehen, ist plötzlich vorbei und die gemeinsame Liebe muss sich über die nächsten zehn, 20 oder 40 Jahre beweisen. Das Leben verändert sich permanent, darin liegt eine gewisse Melancholie – und davon handelt unser Song.

»Der Prozess, bestimmte Gefühle zu erkennen, mit ihnen umzugehen und sie dann gehen zu lassen, hat etwas sehr Befreiendes.«

MYP Magazine:
Der Dichter Rainer Maria Rilke hat mal gesagt: »Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand.« Aus welcher Notwendigkeit heraus macht Ihr beide Musik?

Angus:
Das Wichtigste im Leben ist doch, seine Gefühle ausdrücken zu können. Für mich persönlich hat die Musik da eine absolut existenzielle Bedeutung, denn sie gibt mir die Möglichkeit, meine Emotionen in einem Song niederzuschreiben, ihn aufzunehmen und zu veröffentlichen. Dieser Prozess, bestimmte Gefühle zu erkennen, mit ihnen umzugehen und sie dann gehen zu lassen, hat etwas sehr Befreiendes – als würde man all seine Ängste auf ein Blatt Papier schreiben und dann ins Feuer werfen.

Julia:
Für mich hat das Musikmachen ebenfalls etwas Rituelles. Aber eher, weil es ein Bedürfnis stillt, das ich als menschliches Wesen verspüre: Musik bringt mich in Verbindung zu etwas Tieferem – zu etwas Wahrhaftigem. Es gibt auf dieser Welt so viel Schönes und Gutes, aus dem man schöpfen kann. Ich finde es großartig, das in Musik zu verpacken, auch weil man damit die unterschiedlichsten Menschen erreichen und in Verbindung zueinander bringen kann…

MYP Magazine:
… und Ihr erreicht mit Eurer Musik mittlerweile Millionen von Menschen.

Angus:
Das stimmt. Ich freue mich auch immer wieder, wenn uns die Leute spiegeln, wie sehr sie sich auf ihrer ganz persönlichen Reise in unserer Musik wiedergefunden haben. Aber ich bleibe dabei: In erster Linie schreibe ich die Songs nur für mich selbst – um mit meinen eigenen Gefühlen umzugehen.


Maeckes

Interview — Maeckes

»Wenn ich mich selbst preisgebe, öffnen sich andere auch«

Mit seinem »gitarren album« hat Maeckes gerade eine Platte veröffentlicht, die einem sehr schnell sehr eng ans Herz wachsen kann – wenn man sie nur lässt. In 20 liebevollen Tracks erzählt der Rapper, Sänger und Produzent viele kleine und große Geschichten, die uns nicht nur einen tiefen Blick in seine eigene Seele gestatten, sondern uns auch vor die Frage stellen, wie wir uns selbst auf dieser Welt verorten wollen. Ein Interview über das Worst-of des Lebens, ein ultrakapitalistisches Liebeslied und den besonderen Charme von Kleinbuchstaben.

29. April 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Frederick Herrmann

Ach, diese Feststelltaste. Im Jahr 1875 von Christopher Sholes als Teil der modernen Tastatur erfunden, hatte sie auf mechanischen Schreibmaschinen noch einen echten Mehrwert. Denn wenn man per Umschalttaste von Klein- auf Großschreibung wechseln wollte, war das immer mit einem gewissen Kraftaufwand verbunden. Die Feststelltaste ließ die schwere Umschalttaste komfortabel einrasten – was für ein Service!

Knapp 150 Jahre später ist das fleißige Helferlein von einst ziemlich in Verruf geraten. Vor allem in den „sozialen“ Netzwerken gilt die Feststelltaste heute als verbales Megafon. Wer seiner Meinung besonderen Nachdruck verleihen will, schaltet kurzerhand auf „Caps Lock“ – und feuert los. Garniert wird dieses lautlose Gebrüll gerne mit etlichen Ausrufe- und Fragezeichen. Was für ein Augenschmaus!

Höchste Zeit also, die Feststelltaste in Rente zu schicken? Zumindest in den letzten Jahren wurde das immer wieder mal gefordert.

Doch während die Fachwelt noch diskutiert, hat Markus Winter alias Maeckes der Feststelltaste gerade ein Sabbatical bewilligt. Auf seinem neuen „gitarren album“, das am 26. April erschienen ist, kommt der 41-jährige Rapper, Sänger und Produzent völlig ohne Großbuchstaben aus – ganz anders übrigens als bei den Alben davor.

Typografisch sieht das „gitarren album“ irgendwie niedlich, leicht und ungefährlich aus. Und auch die Songtitel – „happy heart syndrom“, „der brand nach dem feuerwehrfest“ oder „die parties der eltern als man noch kind war und schon im bett lag“ – suggerieren auf den ersten Blick eher Easy Listening als Existenzialismus. Doch der Schein trügt.

Zwar ist dieses „gitarren album“ mit seinen 20 kleinen und großen Tracks auch wirklich easy anzuhören. Aber gleichzeitig lässt uns Maeckes mit dieser Platte derart tief in seine Seele blicken, dass man manchmal gar nicht weiß, wie man mit diesem Vertrauensvorschuss umgehen soll; und ob er gerade sich selbst meint oder uns, die voyeuristischen Zuhörenden. Etwa im Song „bucketlist“, in dem er etliche Herausforderungen auflistet, die einem das Leben so vor die Füße wirft, ob man nun will oder nicht. Oder in „orangerot“, ein Lied, das sich mit unserer persönlichen Verortung inmitten der Krisen dieser Welt auseinandersetzt, von Klimakatastrophe über Wohlstandsgefälle bis Demokratieermüdung.

Vor vier Jahren durften wir Maeckes schon mal zusammen mit seiner lebhaften Band „Die Orsons“ interviewen, jetzt haben wir ihn erneut zum Gespräch getroffen – ganz entspannt und in einer fast andächtigen Atmosphäre: an einem Freitagnachmittag im Studio des Fotografen und Videokünstlers Frederick Herrmann, der hier in den Stunden zuvor das Musikvideo zu Maeckes’ Song „nichts“ gedreht hat.

»Wenn man aus dem Rap kommt, stellt man viel schneller mal ein Mixtape zusammen, als ein komplettes Album zu konzipieren.«

MYP Magazine:
Maeckes, Dein Song „happy heart syndrom“ startet mit der Zeile „Mir geht es gerade gut“. Wir hoffen, diese Gefühlslage ist noch aktuell.

Maeckes:
Lasst mich kurz überlegen… Ja, doch, es geht mir immer noch gut. Danke der Nachfrage.

MYP Magazine:
Als wir Dich vor vier Jahren zum Interview mit den Orsons getroffen haben, hast Du Folgendes gesagt: „Beim Musikmachen gibt es manchmal Phasen, die so inspiriert sind, dass alles aus einem herausquillt. Dann wiederum erlebt man Phasen, die eher etwas ruhiger und nachdenklicher sind. In diesen Momenten braucht man immer den richtigen Vibe, um weiterzukommen – das ist wie klassisches Rätsellösen.“ In welcher dieser Phasen ist Dein „gitarren album“ entstanden?

Maeckes:
Die Herangehensweise an das neue Album war total frei und gelöst. Das hat vor allem damit zu tun, dass ich es eher als ein Gitarren-Mixtape betrachtet habe. Wenn man wie ich aus dem Rap kommt, stellt man ja viel schneller mal ein Mixtape zusammen, als ein komplettes Album zu konzipieren und dafür die richtigen Songs zusammenzusuchen. Klar, am Ende ist auch mein „gitarren album“ ein echtes Album geworden, aber längere Kopfgeburten gab es dabei nie. Ich habe immer nur das gemacht, was mir gut von der Hand ging – und das spiegelt sich in den 20 Tracks auf der Platte wider.

»Von all den Liedern, die ich zehn Jahre lang auf der Bühne gespielt habe, ist letztendlich kein einziges auf dem Album gelandet.«

MYP Magazine:
Diese 20 Tracks sind eine Essenz der geheimnisvollen Gitarrenkonzerte, die Du in den letzten zehn Jahren gespielt hast und zu denen es keine Aufzeichnungen gibt. Hattest Du mit diesem Album auch das Ziel, für Dich und Deine Fans einige Erinnerungen aus dieser Zeit zu konservieren?

Maeckes:
Die 20 Tracks sollten eine Essenz aus dieser Zeit sein. Das Lustige ist aber, dass von all den Liedern, die ich zehn Jahre lang auf der Bühne gespielt habe, letztendlich kein einziges auf dem Album gelandet ist. Ganz am Anfang hatte ich noch die Intention, die besten Songs meiner Gitarrenkonzerte auf einer Platte zu verewigen. Aber dabei habe ich gemerkt, dass diese Songs eher für den jeweiligen Moment bestimmt waren, in dem ich sie gespielt habe, und dass sie heute dieser Magie nicht mehr gerecht werden – jedenfalls nicht, wenn ich versuche, sie nachträglich zu recorden. Dazu kommt, dass ich auch immer wieder neue Songideen hatte, die sich irgendwie frischer angefühlt und mehr und mehr durchgesetzt haben gegenüber den mittlerweile zehn Jahre alten Dingern.

»Du wurdest gerade vom Kapitalismus gefickt, hier auf meinem Konzert.«

MYP Magazine:
Aber ist „dein name“ nicht auch ein Song, den Du immer wieder vor Publikum gespielt hast?

Maeckes:
Ja, allerdings ist dieses Lied nicht mal ein Jahr alt. Ich hatte es für die Konzertreihe „Maeckes und das Experiment“ geschrieben, die Ende April 2023 startete.

MYP Magazine:
Bei diesen Shows hast Du die Leute immer wieder aktiv in die Entwicklung Deiner Songs eingebunden. Welche Erfahrungen hast Du dabei gemacht?

Maeckes:
Die wichtigste Erkenntnis war, dass der Kapitalismus auf meinen Konzerten seine hässlichste Fratze zeigt. Das hätte ich nie gedacht. Mein Ziel war immer, mir mit dem Publikum einen gemeinsamen Spaß zu machen und den Kapitalismus auf den Arm zu nehmen. So jedenfalls ist das Lied „dein name“ angelegt…

MYP Magazine:
… ein Song aus der Reihe „Kapitalistische Liebeslieder“. Die Idee dabei ist: Zahlt jemand aus dem Publikum einen gewissen Betrag, baust Du den Vornamen dieses Menschen in den Text ein – und suggerierst damit, dieses Lied sei ganz allein für ihn geschrieben.

Maeckes:
Genau. Aber was war passiert? Die Leute haben sich gegenseitig überboten! Kaum hatte zum Beispiel eine Svenja zehn Euro gezahlt, zahlte ein Peter zwanzig – und Svenja, die „nur“ einen Zehner gegeben hatte, hörte keine einzige Zeile von mir. Das tat mir wahnsinnig leid. Überhaupt habe ich immer wieder in enttäuschte Gesichter blicken müssen – mit dem Wissen: Du wurdest gerade vom Kapitalismus gefickt, hier auf meinem Konzert. Das war hart, vor allem, weil der Preis manchmal richtig in die Höhe schoss. Bei dieser ganzen Sache habe ich viel gelernt. Wir haben aber auch viel gelacht über den Kapitalismus. Und darum ging es ja auch in erster Linie.

»Einen differenzierten, rationalen Blick darauf, welche Kritik in dem Song verpackt sein könnte, hatten eher wenige.«

MYP Magazine:
„dein name“ funktioniert im Grunde wie ein Werbespot, der einem das Gefühl vermitteln soll, ganz persönlich angesprochen zu sein. Hat Dein Publikum nicht reflektiert, dass auch dieses Lied den versprochenen Individualismus nur vorgaukelt und persifliert?

Maeckes:
Nein, ich hatte eher den Eindruck, dass in den meisten das kapitalistische Feuer entfacht wurde, als sie gecheckt haben, dass sie sich für zwei, vier, zehn oder zwanzig Euro einen scheinbar personalisierten Song schießen können. Einen differenzierten, rationalen Blick darauf, welche Kritik in dem Song verpackt sein könnte, hatten eher wenige.

MYP Magazine:
Es gibt Künstler*innen, die betreiben das Verkaufen pseudo-individueller Songs oder Videos sogar hauptberuflich.

Maeckes:
Frank Zander!

MYP Magazine:
Stimmt, der hat bereits in den Neunzigern TV-Werbung für CDs mit personalisierten Geburtstagswünschen gemacht: „Hallo Ingeborg! Jetzt kommt der absolute Knaller, denn dieses Lied ist nur für dich.“

Maeckes:
Frank Zander ist auf jeden Fall der Original Gangster der Namenssongs.

»Es passiert in meinem Leben nur noch ganz selten, dass ich alkoholtechnisch so richtig der Sonne entgegen reite.«

MYP Magazine:
Als wir uns vor vier Jahren zum Interview mit den Orsons trafen, haben wir auch darüber gesprochen, was es Dir und den anderen bedeutet, gemeinsam Konzerte zu spielen. Was gibt es Dir, solo unterwegs zu sein?

Maeckes: (ohne zu zögern)
Ruhe!

MYP Magazine:
Dann passt die andächtige Stimmung hier in Fredericks Studio gerade ja ganz gut.

Maeckes:
Ja, absolut. Ich freue mich immer wieder, wenn ich der Action des Alltags entfliehen und in etwas total Ruhiges eintauchen kann – so wie heute. Mir reicht es aber auch schon, ganz gechillt in einer anderen Stadt zu sein und dort ein Konzert zu spielen. Und da ich vor allem in den größeren Städten viele Freunde habe, freue ich mich immer, die bei der Gelegenheit mal wieder zu sehen. Es gibt mir viel mehr, nach einem Konzert noch ein paar Stunden mit Leuten, die ich mag, zusammenzusitzen und ausgiebig zu quatschen, als mich wie früher einfach über den Haufen zu trinken. Seit Corona ist das bei mir ohnehin viel ruhiger geworden. Es passiert in meinem Leben nur noch ganz selten, dass ich alkoholtechnisch so richtig der Sonne entgegen reite.

»Ich kam an der Location an und hing mit irgendwelchen Leuten ab, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.«

MYP Magazine:
Hast Du für Deine Solo-Auftritte auch ein eigenes Ritual entwickelt – wie damals bei den Orsons das gemeinsame Schnapstrinken vor dem Gang auf die Bühne?

Maeckes: (lächelt)
Manchmal trinke ich immer noch einen Schnaps vor dem Auftritt, aber dann halt mit den Veranstaltern. Es gab in den letzten Jahren etliche Konzerte, bei denen ich wirklich komplett allein war – ohne Tourmanagement, ohne Crew, ohne gar nichts. Ich kam an der Location an und hing mit irgendwelchen Leuten ab, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. In solchen Momenten ist es schwer, so etwas wie ein Ritual zu entwickeln und auch zu pflegen.

»Ich spüre ich in mir schon so etwas wie die Energie eines politischen Liedermachers.«

MYP Magazine:
Kommen wir zurück zu Deinem „gitarren album“. In unserer Gesellschaft gibt es zum einen das romantisierte Bild des „Jungen mit der Gitarre“, dem alle zu Füßen liegen. Und zum anderen gibt es das des ernsthaften, oft politischen Liedermachers in Gestalt etwa eines Reinhard Mey oder Wolf Biermann. Hast Du dich selbst jemals in einem dieser Bilder wiedergefunden?

Maeckes: (überlegt einen Moment)
Hmm… einerseits habe ich mich nie als einen Gitarristen oder Gitarrenmusiker gesehen. Das sind höchstens Kostüme, die ich mir versucht habe anzuziehen – die aber nie genau gepasst haben.
Andererseits spüre ich in mir schon so etwas wie die Energie eines politischen Liedermachers, die vor allem damals zum Vorschein kam, als ich noch Rap-Shows und keine Gitarrenkonzerte gespielt habe. Es gibt ja auch etliche Orsons-Songs und -Skizzen, die sehr politisch sind und eine wichtige Message haben. Da komme ich also schon irgendwie her… Aber dass ich einfach nur Musik machen möchte, bei der man mir zuschmachten kann, ist eine mindestens genauso große Wahrheit. (lacht)

MYP Magazine:
Dabei kann man Deine Songreihe „der brand nach dem feuerwehrfest“ durchaus als kleine Persiflage auf den musikalischen Stil alternder Gitarrenbarden verstehen.

Maeckes:
Ja, allerdings hat mein Anfang eher was von Rolf Zuckowski.

»Die Bühne war für mich nie ausschließlich für die Musik da.«

MYP Magazine:
Diese fünfteilige Serie wirkt auf dem „gitarren album“ wie eine Geschichte innerhalb der Geschichte. Wäre ein Job am Theater für Dich nicht auch eine Option gewesen?

Maeckes:
Theater war ja nie keine Option. Als ich vor vielen, vielen Jahren angefangen habe, Musik zu machen, war die Bühne für mich nie ausschließlich für die Musik da. Ich habe zwar nie klassisches Theater gespielt, aber bei meinen Auftritten gab es schon immer irgendwelche Mischformen und Performance-Krempel. Und auch mit meinem Orsons-Kollegen Bartek habe ich im Laufe der Jahre immer wieder Stücke geschrieben, die wir vor Publikum performt haben. Das heißt, in irgendeiner Weise komme ich schon aus dieser Welt – nur, dass ich dem Ganzen meine ganz eigene Form gegeben habe.

»So etwas wie eine Bucketlist zu haben, empfand ich schon immer als etwas merkwürdig Dummes.«

MYP Magazine:
Einer der persönlichsten Songs auf Deinem neuen Album ist „bucketlist“. Darin lässt Du uns tief in Dein Innerstes blicken. Wie geht es Dir damit, Dich emotional so nackt zu machen?

Maeckes:
Diesen Song habe ich zum ersten Mal bei „Maeckes und das Experiment“ gespielt. Dabei habe ich gemerkt: Wenn ich mich selbst preisgebe, öffnen sich andere auch. Klar, es ist vielleicht ein bisschen weird, diese Dinge mal so klar auszusprechen, auch weil normalerweise alles, was ich so schreibe, super chiffriert und in Metaphern verstrickt ist. Aber bisher hat es sich richtig angefühlt, das mit den Menschen zu teilen.

MYP Magazine:
Am Anfang des Song erzählst Du uns von den vermeintlichen Highlights Deines Lebens, die Du erfolgreich abgehakt hast. Dann aber gibt es eine Wende hin zu Deiner „Nicht-Bucket List“, in der Du „ganz viel Scheiße“ auflistest, die Du nie erleben wolltest. Wie ist dieses Lied entstanden?

Maeckes:
So etwas wie eine Bucketlist zu haben, empfand ich schon immer als etwas merkwürdig Dummes. Interessant wird das Ganze erst, wenn man mal versucht, die andere Seite der Medaille zu beleuchten: nicht das Best-of des Lebens, sondern das Worst-of. Heutzutage versuchen doch alle, die Idealseite ihres Daseins möglichst attraktiv in Szene zu setzen, vor allem auf Social Media. Das nervt so hart. Daher dachte ich, es passt vielleicht mal ganz gut, einen Song über dieses Thema zu schreiben, der aber einen U-Turn in sich hat. Denn diese Kehrseite gibt es nicht nur in meinem Leben, sondern auch in dem aller anderen Menschen.

»Es hat sich wahnsinnig gut angefühlt, mal die doppelten Böden sein zu lassen.«

MYP Magazine:
Wenn man selbst noch nie einen Baum gepflanzt, ein Auto gekauft, eine Aktie besessen und ein Haus gebaut hat, fühlt man sich mit diesem Lied sehr verstanden – ebenso, wenn man ein paar Jahre nicht mit seinem Vater gesprochen hat, in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung lebt oder an einer Depression erkrankt ist. Es tut gut, wenn sich jemand in seiner Musik so nackt macht.

Maeckes:
Das geht mir bei Musik allgemein auch so. Gleichzeitig hat es sich auch wahnsinnig gut angefühlt, das selbst mal so klar auszusprechen und die doppelten Böden sein zu lassen. Und ganz ehrlich: Das war vor allem am Anfang noch eine ziemliche Challenge. Denn es geht ja nicht nur darum, mit dem Song einem anderen Menschen Mut zu machen, indem ich sage: Wenn du denkst, du bist der einzige Depp auf der Welt, schau dir Maeckes an, der ist auch so ein Depp. Ich habe dieses Lied auch einfach nur für mich geschrieben, um mich mal was zu trauen – um mich zu öffnen.

»Meine Stars sollen herumschweben und eine Silhouette sein, auf die ich alles projizieren kann, was ich will.«

MYP Magazine:
Darüber hinaus macht „bucketlist“ deutlich, dass ein Mensch, der im Rampenlicht steht, am Ende die gleichen Sorgen und Probleme hat wie jeder andere auch. Vielleicht hilft das ja all denen, die ihre Musik-, Schauspiel- und Instagram-Stars auf einen Sockel stellen und sich selbst dadurch kleinmachen.

Maeckes:
Ich glaube nicht, dass mein Song das durchbrechen kann – denn auch auf das, was ich da singe, kann man im Endeffekt wieder etwas projizieren. Vielleicht ist es für einen selbst sogar gesund, wenn so ein Künstler, den man gut findet, irgendwo herumschwebt und nicht mehr ist als eine Projektionsfläche. Man will doch nicht wirklich sehen, wie der in seinem Alltag Wäsche wäscht, oder? (lacht)
Ich jedenfalls will das nicht sehen. Meine Stars sollen herumschweben und eine Silhouette sein, auf die ich alles projizieren kann, was ich will. Auf diese Weise kann man mich auch gerne verwenden.

»Man selbst ist zwar nicht derjenige, der die Welt angezündet hat, aber man wärmt sich trotzdem gerne an ihr.«

MYP Magazine:
Ein weiterer Song, der sich im wahrsten Sinne ins Gedächtnis brennt, ist „orangerot“: erstens, weil der Titel Assoziationen an den Film „Blade Runner 2049“ weckt, der nicht nur in dieser Farbwelt gehalten ist, sondern auch in einer dystopischen Zukunft nach der Klimakatastrophe spielt. Und zweitens, weil der Titel die Bilder aus dem Jahr 2020 zurück ins Gedächtnis ruft, als der Himmel über San Francisco infolge der Waldbrände in ein tiefes Orangerot gefärbt war – ein Moment, in dem die Realität mit der Fiktion gleichgezogen ist. Waren solche dystopischen Bilder die Vorlage für Deinen Song?

Maeckes:
Thematisch würde das auf jeden Fall passen. Tatsächlich ist der Song aber schon ein bisschen älter und definitiv vor den Bildern aus San Francisco entstanden, vielleicht sogar schon vor „Blade Runner 2049“. Ursprünglich war der Song mal als Skizze für die Orsons gedacht, die in dem Zusammenhang aber nie weiterentwickelt wurde. Dennoch hat mich die Idee dahinter nie ganz losgelassen: Man selbst ist zwar nicht derjenige, der die Welt angezündet hat, aber man wärmt sich trotzdem gerne an ihr – und nutzt wie selbstverständlich das wütende Feuer als Lichtquelle. Dieses Bild konnte ich nie ganz über Bord werfen. Und da Feuer eh das Hauptthema des ganzen Albums ist, dachte ich, ich lasse es am Ende noch so richtig schön orangerot brennen.

»Das Leben ist eine einzige Verarsche. Aber das ist auch okay.«

MYP Magazine:
Mit Deinem Song „die parties der eltern als man noch kind war und schon im bett lag“ widmest Du dich einem ganz anderen Thema: dem Aufwachsen. Fühlst Du dich vom Leben betrogen, weil sich die romantische Idee, die Du als Kind vom Erwachsensein hattest, am Ende nicht bewahrheitet hat?

Maeckes:
Immer! Das Leben ist eine einzige Verarsche. Aber das ist auch okay, denn es zwingt einen dazu, immer wieder ein Update zu machen. Ich finde, das ist wirklich das Einzige, was man auf seiner Bucketlist haben sollte: ein regelmäßiges Update seiner Perspektive auf das Leben und die Welt.

MYP Magazine:
Das ist oft leichter gesagt als getan.

Maeckes:
Total! Und eines der schwierigsten Updates ist es, wenn man lernen muss, wie Beziehungen funktionieren. Als Kind hält man es für eine eisenharte Wahrheit, dass die Art und Weise, wie die Eltern ihre Beziehung führen, die einzig richtige ist. Aber wenn man dann irgendwann groß und erwachsen ist, muss man mit Erschrecken feststellen: Fuck! Die Eltern haben es genauso wenig gecheckt wie man selbst. Für mich persönlich war das eine der ersten großen Verarschen des Lebens. Wenn man sich in dem Moment kein Riesen-Update verordnet, bleibt man auf der Strecke. Und diese Situation wird es immer und immer wieder geben – „Till The Day I Die“, wie 2Pac gesagt hat.

»Der Stuhl knarzt und die Stimme ist nicht ideal, aber für mich war es der beste Moment.«

MYP Magazine:
Ihr habt heute hier im Studio das Video zu Deinem Song „nichts“ gedreht. Wie schwierig ist es, ein Lied über nichts zu schreiben?

Maeckes:
Überhaupt nicht schwierig! Dieser Song kam ganz locker-flockig zu mir. Ich war letztes Jahr eine Woche lang im Chiemgau, um dort im Studio eines Freundes – Grüße gehen raus an Lukas – super viele Gitarrenlieder aufgenommen habe. Und wenn ich mal nicht aufgenommen habe, hing ich einfach rum, hab‘ mir neue Sachen überlegt oder war draußen in der Natur. Die Idee zu „nichts“ entstand, als ich einen ganzen Tag lang einfach wandern war. Die Melodie des Songs hatte ich bereits im Kopf und als ich dann stundenlang in dieser schönen Landschaft herumgelaufen bin, hatte ich immer wieder mal eine Idee für eine Zeile, die ich dann in mein Handy getippt habe.
Gleich am nächsten Morgen habe ich das Lied dann aufgenommen – in einem einzigen Take. Man hört es ja auch ein bisschen: Der Stuhl knarzt und die Stimme ist nicht ideal, aber für mich war es der beste Moment. Ich saß am offenen Fenster, die Vögel zwitscherten und alles fühlte sich irgendwie richtig an.

»Wie die meisten Leute schaue auch ich mir auf YouTube lieber noch ein Video mehr an, bevor da nichts mehr ist.«

MYP Magazine:
Viele Menschen können gar nicht so gut damit umgehen, wenn um sie herum gerade nichts ist – kein Geräusch, kein Termin, keine anderen Menschen. Wie gehst Du selbst mit so einer Situation um?

Maeckes:
Ich liebe nichts! Ich liebe es, wenn das Papier noch weiß ist, bevor ich darauf schreibe – oder besser gesagt: bevor ich überhaupt eine Ahnung davon habe, was ich schreiben will. Für mich fühlt sich so etwas sehr befreiend an, weil es mir noch alle Möglichkeiten offen lässt. Gleichzeitig merke ich, dass ich immer schlechter darin werde, diese besonderen Momente zu genießen. Wie die meisten Leute schaue auch ich mir auf YouTube lieber noch ein Video mehr an, bevor da nichts mehr ist. Schade eigentlich.

»Jeder Mensch versucht, sich eine kleine Bühne einzurichten, auf der er mit der Welt klarkommt und sich selbst irgendwie akzeptieren kann.«

MYP Magazine:
Im Outro des Albums singst Du: „Ich bin nur sicher auf der Bühne / Ich bin nur sicher nach Applaus / Und bin ich nicht mehr Bühne / Dann gehen die Lichter plötzlich aus“. Fühlst Du dich in der Situation gerade jetzt, abseits der Bühne, sicher oder unsicher?

Maeckes:
Ich bin mitten in einem Interview. Das heißt, ich stehe gerade auf der Bühne.

MYP Magazine:
Hast Du eine Strategie, mit der es Dir gelingt, Dich im Alltag ohne den Applaus fremder Menschen sicherer zu fühlen?

Maeckes: (lächelt)
Der Song ist ein bisschen als Scherz gedacht. Ich will damit klarmachen, dass wir alle diese Bühne haben, nicht nur ich als Musiker. Wir alle haben bestimmte Komfortzonen, in denen wir uns sicher wähnen und wissen: Okay, wenn ich diese Hose anziehe, fühle ich mich halbwegs wohl. Oder aus diesem Blickwinkel finde ich mein Gesicht gar nicht so scheiße.
Jeder Mensch versucht, sich eine kleine Bühne einzurichten, auf der er mit der Welt klarkommt und sich selbst irgendwie akzeptieren kann. Und wenn man diese Bühne verlässt, kann es eben passieren, dass man von den einfachsten Dingen überfordert ist, sich in scheinbar harmlosen Situationen unwohl fühlt oder sich den Kopf zerbricht, weil man glaubt, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben.

»Vielleicht ist Applaus nicht das Wichtigste im Leben.«

MYP Magazine:
Du drohst am Ende des Lieds damit, Dich umzubringen, wenn Du keinen Applaus bekommst.

Maeckes: (das Lächeln geht in ein Grinsen über)
Damit sage ich mir selbst, dass ich vielleicht mal einen anderen Umgang damit finden sollte, wenn ich keinen Applaus bekomme. Vielleicht ist Applaus nicht das Wichtigste im Leben. Das habe ich aber noch nicht herausgefunden.

MYP Magazine:
Dabei ist es leider keine Seltenheit, dass Menschen im Showbusiness in ein tiefes Loch fallen, sobald der Vorhang fällt.

Maeckes:
True.

»Ich kann so ein Album nicht im luftleeren Raum schaffen und dann einfach ein goldenes Ei scheißen, das ohne Dialog funktioniert.«

MYP Magazine:
Durch deine Suizid-Drohung ganz am Ende des Albums entlässt Du uns nicht nur mit einem Cliffhanger, sondern auch mit einem ziemlichen Klos im Hals. Immerhin legst Du die Verantwortung für Deine emotionale Erlösung und Dein physisches Überleben in unsere Hände.

Maeckes:
Ich wette, Ihr habt zu Hause applaudiert.

MYP Magazine:
Ja, natürlich. Wir wollten Dich retten. Wie kommen wir als Dein Publikum aus dieser Verantwortung nur wieder heraus?

Maeckes:
Genau darum geht es ja. Ihr als Zuhörer wollt ein Album von mir – ein Album, das Euch ablenkt, in dem Ihr euch aber auch wiederfinden könnt und so weiter und so fort. Aber das funktioniert eben nicht ohne Euch. Das bedeutet, dass Ihr leider auch eine gewisse Verantwortung bei der Sache tragt, ob Ihr wollt oder nicht. Ich kann so ein Album nicht im luftleeren Raum schaffen und dann einfach ein goldenes Ei scheißen, das ohne Dialog funktioniert. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Euch Zuhörer dazu zu bringen, Euch die Frage zu stellen, welche Rolle Ihr selbst bei all dem spielt. Habt ich die Platte nur nebenbei gehört und Euch wie in einer WhatsApp-Gruppe einfach durch den Verlauf gescrollt, ohne selbst etwas zu schreiben? Habt Ihr einfach einen auf stumm gemacht, wolltet aber trotzdem alles lesen?

MYP Magazine:
Jetzt fühlen wir uns ein bisschen ertappt.

Maeckes: (lacht)
Keine Sorge, es gibt ja eine Lösung. Versucht mal, wenn Ihr das Album noch mal hört, die Songs nicht auf mich, sondern auf jedes andere Leben zu beziehen und Euch zu fragen: Wie ist es, persönliche und intime Geschichten preiszugeben? Wie verändert sich das Gefühl, wenn man nicht mehr Kind, sondern erwachsen ist und man vielleicht selbst Kinder hat?

MYP Magazine:
Und wenn man „die Partys, und zwar als Eltern“ feiert.

Maeckes:
Genau. Ich glaube, dass mein Outro da einfach mal den Ball zurückspielt.

»Alle meine Alben bestanden immer nur aus Großbuchstaben, da musste sich mal ändern.«

MYP Magazine:
Eine letzte, aber profane Frage: Warum sind der Albumtitel sowie alle Songtitel kleingeschrieben?

Maeckes:
Weil es ein kleingeschriebenes Album ist. Weil das alles kleine Zeilen sind. Weil mein Gitarrenspiel sehr klein ist. Weil es einfach keine Großbuchstaben verlangt hat. Alle meine Alben bestanden immer nur aus Großbuchstaben, da musste sich mal ändern.

MYP Magazine:
Reicht ja, wenn die Gedanken groß sind.

Maeckes: (lächelt)
Ja, aber es sind auch viele kleine dabei.


Fred Roberts

Interview — Fred Roberts

»It takes a personal story to help someone else«

The British singer-songwriter Fred Roberts is an exceptional phenomenon for two reasons. Firstly, the 21-year-old creates music that simply sticks in the ear and sounds as though he has been doing nothing else for decades. And secondly, with his unflinching openness about his own emotional world, he serves as a role model for many queer kids around the world. We met him for a very personal interview about living in disguise, the power of Troye Sivan, and an artistic vision that is much more than writing self-help songs.

11. April 2024 — Interview & text: Jonas Meyer, Photography: Steven Lüdtke

What is a role model? The term, which today seems to be a natural part of our linguistic usage, was first coined by the sociologist Robert Merton back in the 1950s. Merton described role models as individuals who serve as examples for others to emulate, and he proposed that they play a crucial role in the socialization process, particularly in the formation of aspirations and goals among individuals.

One of these individuals is certainly Fred Roberts. The 21-year-old singer-songwriter from England has been a beacon of hope for many queer teenagers around the world, at least since he gave them a deep insight into his inner self with Disguise, only the third single he’s ever released and part of his debut EP Sound of My Youth. In his own words, he addressed this song to the boy who said he’d love him—if Fred were a girl.

However, this description is somewhat narrow for two reasons. Firstly, Fred’s role model appeal is not just limited to the younger generation. In general, he offers an emotional refuge to all those who have experienced the need to disguise themselves, hiding who they truly are and who they love. And secondly, even more importantly: at the age of 21, Fred Roberts can already be regarded as a serious artist who makes damn good music—music that wants to stay in your ears once you’ve heard it.

And so, we make the same mistake here, as many others do, which should be avoided at all costs when approaching an artist journalistically: we put the sexuality aspect first, not the music. And at the same time, it has never been more important to have queer individuals who use their art and outreach to provide more visibility for a group of people, many of whom are still socially stigmatised, persecuted and marginalised today.

A few weeks ago, our publisher Jonas Meyer met Fred Roberts in Berlin for a very personal conversation.

»This song is about one of the most vulnerable experiences I ever had.«

Jonas:
Disguise, the latest single you released, is a song “for the boy who said he’d love you if you were a girl.” You said on Instagram that you’d wanted to tell the story of this song for a long time. How do you feel, now that the story has finally become public?

Fred:
Even though the first two singles, Runaway and Say, also draw from personal experiences, Disguise was a big step further of being very specific: this song is about one of the most vulnerable experiences I ever had. The fact that this story is now out in the world feels exciting, because the reason why I make music is to let people who are going through the same shit know that they’re not the only ones who feel this way. In my opinion, it really takes a personal story to help someone else. It can make people feel less scared. Music is so transformative, you know? The flip side is: I feel that the story is not owned by me any more. That’s very weird, but that’s also what makes the song so special.

»Everyone in the world now knows what happened.«

Jonas:
Don’t you feel somehow exposed, telling the world this very intimate story?

Fred:
Kind of, yeah… especially with being so vulnerable in the lyrics. Everyone in the world now knows what happened. Even though the whole song is an artistic product, which means that I’ve slightly stepped away from who I am as a person, it’s still my name on it in the end; it still reveals my very own experiences and intimate feelings. But what would the alternative be? I guess it’s easier to not hide behind the fact that I’m the one who’s actually lived through it.

Jonas:
Luckily, this story only provides a very small insight into your personal life and uncovers 0.1 per cent of who you actually are…

Fred: (smiles)
But I’ll keep writing to fill in the gaps!

»The full picture of what I want to be as an artist is yet to be drawn.«

Jonas:
Do you sometimes get the impression that people who listen to your music think they know you 100 per cent? Especially now that they think they can follow you every step of the way on Instagram.

Fred:
Isn’t that what we all do when we like someone’s music? I think it’s nice that so many people are interested enough in getting to know me and my music, and it’s lovely to see that they’re connecting with the songs and everything… I mean, I’ve only released three singles, and my first EP is in the starting blocks!
But I’ve got so many other songs I’ve been writing for probably two years now, which means that I’ve got this backlog of different paths I’ve gone down. So, yeah, there is definitely a lot more to build, the full picture of what I want to be as an artist is yet to be drawn. Until then, this whole situation is like a new world for me.

»I’m basically saying: I wish I was somebody else that you could love—but I’m not, unfortunately.«

Jonas:
Some of your fans find that Disguise sounds like a song that could accompany the final scenes of a coming-of-age-film. What images did you yourself have in mind when you wrote the song?

Fred:
I’ve always been a storyteller, I really enjoy that. The way I got into songwriting was literally like this: I would have an experience, I would write about it, and then I’d sit in front of a piano and just play some chords, literally speaking the story. That has always been my process.
My favourite film is Call Me by Your Name—with its landscape, all its nostalgic elements and the dark nights—and I feel that the sound of Disguise evokes that same imagery. When I think of the end of the film, when Elio’s sitting by the fireplace after he got off the phone with Oliver who told him that he’s getting married—that’s definitely the world Disguise comes from. In the part where I sing, “Do I wish I was somebody else?”, I’m basically saying: I wish I was somebody else that you could love—but I’m not, unfortunately. I think that’s the emotion that relates to the one expressed in the film, the image of crying in front of the fireplace.

»I feel that the nature of a slower song allows me to tell more stories.«

Jonas:
After two up-tempo singles, Disguise shows a more thoughtful and dreamy side of you. Would you say that this aspect reflects your personality more? Or is it the other way around?

Fred:
Both sides reflect my personality, I’d say! I just love throw-yourself-around songs like those by my favourite band, The Killers. I’m totally into the anthemic nature of music. So that side of it is definitely one half of me. But then, there’s a song like Disguise, and I’ve got a few other guitar ballads coming up. That just gives me the opportunity to be more real with the lyrics. I feel that the nature of a slower song, with atmospheric, intertwined sounds, allows me to tell more stories.
But even though you’re getting more of me in Disguise than you’re probably going to get in Say or Runaway, these two other songs are also extremely important for me in building the world in which I want my music to exist.

»If I were to produce it myself, it wouldn’t sound anything like this.«

Jonas:
Your songs have a very high production quality and sound like you’ve been making music for decades. But you only released your debut single in April 2023. Would you say you are a perfectionist? Or is it the people you work with?

Fred: (smiles)
I’m a perfectionist, but I’m not the one who produces the music. I’m very lucky to have Andrew Wells by my side: he’s like my anchor in the projects, even though he lives overseas. I met Andrew during lockdown through other people and we connected, but the only music I had were some rough demos I’d done on a Zoom recorder. That didn’t put him off and he still wanted to work with me. He was so passionate about building a soundscape and finding the right vibe, it was just incredible. And this guy is still pure magic. Even when we write a song over the course of a day, he often finishes it at the end of the same day. As much of a perfectionist as I am, he surpasses me by far. And if I were to produce it myself, it wouldn’t sound anything like this.

»It’s hard keeping true to yourself when you want as many people as possible to listen to your music.«

Jonas:
How important is it to create a brand around your music nowadays? Is there a danger of losing your own edginess and personality in the process?

Fred:
I think I’d be stupid if I always tried to write songs with a goal in mind. But of course, I’m aware of why certain songs exist. Runaway, for example, was quite big on the radio in Germany. That’s pretty cool, but I didn’t write the song to be successful in a specific market and in a specific medium. I was just lucky that it appealed to people’s tastes. Something like that just happens, or it doesn’t. But whatever—it doesn’t influence the music I love to make.
It’s hard keeping true to yourself when you want as many people as possible to listen to your music. If you really want to be successful, at least in a commercial sense, you have to write songs that reach out. But the second you write a song with a specific purpose, like going viral or taking off as a massive radio hit, that’s when the magic disappears.
For me, writing a song is only for the sake of writing it. When I come to the studio, it’s important for me to bring a story I really care about. Then Andrew and I elaborate it together, just knowing that we’ve got certain influences and certain songs that we want it to sound like, and then it turns into whatever it turns into. That’s all.

»Something deep inside me also wanted me to make music, but I wondered: How do I actually do that?«

Jonas:
When in your life did you realize that making music is a vital outlet for your emotions?

Fred:
During lockdown. I mean, I was already on a TV show in the UK just before the first lockdown; that’s how I got a little bit of a platform and how I made a few connections in the industry. But I hadn’t written a song before. I had just sung for a little bit, including in a school choir. But nothing serious. After lockdown happened, I found myself playing Xbox for the first six months. I was still at school at the time and about to finish it up. Something deep inside me also wanted me to make music, but I wondered: how do I actually do that? My mum just said: “You got to write your own stuff, you know?”

»If no one in the world existed, I think I would still feel the need to document my emotions in a song.«

Jonas:
Your mother used to be a performer, your dad’s a graphic designer. What influence did the creative professions of your parents have on your own artistic development?

Fred:
My mum was the one that got me started and playing piano, she was one that pushed me to get into music in the first place, and she’d sit over me while I practised and so on. Without her, I probably wouldn’t be able to write a song.
Overall, having two parents that both understood the need for a creative outlet was really important. I think it might be more difficult if they’d work in finance, for example. Not that it’s a worse job, but I think if you’re a parent working in the creative field, you have a finer instinct for when your child develops a quiet voice in their head that asks them more and more often: do you want to be a singer? Honestly, this wasn’t a big dream I had from a young age. But there was this constant voice that got louder and louder, and my parents instinctively understood. Their message was: “When there’s something inside of you that you want to let out, just do it and see what happens.”

Jonas:
Isn’t that the essence of art?

Fred:
I guess it is! And in this context, it doesn’t matter whether anyone is listening to you. If no one in the world existed, I think I would still feel the need to document my emotions in a song, like other people do in a diary, for example—although I would be a bit upset by now if absolutely nobody listened. (smiles)
It still feels kind of weird. There’s nothing more special to me than making a song about a specific experience and then getting home after a session, just being in bed, putting my headphones on and being instantly taken back to what I was feeling in the moment it happened.

»The song triggered something deep inside of me.«

Jonas:
A few weeks ago, when the whole world seemed to be posting their Spotify Wrapped, including you, it turned out that you and I have something very important in common: Last year, we both spent endless hours listening to Ryan Beatty’s new album, Calico. What do you like about it?

Fred:
This whole record is just perfect! I’m surprised it’s not being promoted more. Maybe it’s because Ryan Beatty is no longer perceived as a traditional artist like he was a few years ago. He was something of a pop star, and he was releasing music that’s far different to what he’s creating now.
For me, Calico kind of soundtracked my entire summer last year. This record is just beautiful from beginning to end, its soundscape is phenomenal, and it’s been a long time since I skipped any songs on an album. I’m absolutely sure that this record will stay with me for a very long time… What’s your favourite song on it?

Jonas:
It’s Ribbons. I remember sitting on the bus to our office early in the morning and listening to it. Suddenly I started crying—but I couldn’t understand why it touched me so much.

Fred:
Oh, I definitely know what you mean. Ribbons is just brilliant. I had the same experience with Black Friday by Tom Odell. I guess that was my top song of the year 2023—the way it builds up just blew me away. When it came out, I was in Hamburg playing my third show ever. I’d been through a breakup a few months ago, and I remember lying in bed after going out on the Reeperbahn. It was 2 a.m. and I had the song on full blast, absolutely the same experience as yours. I didn’t know why I was feeling any of this, it triggered something deep inside of me.

»Watching Troye Sivan’s music videos, it was the first time I’d seen two boys or men be with each other.«

Jonas:
Even more than Ryan Beatty, another music artist—a certain Troye Sivan—has changed your life. Can you tell how?

Fred:
My first contact with his music was when I discovered him on YouTube, watching the videos of his Blue Neighbourhood Trilogy. It was the first musical discovery of my life that wasn’t through a friend or my parents or someone else recommending me any music. I was hooked from the very first second. I saw this amazing Australian boy who was making wonderful music, and I was like, who is this? From that moment, I literally absorbed his songs.
At that time, I was 14 or maybe 15 years old, going through a period of my life figuring out who I was. Watching Troye Sivan’s music videos, it was the first time I’d seen two boys or men be with each other…

Jonas:
… and that was something so new for you?

Fred:
Not that I wasn’t aware of this beforehand—I had already seen it in my personal life—but until then, it had never appeared in the media that I was actively consuming. Or, to put it differently, I had never immersed myself in the storyline of a gay couple.

»The confusion or loneliness that comes with being gay was something no one had ever talked to me about before.«

Jonas:
What effect did that have on you?

Fred:
That specific experience was very important for me to find my own identity as a gay man. Of course, I knew already what it meant to be gay, and I already knew that I liked boys, but that was it. Everything else that comes with that—the confusion or loneliness, for example—was something no one had ever talked to me about before. Troye Sivan was the first one who, through his music and videos, spoke openly about all the emotions and experiences I personally could relate to. He showed me that I wasn’t the only person in the world who had fallen unhappily in love with a boy. That was magical.
I guess knowing that there’s an artist out there that is being so open and vulnerable about certain issues kind of paved my own artistic way. Apart from that, he broke so many boundaries of what can be talked about today, especially with his new album and the visuals. I mean, obviously, being queer is more accepted in the world now than it was just a couple of years ago, but there’s still a long way to go.

»My sexuality isn’t my whole life. There are so many different parts of me that define who I am as an artist.«

Jonas:
Absolutely. I myself grew up as a gay kid in a small town, and I always thought my generation would have been the last one growing up without any queer role models or a public conversation about people who do not conform to the heteronormative ideal. Then, preparing for today’s interview, I learned that you when you realized that you were gay, you also didn’t know who to tell or how to articulate it because the conversation still didn’t seem to exist at that age. How do you perceive the situation for queer kids in our society today? What do you hear from people who get in touch with you?

Fred:
When I released the first two songs, before Disguise, it wasn’t obvious what I’m talking about. And to be honest, I also didn’t want to explain…

Jonas:
You don’t have to explain anything either.

Fred:
I know. My sexuality isn’t my whole life. There are so many different parts of me that define who I am as an artist. But then the moment came, with Disguise, when I thought that telling my story was kind of important. I started to talk about my life and to explain what the song was about, which also changed the perspective of my past songs, I think.
The people’s reactions were just overwhelming. I’ve received so many messages from people saying, “You’ve put into words how I’m feeling”, “You express something I didn’t know how to express”, or just “Thank you for sharing this story”. When that comes from someone older than me, it’s particularly touching. I’m in a place right now where it’s okay to be gay. Many older people weren’t allowed to experience that in their youth.

»I’m aware that just because I’m personally doing well, it doesn’t mean that all queer kids are in a good situation.«

Jonas:
Many teenagers today are still not allowed to do that.

Fred:
Right, especially those who live in smaller towns or villages and not in big, diverse cities. I’m aware that just because I’m personally doing well, it doesn’t mean that all queer kids are in a good situation. It’s often quite the opposite. Many of them are going through a lot of shit right now, especially when I think of trans kids in the UK these days. Listening to their stories is heartbreaking for me because they are still subject to a lot of stigma. But at the same time, knowing that I’m able to connect with them through my music is more than heartwarming. I never had a same-age role model when I was growing up, and it didn’t feel okay to be gay until I came across Troye Sivan. If there’s even one teenager I can do something similar for or give a voice to, that would be also magical and make me happy.

»In environments where someone might have something against gay people, I tend to hold back from shouting it out.«

Jonas:
Interestingly, there isn’t just one coming-out for queer people. Rather, it is an ongoing process with many coming-outs almost every day. For example, telling you in a question a few minutes ago that I grew up as a gay kid was a conscious decision to come out to you.

Fred:
I totally agree. I’ve been in a few writing sessions where I met some people I haven’t worked with before. This is just a very small thing to tell, but when they were suggesting lyrics including the word “her”, I had to say: “Oh, sorry guys, I can’t sing that, I’m gay.” But sometimes I don’t say it and just change the lyric, you know? This is also a conscious decision in favour of or against coming out—because when you’re in a room with other people, you can’t just leave. (laughs)
But seriously—it still doesn’t feel natural at all having to announce your sexual preference in front of other people. It’s such a weird thing. But at the same time, it’s very important, because it adds context and it allows other people to understand you better. But it remains a conscious decision. And in environments where someone might have something against gay people, I tend to hold back from shouting it out. In an ideal world, everyone would get along with everyone else and it would be okay for us all to love each other.

»In our society, talking about their emotions is still not a thing for men.«

Jonas:
Four years ago I had the chance to talk with your colleague Sam Fender about his song Dead Boys. He said: “We still think it’s bullshit for boys to cry. We still try to emasculate them by saying, ‚Don’t be a fag‘ or ‚Don’t be a little girl‘, and simultaneously we accuse others of being sexist. Isn’t that ridiculous? I spent an entire life around that kind of bullshit bravado that people haven’t got rid of.” Is that still the case, in your experience?

Fred:
Dead Boys is a very sad song because it deals with the high suicide rate among young men in the UK. However, when it comes to my personal experience with toxic masculinity, the saying “Men don’t cry” is one that I’m very familiar with. I went to an all-boys school and for a lot of the time that I was there, it was a progressive school. Nevertheless, through my teenage years, I masked certain elements: my behaviour, for example, or the way I dressed. I just wanted to fit in. And even though I was in this progressive place, I personally experienced that that language still exists and that boys aren’t used to talking about their emotions with each other. In our society, this is still not a thing for men, and it seems to have been buried in them for generations.

»Troye Sivan’s achievement is to push the boundaries of what is usually thought of as a male pop star.«

Jonas:
I’d like to come back to Troye Sivan and Ryan Beatty, because they both play artistically with the topic of toxic masculinity: Troye in his video for the song Rush, Ryan in his album artwork, which is designed around the photography by Peter de Potter. Would you say that an artistic approach is the only way to change something when it comes to that outdated idea of being a real man?

Fred:
I don’t think it’s the only way but it’s one of the possible ways. Troye Sivan, for example, is pushing the boundaries on what a male pop figure can wear. When I was growing up, the idea of a male pop star was pretty clear. And today, the image you have in your head when you picture Shawn Mendes or Justin Bieber is a cool guy wearing hoodie and trousers and singing songs…

Jonas:
… nothing against comfy hoodies!

Fred: (laughs)
No, no, of course not, I like wearing hoodies myself. By the way, that’s another stigma: that all gay kids like flamboyant clothes. But Troye Sivan’s achievement is to push the boundaries of what is usually thought of as a male pop star. He’s stepping outside of the male stereotype and the role ascribed to male musicians. The same goes for Ryan Beatty’s album artwork. I think what they do is really important because their message is: “Don’t be afraid!” When someone sees artists like them talking openly and being vulnerable, they might also find the courage to do so personally—maybe even if they’re a straight man.

»My artistic vision is much more than writing self-help songs.«

Jonas:
I found the following quote from you: “I write songs with the specific intent of helping someone who is going through the same experience.” Do you sometimes feel a certain responsibility that comes with such a promise?

Fred: (ponders for a moment)
I’m still very early on in making music and plan to do this for a long time, but according to the messages I get, it seems that I’ve already impacted some people’s lives. But I don’t know if I feel a special responsibility here, because that’s exactly why I make music: I want to help people. But that’s not the only reason: I also just want to play concerts and get people dancing. Sure, I’m still telling my personal stories with the songs, and when someone can connect with that, it’s brilliant. But if someone just likes the sound and the energy of my music, that’s just as good. My artistic vision is much more than writing self-help songs.

»When I put that in my headphones, it feels like everything’s good.«

Jonas:
From my point of view, there is almost nothing more intimate than entrusting another person with the music in which you find your own emotional refuge. Is there a song or a band that you only recommend to someone if you really like them?

Fred:
Black Friday by Tom Odell, which I have already mentioned, is perhaps a little too melancholy. That’s why I recommend another song that you certainly haven’t heard of in Germany. It’s called Dakota by Stereophonics, a song that has been massive in the UK. I played it in a really slow version at my first live show and it’s also the song I usually listen to before playing a show. It’s like a warm-up: I put on my headphones, go to a private room, and just jump around.
The message in it is actually really sad. It’s about not understanding what the hell happened with a relationship. But it resolves and the song ends with countless repetitions of the line, “Take a look at me now.” It’s just euphoric, in a sense. When I put that in my headphones, it feels like everything’s good—at least for the moment.


phlwest

Interview — phlwest

»Bei mir entsteht ein Song selten aus dem Affekt heraus«

Philip Wester alias phlwest besticht nicht nur musikalisch mit einer unverwechselbaren Handschrift. Auch visuell setzt der 28-jährige Singer-Songwriter und Produzent immer wieder ein Ausrufezeichen, nutzt er doch seine ganz eigene queere Lebenswelt konsequent als ästhetisches Stilmittel. Ein Interview über absurde Männlichkeitsbilder, Musik als Kondensat komplexer Gefühlswelten und die Erkenntnis, kein Ed Sheeran 2.0 mit der Akustikgitarre sein zu wollen.

21. März 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Stefan Hobmaier

Es ist ein Bild, das jede*r kennt: Wenn im Hochsommer die Temperaturen einen gewissen Punkt erreichen, sieht es oft so aus, als würden die Straßen anfangen zu flimmern. Eine optische Täuschung, die darauf zurückzuführen ist, dass die Sonne den Asphalt so stark erhitzt, dass er die Luftmassen unmittelbar darüber zusätzlich erwärmt und nach oben steigen lässt.

Klar, der Hochsommer ist aktuell noch sehr weit weg. Dennoch haben wir das Bedürfnis, gerade jetzt und an dieser Stelle dieses Bild zu bemühen. Schließlich gibt kaum ein besseres, um zu beschreiben, wie sich die Musik von Philip Wester alias phlwest anhört.

Wer das nicht glauben mag, dem sei zum Beispiel „Somebody Sun“ ans Herz gelegt. Der Song, den phlwest Ende Juli 2023 – also in der Mitte des letzten Hochsommers – veröffentlicht hat, ist zwar nur knapp zweieinhalb Minuten lang. Gleichzeitig verkörpert dieser Track alles, wofür der 28-jährige Kölner musikalisch steht: komplexe elektronische Klangteppiche, die energetisch vor sich hin wabern; eingängige und prägnante Melodien, in denen immer auch eine gewisse Grundmelancholie mitschwingt; und eine Gesangsstimme, die Philip wie ein zusätzliches Instrument einsetzt und mal mehr, mal weniger verständlich mit dem darunter liegenden Klangteppich verwebt.

Sich mit dem Werk von phlwest auseinanderzusetzen, ist aber nicht nur aus musikalischer Perspektive spannend. Denn auch mit seinem visuellen Auftritt setzt Philip ein kaum zu übersehendes Ausrufezeichen. Immerhin gelingt ihm nichts Geringeres, als die queere Lebenswelt, in der er sich ganz und gar zu Hause fühlt, zu einem ästhetischen Stilmittel zu transformieren – und das mit einer Konsequenz und Selbstverständlichkeit, wie man sie sonst eher von Musikbusiness-Größen wie Troye Sivan oder Lil Nas X kennt. Doch auch dieser Vergleich hinkt ein wenig, denn der visuelle Auftritt von phlwest sieht in erster Linie aus wie der von phlwest. Und der strahlt vor allem eines aus: Pride.

Wenige Wochen vor der Veröffentlichung seiner ersten EP treffen wir Philip, der von seinem Freund Marius begleitet wird, zum Interview und Portrait-Shooting im Studio von Fotograf Stefan Hobmaier. Draußen war es zwar noch grau und eisig, aber zumindest in Stefans Set konnten wir schon ein paar Sonnenstrahlen simulieren.

I’m looking straight at the sun man /
That’s somebody sun, somebody’s son /
That boy is a gun /
His love is a gun /

»Im Gegensatz zu Peter Fox beschreibe ich den Moment nicht explizit.«

MYP Magazine:
Philip, Du hast Anfang Januar Deine EP „Together“ veröffentlicht, die man mit ihren sieben Tracks fast schon als Album bezeichnen könnte. Was steckt dahinter?

phlwest:
„Together“ ist Teil eines Duos und wird im Laufe des Jahres in einer zweiten EP fortgesetzt. Die Songs der beiden Platten beschäftigen sich mit einem ganz bestimmten Moment, den wahrscheinlich jeder Mensch kennt, der die Nacht durchgefeiert hat und gerade aus dem Club kommt: Man befindet sich in einem Zwischenraum zwischen „Ich will jetzt noch auf einer Afterparty weiterfeiern“ und „Ich möchte Intimität mit einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort haben“…

MYP Magazine:
… also jener Peter-Fox-Moment, in dem die Nacht von „schwarz zu blau“ wird.

phlwest:
Nicht ganz. Im Gegensatz zu Peter Fox beschreibe ich in den Lyrics den Moment nicht explizit. Es geht eher darum, die Gefühle greifbar zu machen, die man in der Situation empfindet. Daher ist die EP auch eine Mischung aus langsamen und schnelleren Songs, die aber alle einen gewissen Techno-Einfluss haben – womit ich die zurückliegende Nacht ein bisschen in die Erinnerung zurückhole.

»Mir wurde schnell klar, dass ich kein Ed Sheeran 2.0 mit der Akustikgitarre sein will.«

MYP Magazine:
Dir ist in den letzten Jahren etwas gelungen, wovon viele Deiner Kolleg*innen nur träumen: Du hast einen eigenständigen und unverwechselbaren Sound geschaffen. Wie ist dieser musikalische Fingerabdruck entstanden?

phlwest:
Die Idee, wie ich klingen möchte, war eigentlich schon immer da – es hat nur sehr lange gedauert, sie aus meinem Kopf in die Realität zu übersetzen.
Ich habe mit sechs Jahren angefangen Klavier zu spielen, mit 13 kam die Gitarre dazu und irgendwann habe ich mich an ersten eigenen Songs versucht. Dabei wurde mir schnell klar, dass ich kein Ed Sheeran 2.0 mit der Akustikgitarre sein will. Ich war vielmehr interessiert an elektronischer Musik, an Alternative Pop und R’n’B. Also habe ich angefangen, mir das Produzieren beizubringen, ganz selfmade über YouTube. So sind nach und nach Songs entstanden, mit denen ich dieser musikalischen Idee immer nähergekommen bin. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert: Ich mache immer noch alles selbst, vom Songwriting über das Recording bis zum Mixing – und alles immer noch in dem kleinen Studio bei mir zu Hause. (lächelt)

»Mir ist der Klang meiner Stimme viel wichtiger als der Anspruch, am Ende jedes einzelne Wort verstehen zu können.«

MYP Magazine:
Bei Dir wirkt die Stimme immer wie ein zusätzliches Instrument, das Du eng mit dem musikalischen Part verwebst. So entsteht ein in sich geschlossener Klangteppich, bei dem die Texte mal besser und mal schlechter zu verstehen sind. Willst Du die Lyrics bewusst verschleiern?

phlwest:
Ganz ehrlich: Ich war vor allem in den ersten Jahren sehr unzufrieden mit dem Klang meiner Stimme. Ich glaube, das ist überhaupt bei vielen Menschen so. Man nimmt sich auf und denkt: Wow, herzlichen Glückwunsch.
Aber das ist nicht der Grund, warum ich diesen Stil entwickelt habe. Ich liebe einfach Songs, die mit vielen Synthesizern gemacht sind; Songs, die in die Breite gehen und eine spannende Soundlandschaft erzeugen, über der aber eine relativ klare, deutlich erkennbare Stimme liegt. Mir ist der Klang meiner Stimme viel wichtiger als der Anspruch, am Ende jedes einzelne Wort verstehen zu können. Ich wurde auch schon öfter darauf hingewiesen, dass man bei mir nie alle Textelemente verstehen kann. Daher habe ich sämtliche Lyrics auf meine Website gepackt – dort kann man alles Wort für Wort nachlesen. (lächelt)

»Meine Musik erzählt keine Geschichte, der man einfach folgen kann und zu der man eine Analogie im realen Leben findet.«

MYP Magazine:
Wenn man Deinen Sound visuell beschreiben müsste, könnte man ihn mit dem Flimmern von Straßenasphalt an heißen Sommertagen vergleichen – als ginge es darum, diesen wabernden Moment in Musik zu übersetzen…

phlwest:
… und genau das war und ist meine Intention! Ich bin nicht daran interessiert, eine Story zu spinnen, die sich von A über B nach C entwickelt. Meine Musik erzählt keine Geschichte, der man einfach folgen kann und zu der man eine Analogie im realen Leben findet. Mir geht es um die reine Emotion. Dabei versuche ich, die Songs wie eine Collage aus mehreren Gefühlsmomenten zusammenzubauen – und das sowohl lyrisch, musikalisch als auch produktionell. Ich habe immer das Ziel, etwas zu kreieren, das cinematic klingt: einen Sound, der alles ein bisschen offen lässt und zu dem man seine ganz eigenen Assoziationen entwickeln kann.

»Die in der Musikwelt weit verbreitete Idee, einen Hit innerhalb eines Tages geschrieben zu haben, funktioniert für mich nicht.«

MYP Magazine:
Das heißt, Du planst einen Song wie am Reißbrett, wo Du verschiedene Bausteine zusammenfügst?

phlwest:
Bei mir entsteht ein Song selten aus dem Affekt heraus. Ich weiß, dass viele andere dafür einen emotionalen Trigger brauchen: etwa eine Situation, in der es ihnen richtig dreckig geht. Nur damit können sie dieses Gefühl musikalisch kanalisieren. Mir persönlich hilft das aber überhaupt nicht. Mir geht es viel eher darum, dieses Gefühl selbst zu bauen. Daher versuche ich, verschiedene Momente und Emotionen musikalisch zusammenzubringen und daraus etwas Neues entstehen zu lassen. Ist das vergleichbar mit der Arbeit am Reißbrett? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es ein sehr langwieriger und technisch anspruchsvoller Prozess.
Davon abgesehen habe ich den Anspruch, in einen Song eine Vielzahl von Perspektiven einzubringen, die sich mir oft erst über einen längeren Zeitraum eröffnen. Diese in der Musikwelt weit verbreitete Idee, einen Hit innerhalb eines Tages zu schreiben, funktioniert für mich nicht. Keine Chance. Bei mir braucht ein Song eher acht, neun oder auch mal zehn Monate, bis er fertig ist.

MYP Magazine:
Was genau meinst Du mit jener Vielzahl von Perspektiven, die bei Dir in das Songwriting mit einfließen? Sind das persönliche Gefühlslagen, Beobachtungen, Begegnungen oder Dialoge?

phlwest:
Das möchte ich gar nicht eingrenzen. Im Prinzip handelt es sich dabei um alles, was ich um mich herum wahrnehme – und das kann wirklich alles sein: von Kunst über bestimmte Geschichten von Freunden bis zu eigenen emotionalen Momentaufnahmen.

»Meine Songs behandeln so gut wie immer die Beziehung zwischen zwei Personen, das ist der inhaltliche Grundbaustein von phlwest.«

MYP Magazine:
Apropos emotionale Momentaufnahmen: In Deinen Visuals und Musikvideos ist immer wieder zu sehen, wie Du deine Kopfhörer an eine andere Person weiterreichst, genauer gesagt an Deinen Freund Marius. Welche Bedeutung hat diese fast intime Geste für Dich?

phlwest:
Die Geste repräsentiert eigentlich alles, wofür ich als Musiker stehe: Meine Songs behandeln so gut wie immer die Liebe oder zumindest die Beziehung zwischen zwei Personen – das ist der inhaltliche Grundbaustein von phlwest. Über den musikalischen Part versuche ich dann, die Gefühle zwischen diesen beiden Menschen für die Hörer*innen in irgendeiner Form greifbar zu machen. Und das Bild der Kopfhörer ist ein schönes Symbol dafür, wie ich versuche, das von mir Wahrgenommene und in einem Song Verarbeitete an andere Menschen weiterzugeben.

»Gerade in der schwulen Welt hat man oft das Gefühl, dass Menschen sehr schnell ersetzbar sind.«

MYP Magazine:
Im Refrain des Songs „Somebody Sun“ heißt es: „I’m looking straight at the sun man / That’s somebody sun, somebody’s son“ Hast Du dich hier mit einer Vater-Sohn-Beziehung auseinandergesetzt?

phlwest: (lächelt)
Nein, zumindest nicht explizit. Mir hat dieses Wortspiel einfach gefallen. Ohnehin entstehen solche Zeilen bei mir eher spontan. Oft ist es so, dass mir in meinem Alltag etwas in den Kopf schießt und ich den Gedanken in meinem Notizbuch festhalte. Später im Songwriting greife ich dann auf die Textelemente zurück, die ich im Laufe der Zeit so gesammelt habe. Bei „Somebody Sun“ zum Beispiel habe ich einfach mit den Begriffen „Sonne“ und „Sohn“ weitergearbeitet – und so ist nach und nach der Song entstanden.

MYP Magazine:
Dennoch ist dieses Wortspiel ein besonderes, denn es erinnert daran, dass jeder Mensch auch immer der Sohn oder die Tochter von jemandem ist. Das ist ein Umstand, der vor allem in urbanen queeren Bubbles – in denen es oft um Anonymität und schnellen Konsum von Körpern geht – gerne verdrängt wird…

phlwest:
Absolut. Gerade in der schwulen Welt hat man oft das Gefühl, dass Menschen sehr schnell ersetzbar sind und ihr „Wert“ in erster Linie anhand ihrer körperlichen Attribute bemessen wird. Hook-ups und schnelle Bekanntschaften verfliegen so schnell, wie sie gekommen sind, und am Ende ist da nichts, was bleibt. Gleichzeitig hat diese Welt aber auch ihren Reiz – und ihre Berechtigung.
Ich persönlich mag es sehr, mit diesen Gegensätzen zu spielen, auch weil ich mich selbst darin bewege. Einerseits bin ich total interessiert an schnellem Sex und Intimität, gleichzeitig weiß ich aber auch aus eigener Erfahrung, wie wertvoll eine echte emotionale Verbindung zwischen zwei Menschen ist.

»Mir ist erst sehr spät in meinem Leben aufgefallen, dass ich anders bin.«

MYP Magazine:
Im letzten Jahr durften wir ein sehr ausführliches Interview mit Christian Ruess führen, dem Gründer der queeren Plattform „Container Love“. In unserem Gespräch ging es unter anderem um die Generation queerer Millennials, deren Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene oft mit großen Traumata verbunden ist. Viele von ihnen haben irgendwann einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit gezogen, haben mit ihrem Elternhaus und ihrer Heimat gebrochen und haben sich irgendwo anders ein gänzlich neues Leben aufgebaut. Dort sind sie heute eher „nobody’s son“ statt „somebody’s son“. Welche Erfahrungen hast Du persönlich auf Deinem Weg gemacht?

phlwest:
Mir ist erst sehr spät in meinem Leben aufgefallen, dass ich anders bin – viel später übrigens als den Menschen um mich herum. (lacht)
Aber im Ernst: Ich konnte erst mit 17 oder 18 für mich präzise formulieren, dass ich schwul bin. Das hatte auch einen Vorteil: Während andere vielleicht schon mit 13, 14 durch diese ganze Thematik gegangen sind, war ich an dem Punkt schon mehr oder weniger erwachsen und emotional gefestigter. Gleichzeitig war meine Sexualität für mein Umfeld auch nie ein Problem. Klar, in meiner Familie war es anfangs etwas komisch. Aber das hat sich sehr schnell gelegt.

»Ich glaube, dass ich andere queere Menschen ermutigen kann, mehr zu der Welt zu stehen, in der sie sich bewegen und wohlfühlen.«

MYP Magazine:
Die visuelle Identität, die Du um deine Musik herum erschaffen hast, ist sehr stark von einer modernen schwulen Ästhetik geprägt. Interessant ist dabei vor allem die Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit der Du diese für Dich in Anspruch nimmst – als hätte es in Deinem Leben nie etwas anderes gegeben. War das für Dich der einzige logische Schritt nach dem Outing?

phlwest:
Ich habe schon immer die Idee gehabt, schwules Leben so zu zeigen, wie es ist – zumindest mein schwules Leben. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass mir immer wieder aufgefallen ist, wie wenig dieser konkrete Lifestyle bei anderen queeren Künstler*innen stattfindet. Dabei gibt es viele, die genau diesen Style leben und lieben. Natürlich ist auf Instagram selten etwas genauso wie in der Realität, daher muss man auch meine Visuals in erster Linie als eine Art Fantasie verstehen. Dennoch glaube ich, dass ich damit anderen queeren Menschen auch ein paar Impulse geben und sie ermutigen kann, mehr zu der Welt zu stehen, in der sie sich bewegen und wohlfühlen. Das ist etwas, was mir mit der Zeit immer wichtiger geworden ist.

»Ich habe schnell gelernt, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sich zurückzuhalten – zumindest nicht auf Social Media.«

MYP Magazine:
Besteht für Dich nicht auch die Gefahr, dass Deine visuelle Identität die musikalische irgendwann überlagern könnte – und dass Dir die Menschen eher wegen Deiner Fotos und Videos folgen und weniger wegen der Songs?

phlwest:
Wenn man auf Social Media unterwegs ist, ist das definitiv eine Frage, die man sich stellen muss – und über die ich selbst auch schon viel nachgedacht habe. Folgen mir die Leute wegen der Musik? Folgen sie mir, weil ich zeige, was schwules Leben beinhaltet? Folgen sie mir vielleicht aus ganz anderen Gründen? Es gab mal eine Zeit, da habe ich versucht, mich visuell ein bisschen zurückzuhalten und dafür noch stärker die Musik zu pushen. Aber ich habe schnell gelernt, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sich zurückzuhalten – zumindest nicht auf Social Media.
Mittlerweile bin ich auf dem Standpunkt: Die Leute dürfen mir folgen, aus welchen Gründen auch immer. Meine Hoffnung ist nur, dass sie für sich irgendetwas aus dem herausziehen können, was ich tue. Und wenn das „nur“ die Musik ist, super! Wenn das eher das Visuelle ist, ist das auch okay.

»Es geht nicht einfach nur um eine visuelle Ästhetik, sondern vor allem um einen Lebensstil.«

MYP Magazine:
Kannst Du dir vorstellen, Deinen visuellen Auftritt auch mal komplett zu verändern?

phlwest:
Auf jeden Fall! Das ist in der Musikwelt ja auch nichts Ungewöhnliches. Es gibt viele Künstler*innen, die ihre visuelle Ästhetik mit jedem neuen Album komplett über den Haufen werfen. So etwas finde ich auch für mich nicht uninteressant.
Dennoch habe ich das Gefühl, dass ich mich immer mehr oder weniger in der visuellen Welt bewegen werde, die ich auch in den letzten Jahren erschaffen habe. Denn hier geht es nicht einfach nur um eine visuelle Ästhetik, sondern vor allem um einen Lebensstil – um meinen Lebensstil. Und es geht um meine Sexualität, um das Schwulsein. Das ist einfach ein Fakt, den ich nicht einfach aus der Luft greife. Das soll aber nicht heißen, dass ich mich visuell nicht weiterentwickeln will, ganz im Gegenteil.

»Ich mag es, wenn ich bestimmte Männlichkeitsbilder ad absurdum führen kann.«

MYP Magazine:
In der visuellen Welt, die Du um Deine Musik erschaffen hast, wirkst Du immer ein wenig hart, ernst und melancholisch – ganz im Gegensatz übrigens zu dem Eindruck, den man von Dir hat, wenn man Dich persönlich trifft…

phlwest: (lächelt)
Ich weiß, was Du meinst. Ich mag es einfach, einen Kontrast herzustellen zwischen dem, wie ich im Privaten wirke, und meinem Bild in der Öffentlichkeit – vor allem, wenn dieses Bild in der schwulen Lebenswelt stattfindet und ich damit bestimmte Männlichkeitsbilder ad absurdum führen kann, wie zum Beispiel diese Idee von Härte und Ernsthaftigkeit.

MYP Magazine:
Hast Du für Dich persönlich eine Definition von Männlichkeit?

phlwest:
Darauf habe ich keine gute Antwort. Männlichkeit heißt für mich in erster Linie, ein Mann zu sein – ohne dass ich das mit einem bestimmten Aussehen oder Auftreten verbinden würde. Mir geht es dabei eigentlich nur um Attraktivität, privat wie in meiner Musik. Ich freue mich, wenn die Leute denken: „Oh, das ist aber interessant, sieht cool aus und hört sich gut an, was dieser Typ so macht.“ Dabei denke ich über so etwas wie Männlichkeit gar nicht nach.


Marius Nitzbon

Interview — Marius Nitzbon

»Die Leute wollen Musik hören, die von einem menschlichen Wesen gemacht wird«

Mit seinen gefühlvollen und präzisen Klangwelten erschafft Marius Nitzbon eine Musik, die tief in unsere Seele greift. Dabei bewegt sich der 23-jährige Komponist und Pianist nicht nur virtuos zwischen Intimität und Lebendigkeit. Er verknüpft auch immer wieder klassische mit elektronischen Elementen – und manchmal sogar mit etwas Vogelgezwitscher. Ein Gespräch über Trost als Antrieb, einen engagierten Musiklehrer und die Frage, ob man für den Algorithmus einer Maschine Empathie empfinden kann.

11. Februar 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Maximilian König

Wir wagen mal eine These: Es gibt auf der Welt kaum etwas Intimeres, als einem anderen Menschen Musik zu empfehlen. Nein, wir meinen damit nicht jenes inflationäre Hinausgeballere von Spotify-Jahresrückblicken auf Instagram und Co. Sondern die wohlüberlegte Entscheidung, einen bestimmten Song oder gar ein Album, von dem die eigene Seele tief ergriffen ist, einer anderen Person liebevoll ans Herz zu legen. Wie zum Beispiel „Little Human“ von Marius Nitzbon.

Mit diesem Album hat der 23-jährige Neoklassik-Künstler bereits im Juni letzten Jahres ein so wundervolles und wahrhaftiges Stück Musik in die Welt geworfen, dass wir gar nicht anders können, als Euch diese Platte zu empfehlen. In insgesamt elf Tracks nimmt uns Marius mit auf eine verträumt-melancholische Reise, die beim eher reduzierten Piano-Stück „B Town is Awakening“ beginnt und bei „Dyn“ endet – einem überaus markanten Track, der mit pointierten Elektronik-Elementen einen dystopisch wabernden Klangteppich erzeugt. Ganz so, als wäre er Teil eines Films wie „Blade Runner 2049“.

Dabei ist „Little Human“ bereits das zweite Album des jungen Komponisten und Pianisten, der in Bergedorf aufgewachsen ist und aktuell an der Uni Münster Musikproduktion studiert. Schon 2018 erschien mit „Colours for the Blind“ sein Debütalbum, auf dem er seine ersten öffentlichen Gehversuche bei der Kombination klassischer und elektronischer Elemente machte.

Aktuell arbeitet er an einem weiteren Album, das den verheißungsvollen Titel „Birds Are My Friends“ trägt. Für das Recording dieser Platte, die Mitte 2024 erscheinen soll, reiste Marius Ende Mai ins lettische Kuldīga. Zehn Tage lang hatte er sich dort im Studio des berühmten Klavierbauers David Klavins eingemietet, um seine neuen Songs auf dessen „Una Corda“ aufzunehmen – ein von Klavins und Nils Frahm entwickeltes Piano, das über nur eine Saite pro Ton verfügt und einen ganz besonderen Klang hat.

Die insgesamt 13 Tracks sind von gefühlvollen Melodien und Stimmungen getragen, die sich in ausbrechende Dynamiken weiterentwickeln. Dabei steht das zarte Klavierspiel immer wieder in Kontrast zur eher exzentrischen Virtuosität, wodurch Marius – ähnlich wie auf „Little Human“ – ein faszinierendes Spannungsfeld schafft. Dabei kreiert nicht nur das Klacken der Pianomechanik eine unverwechselbar lebendige und intime Atmosphäre – sondern auch der Gesang der Vögel, der ab und zu von draußen in den Saal eindringt.

Vor einigen Wochen haben wir Marius Nitzbon in Berlin zum Interview und Photoshoot getroffen. Dabei sind wir nicht darum herumgekommen, hier und da auch über Spotify zu sprechen. Es hat ja manchmal auch sein Gutes, hätte jemand wie Loriot dazu gesagt.

»Ich bin ein Mensch, der sehr viel in seinen Gedanken lebt.«

MYP Magazine:
Eine Deiner eigenen Spotify-Playlists trägt den Untertitel „Nostalgic longing in its most positive form.“ Was reizt Dich so an dem, was längst vergangen ist?

Marius Nitzbon:
Ich bin ein Mensch, der sehr viel in seinen Gedanken lebt. Oft entsteht dabei auch jene nostalgische Sehnsucht. Das hat nicht selten mit der Musik zu tun, die ich gerne höre – und die in der Playlist liegt mir ganz besonders am Herzen. Ich schätze, daher geht es auch in meinen eigenen Tracks immer wieder um Nostalgie, sei es in meinen Klavierstücken oder in den elektronischen Produktionen. Dabei habe ich Bilder einer Zeit vor Augen, die längst vergangen ist – und die ich selbst oft gar nicht erlebt habe.

»Meine Hoffnung war, der Familie ein kleines bisschen Halt zu geben in der schweren Zeit.«

MYP Magazine:
Eines Deiner meistgehörten Stücke ist der Song „Little Human“ aus dem gleichnamigen Album. Wie ist dieses Lied entstanden?

Marius Nitzbon:
Als ich mit 16 ein halbes Jahr auf Schüleraustausch in Kanada war, habe ich zwei Brüder kennengelernt, die ich sehr, sehr mochte. Wir haben wahnsinnig viel Zeit miteinander verbracht und waren nach meinem Kanada-Halbjahr sogar noch zusammen im Spanienurlaub. Wenige Monate später hat sich einer der Brüder das Leben genommen… sein Name war Chris. Als ich davon erfahren habe, hatte ich das tiefe Bedürfnis, für die Familie einen Song zu schreiben. Meine Hoffnung war, ihr damit ein kleines bisschen Halt zu geben in der schweren Zeit. Und so habe ich zuhause auf meinem Klavier den Song „For Chris“ aufgenommen und ihn 2020 veröffentlicht.
Leider war ich mit der Recording-Qualität überhaupt nicht glücklich. Mein Klavier klingt sehr gewöhnungsbedürftig, es macht im Hintergrund ständig irgendwelche Klack-Geräusche, daher war diese Aufnahme irgendwie nicht genug, wie ich dachte. Aber dann hatte ich den passenden Einfall: Ich wollte den Track in meiner Schule aufnehmen, denn dort gibt es einen ziemlich großen und toll klingenden Flügel. Da wir alle gerade mitten im Lockdown steckten, war die Schule absolut menschenleer, und so konnte ich dort in aller Ruhe recorden.

MYP Magazine:
Und wie ist daraus in der Folge Dein zweites Album entstanden?

Marius Nitzbon:
Auch wenn es ursprünglich nur mein Ziel war, „For Chris“ in einer besseren Qualität aufzunehmen, haben sich aus diesem einen Stück plötzlich immer weitere ergeben – alle aus dem bloßen Versuch heraus, dieses eine Stück schöner klingen zu lassen. Eine der ersten Variationen von „For Chris“ sollte „Little Human“ heißen. Am Ende hatte ich ein ganzes Album in der Hand, das ich ebenfalls „Little Human“ getauft habe… Ich glaube, der Titel ist ein bisschen selbsterklärend. Chris war 15 Jahre alt.

»Niemand aus dem Publikum kannte die tatsächliche Story hinter dem Album. So konnten alle zu meiner Musik ihre ganz eigene Geschichte entwickeln.«

MYP Magazine:
Interessanterweise hört sich das Album nicht wie ein Zufallsprodukt an, sondern wie etwas, in das sehr viel Konzeptarbeit geflossen ist: einerseits, weil es so eine emotionale Tiefe hat; andererseits, weil es im Kopf einen fiktionalen Plot erzeugt – ähnlich wie ein gutes Buch.

Marius Nitzbon: (lächelt)
Diese Assoziation höre ich immer wieder, zuletzt bei einem Festival in Hannover, auf dem ich gespielt habe – auch wenn ich den undankbarsten Slot überhaupt erhalten hatte: an einem Sonntagmittag um 13 Uhr. Um diese Zeit standen ganze zehn Leute vor der Bühne und ich dachte, dabei bleibt‘s. Aber dann kam immer mehr Laufpublikum, das stehengeblieben ist.
Nach dem Auftritt erzählten mir die Leute, dass sie bei meiner Musik die Augen geschlossen und irgendwelche Filme gesehen hätten. Für mich war das ein sehr besonderes Kompliment, denn niemand aus dem Publikum kannte die tatsächliche Story hinter dem Album. So konnten alle zu meiner Musik ihre ganz eigene Geschichte entwickeln. Das hat meine Intention am Ende völlig unwichtig gemacht – für mich war und ist das etwas Wunderschönes an der Musik ohne Text.

»Der Song gehört zu den vielen Dingen, mit denen sie versuchen, die Erinnerung an ihren Sohn hochzuhalten.«

MYP Magazine:
Hast Du Sorge, dass die Menschen das Album mit anderen Ohren hören, wenn sie wissen, welche Tragödie der Auslöser war?

Marius Nitzbon:
Definitiv – denn eigentlich will ich das nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt okay ist, öffentlich darüber zu sprechen. Daher habe ich im Vorfeld auch bei Chris‘ Familie nachgefragt…

MYP Magazine:
Und was war die Antwort?

Marius Nitzbon:
Dass ich die Geschichte auf jeden Fall erzählen soll – die von Chris genauso wie die der Entstehung des Songs. Sie haben mir gesagt, dass „Little Human“ zu den vielen Dingen gehört, mit denen sie versuchen, die Erinnerung an ihren Sohn hochzuhalten.

»Ich habe mich von dem Anspruch verabschiedet, dass das Album ein elektronisches Gesamtwerk sein muss.«

MYP Magazine:
Auch wenn das Album aus einem einzigen Song heraus entstanden ist, wirken die insgesamt elf Tracks sehr eigenständig und divers. Wie ist es Dir gelungen, Dich aus der Gefühlslage von „Little Human“ für die anderen zehn Songs zu lösen?

Marius Nitzbon:
Ich komme musikalisch stark von Nils Frahm, meinem großen Idol. Nils arbeitet in seiner Musik sehr viel mit Synthesizern, weshalb auch ich am Anfang versucht habe, eher elektronische Stücke aufzunehmen. Aber das ist eine ultrakomplexe Angelegenheit, mir ist es einfach nicht gelungen. „Dyn“, aber auch „Swell“ sind nichts anderes als die Überbleibsel aus elektronischen Tracks, bei denen ich am Ende nicht bereit war für diese enorme Komplexität an Soundelementen. Aus diesem Grund habe ich bei anderen Stücken immer öfter mal das Klavier sprechen lassen und mich von dem Anspruch verabschiedet, dass das Album ein elektronisches Gesamtwerk sein muss. Durch dieses Ausprobieren habe ich mich sukzessive von dem Gefühl gelöst, aus dem heraus „For Chris“ entstanden ist.

»Ich habe das Gefühl, dass man aus dem Klavier noch viel mehr herausholen kann, wenn man ein bisschen elektronisch denkt.«

MYP Magazine:
In Deiner Musik verbindest Du immer wieder klassische mit elektronischen Elementen – ein bisschen so, als würde man Erik Satie mit Kollektiv Turmstraße mischen. Was geben dir diese beiden musikalischen Welten?

Marius Nitzbon:
Ich finde klassische Musik superspannend, vor allem klassische Klaviermusik. Aber ich habe das Gefühl, dass man aus dem Klavier noch viel mehr rausholen kann, wenn man ein bisschen elektronisch denkt. Ein Beispiel: Ich sehe meine linke Handbegleitung oft als eine Art Synthesizer Pad. Um „Pad-mäßig“ zu spielen, versuche ich möglichst leise zu spielen, um dadurch weniger Obertöne aus den Saiten zu kitzeln. Dadurch haben die rechte Hand und ihre Melodien automatisch mehr Platz. Andersherum finde ich elektronische Musik erst dann besonders ansprechend, wenn darin akustische oder Live-Performance-Elemente stecken. Ich kann gar nicht anders, als diese beiden Welten immer zusammen zu denken.

»Das, was wirklich an einem zehrt, ist dieses stundenlange Aufnehmen.«

MYP Magazine:
Für dein kommendes Album „Birds Are My Friends“ bist du vor einigen Monaten für zehn Tage ins lettische Städtchen Kuldīga gereist, um dort auf dem „Una Corda“-Piano des Klavierbauers David Klavins Deine Songs aufzunehmen. Was genau ist das für ein Instrument?

Marius Nitzbon:
Das „Una Corda“ ist ein neuartiges Klavier, das David Klavins zusammen mit Nils Frahm entwickelt hat. Anders als normale Pianos hat es statt drei nur eine Saite pro Ton – auf Italienisch una corda. Für mich persönlich klingt dieses Instrument ein bisschen so wie ein E-Piano oder eine Harfe. Andere hören darin aber auch eine Gitarre – was natürlich Sinn macht, denn Gitarre und Harfe haben auch nur eine Saite pro Ton. Insgesamt hat das „Una Corda“ also einen ganz eigenem Klang, der ein bisschen klarer, heller und leichter ist als der eines normalen Pianos.

MYP Magazine:
Wie hast du die zehn Tage in Kuldīga empfunden?

Marius Nitzbon:
Das war mit die beste Zeit, die ich mit mir und meiner Musik verbracht habe! Aber auch die intensivste, weil ich nächtelang gespielt und aufgenommen habe. Man sagt ja, der nervigste Teil von sowas ist immer die Postproduktion. Aber das, was wirklich an einem zehrt, ist dieses stundenlange Aufnehmen. Man weiß: In zehn Tagen muss alles fertig sein, also arbeitet man extrem viel und schaut besonders selbstkritisch auf das, was man so fabriziert.

»Heutzutage kann Billie Eilish super leise in ihr Mikrofon singen und daraus wird ein Megahit. Und genauso super leise kann man auch Klaviermusik aufnehmen.«

MYP Magazine:
Du bist über Deinen ehemaligen Musiklehrer auf die Arbeit von Nils Frahm und David Klavins aufmerksam geworden. Welchen Einfluss hat dieser Lehrer auf Deinen persönlichen Werdegang?

Marius Nitzbon:
Einen riesigen! Ich erinnere mich noch gut daran, dass Herr Sieveking (schöne Grüße an der Stelle) mit uns mal in der 7. Klasse das Thema Minimal Music durchnahm. Dabei führte er uns auch an Künstler wie Philip Glass und Nils Frahm heran – und erzählte uns stolz, dass Nils Frahm auch mal Schüler auf unserer Schule in Bergedorf war. Verrückt, oder?
Als Herr Sieveking später mal von David Klavins und seinem „Una Corda“ berichtete, fand ich es richtig cool, wie jemand, der eigentlich ein klassischer Klavierbauer ist, einfach mal die Regeln bricht. Immerhin sind die Patente für Pianos um die 150 Jahre alt und haben sich nie geändert. Klaviere werden seit jeher nach dem gleichen Prinzip gebaut, sprich mit drei Saiten pro Ton. Die sind dazu da, um das Instrument möglichst laut klingen zu lassen, denn damals gab es noch keinen Verstärker. Heutzutage kann Billie Eilish super leise in ihr Mikrofon singen und daraus wird ein Megahit. Und genauso super leise kann man auch Klaviermusik aufnehmen, denn mittlerweile ist man nicht mehr angewiesen auf physische Gegebenheiten wie etwa eine Mindestlautstärke, da man eh alles elektronisch verstärkt – egal ob bei Konzerten oder auf unseren Kopfhörern. Diesem Zeitgeist ist auch David Klavins gefolgt und hat das Instrument völlig neu gedacht. Das finde ich nach wie vor extrem spannend.

»Ich habe meine Songs immer nur nachts aufgenommen, weil ich mir den regulären Tagestarif nicht leisten konnte.«

MYP Magazine:
Für Deine Aufnahme-Session in Lettland hast Du eigentlich absolute Stille gesucht – bekommen hast Du aber jede Menge Vogelgezwitscher…

Marius Nitzbon:
Stimmt. Das liegt daran, dass ich meine Songs immer nur nachts aufgenommen habe, weil ich mir den regulären Tagestarif nicht leisten konnte. Daher hat mir David Klavins erlaubt, sein Studio außerhalb der regulären Zeiten zu nutzen. Soll heißen: Sobald er und seine Kolleg*innen in der Pianowerkstatt Feierabend gemacht haben, konnte ich mit dem Recording anfangen. Das war meistens so gegen 19, 20 Uhr – und in den frühen Morgenstunden, nach acht, neun Stunden, sind dann die Vögel aufgewacht. Ganz am Anfang war das noch gegen vier Uhr morgens. Aber mit jedem weiteren Tag fing das Gezwitscher etwas früher an, weil es auch immer früher hell wurde. Am Ende konnte ich ziemlich genau vorhersagen, in wie vielen Minuten sich die ersten Vögel melden.

»In der Nachbearbeitung habe ich gemerkt, dass ich diesen atmosphärischen Vogelsound in gewisser Weise auch sehr schön finde.«

MYP Magazine:
War das für Dich nicht der absolute Albtraum? Immerhin hast Du für die Aufnahme doch Stille gebraucht…

Marius Nitzbon:
Am Anfang war das tatsächlich eher nervig. Doch in der Nachbearbeitung habe ich gemerkt, dass ich diesen atmosphärischen Vogelsound, der vor allem auf den Raum-Mikros liegt, in gewisser Weise auch sehr schön finde. Davon abgesehen bekommt man diese speziellen Geräusche in der Postproduktion nie ganz weg. Also habe ich sie einfach drin gelassen.

MYP Magazine:
Das heißt, der Albumtitel ist eine nachträgliche Geste der Versöhnung an die lettische Vogelwelt?

Marius Nitzbon: (lacht)
Das kann man so sagen, ja.

»Ich finde: Wenn man Musik zu glatt bügeln will, verliert sie ihre Magie.«

MYP Magazine:
Auch in der Vergangenheit hast Du in Deinen Stücken immer wieder mal mit mehr oder weniger subtilen Hintergrundgeräuschen gespielt. In Deinen „Forest Sessions“ etwa hast Du Naturgeräuschen eine sehr prominente Rolle gegeben. Was reizt Dich so an diesen nichtmusikalischen Elementen?

Marius Nitzbon:
Das Besondere daran ist, dass man beim Hören das Gefühl hat, an der Aufnahme zu partizipieren – als wäre man im selben Raum. Oder zumindest in demselben Ambiente. Das Gehirn scheint es zu schaffen, dass man diese Elemente nicht als Störgeräusche wahrnimmt, sondern als integralen Teil des Tracks. Das macht die Musik nach meinem Empfinden irgendwie nahbarer und persönlicher. Bei den „Forest Sessions“ hätte ich es auch eher langweilig gefunden, wenn das Ganze im Studio aufgenommen worden wäre. Die zwitschernden Vögel waren da ein essenzieller Teil des Konzepts. Ich finde: Wenn man Musik zu glatt bügeln will, verliert sie ihre Magie.

»Auf einem Live-Konzert ist es doch irgendwie netter, wenn auf der Bühne ein bisschen performt wird und man sich zur Musik auch bewegen kann.«

MYP Magazine:
Die Tracks auf „Birds Are My Friend“ wirken im Vergleich zur aktuellen Platte wesentlich rhythmischer und treibender – und geradezu tanzbar. Oder anders gesagt: Wenn einem diese Musik auf dem Soundtrack von „Babylon Berlin“ begegnen würde, würde man sich nicht wundern. Ist „Birds Are My Friend“ der Versuch einer Kernschmelze aus Klassik und Elektronik?

Marius Nitzbon:
Ja, das kann ich zumindest aus heutiger Perspektive sagen. Denn über die letzten Jahre gab es immer öfter den Impuls in mir, Tracks zu kreieren, die auch ein bisschen reinkicken, wenn man sie live spielt…

MYP Magazine:
Um beispielsweise die Leute am Sonntagmittag auf einem Festival aufzuwecken…

Marius Nitzbon: (lächelt)
Genau! Mit solchen Stücken ist es live vor Publikum wesentlich einfacher für mich… Aber was heißt schon einfach? Ich komme ja immer noch mit recht schwerer Musik an, die eher introspektiv und träumerisch ist, zumindest im Vergleich zu dem, was sonst auf solchen Festivals gespielt wird.
Wenn die Leute zuhause auf der Couch sitzen, ihre Kopfhörer aufhaben und in dem entsprechenden Mindset sind, „funktioniert“ meine Musik total gut. In so einem Setting entscheidet man sich ja auch bewusst dafür. Aber auf einem Live-Konzert ist es doch irgendwie netter, wenn auf der Bühne ein bisschen performt wird und man sich zur Musik auch bewegen kann. Und das geben die neuen Stücke definitiv her. Ich wollte im Vorfeld unbedingt ein Album machen, mit dem ich mehr auf die Bühne kommen kann – und ich glaube, das ist mir gelungen.

»In nur sechs Wochen habe ich Popmusik von wirklich allen Seiten kennengelernt.«

MYP Magazine:
Mitte 2023 hast Du unter dem Namen „Neon Valis“ ein zweites musikalisches Projekt gestartet, mit dem Du dich hauptsächlich im Electronic Dream Pop bewegst. Wie kam es dazu? Und was gibt Dir „Neon Valis“, was Du in „Marius Nitzbon“ nicht findest?

Marius Nitzbon:
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich habe vor drei Jahren den Popkurs an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg belegt. Dieser Kurs ist ein sogenannter Kontaktstudiengang, bei dem jedes Jahr etwa 50 junge Musiker*innen in zwei Intensivkursen à drei Wochen gecoacht werden. Das Ganze findet immer im März und August statt, also in den Semesterferien. Für mich war das damals perfekt, da ich durch Empfehlungen von Teilnehmern schließlich zur Musikhochschule in Münster gefunden habe, wo ich immer noch studiere.

Wenn ich heute auf diesen Popkurs zurückblicke, muss ich sagen, dass das meine totale „Musik-Spielwiesen-Zeit“ war. Erstens, weil ich mich musikalisch austoben konnte wie noch nie zuvor in meinem Leben. Und zweitens, weil ich mit den absolut unterschiedlichsten Leuten spielen konnte – und manchmal auch musste. Denn bei uns im Kurs gab es nur drei Keyboarder. Und einer davon war ich. Wegen dieses akuten Keyboarder-Mangels durfte ich Jahr darauf erneut teilnehmen, wodurch ich unter anderem auch die Jungs meiner heutigen Band KARRERA kennengelernt habe. In diesen beiden Jahren habe ich über einen Zeitraum von insgesamt zwölf Wochen an unzähligen Sessions teilgenommen, Dutzende Konzerte gespielt und an über 50 Songs mitgewirkt. Auch wenn ich danach kurz vor dem Burnout war: Ich habe in dieser Zeit Popmusik von wirklich allen Seiten kennengelernt. Und ich bin auf vieles gestoßen, das ich mit „Marius Nitzbon“ künstlerisch nicht ausdrücken kann. All das versuche ich nun über „Neon Valis“ zu transportieren. Was genau das ist, kann ich aber selbst noch nicht in Worte fassen.

»Ich setze auf das Altbewährte: auf Künstler, bei denen ich weiß, dass es sich um echte Menschen mit einem musikalischen Anspruch handelt.«

MYP Magazine:
Im Mai hat die ARD eine Dokuserie mit dem Titel „Dirty Little Secrets“ veröffentlicht, die uns einen Blick hinter die Kulissen des schillernden Musikbusiness ermöglicht. Dabei geht es unter anderem um – teilweise von Spotify – bezahlte Fake-Interpret*innen, die in reichweitenstarken Playlists platziert werden. Wie blickst Du als Newcomer auf den Musikmarkt?

Marius Nitzbon:
Dieses Thema ist krass präsent in meinem Kopf. Ich selbst habe auch schon mehrere solcher Angebote erhalten – von irgendwelchen Leuten, die sich als Musiklabel ausgeben. Mittlerweile weiß ich, dass sich dahinter in der Regel Einzelpersonen verbergen, die mal ein paar tausend Euro in Playlist-Promotion gesteckt haben. Jetzt versprechen sie vollmundig, deine Musik zu pushen – gerne mit dem Hinweis, innerhalb von kürzester Zeit über eine Million Streams zu generieren.
Früher fand ich so etwas noch sehr verlockend, weil ich dachte, es könnte mir tatsächlich helfen, mich im Musikbusiness als glaubwürdigen Künstler zu etablieren. Aber dann musste ich mit Erschrecken feststellen, wie viele Leute sich in dem Bereich tummeln, die zehn Projekte gleichzeitig bedienen und den Markt mit Musik überschwemmen. Eine Musik, die teilweise so belanglos ist, dass ich selbst sie gar nicht hören will. Ich setze viel lieber auf das Altbewährte: auf Künstler wie Nils Frahm, Ólafur Arnalds oder Martin Kohlstedt, bei denen ich weiß, dass es sich um echte Menschen mit einem musikalischen Anspruch handelt; Menschen, die sich handwerklich und emotional wirklich mit dem auseinandersetzen, was sie tun.

»Man muss den Leuten zeigen: Ich bin ein echter Mensch.«

MYP Magazine:
Doch auch die Arbeit dieser großen Künstler gerät immer mehr in Gefahr. Denn für künstliche Intelligenzen ist es schon lange kein Problem mehr, eigene Songs zu schreiben. Und diese Fähigkeit wird von Tag zu Tag ein bisschen besser. Fühlst Du dich durch diese Entwicklung in Deiner Existenz bedroht? Oder positiv gefragt: Welchen Vorteil hast du nach wie vor als Mensch gegenüber der KI?

Marius Nitzbon:
Immer, wenn mir ein Argument dafür einfällt, denke ich im nächsten Moment, dass man auch das letztendlich programmieren kann. Daher glaube ich, dass es am Ende nur noch einen einzigen Vorteil geben wird: die Tatsache, dass die Musik von einem Mensch geschrieben wurde. Ich bin mir sicher, dass sich das nie ändern wird: Die Leute wollen Musik hören, die von einem menschlichen Wesen gemacht wird. Vielleicht nicht, wenn es sich um dudelige Hintergrundmusik im Supermarkt handelt. Aber immer dann, wenn man vor einer Bühne steht und sich zu dem bewegen will, was der Mensch da oben mit seiner Stimme und den Instrumenten erzeugt.

MYP Magazine:
Auch wenn es um 13 Uhr auf einem Festival ist.

Marius Nitzbon: (lacht)
Gerade dann! Sonst würde ja erst recht niemand kommen. Daher will ich mit dem neuen Album auch mehr auf die Bühne. Mir bleibt eh nichts anderes übrig. Wenn ich als Künstler bei meiner Klaviermusik bleiben will und mich weiterhin weigere, für zehn Spotify-Projekte gleichzeitig zu komponieren, muss ich konsequent den Weg der Live-Auftritte gehen. Man muss den Leuten zeigen: Ich bin ein echter Mensch.

»Für die Gefühlswelt eines Menschen können wir Empathie empfinden. Für den Algorithmus einer Maschine nicht.«

MYP Magazine:
Es ist ohnehin fraglich, ob eine KI die Empathie hätte, einer Familie, die um ihren verstorbenen Sohn trauert, einen Song zu schenken – nur, um ihr ein wenig Trost zu spenden.

Marius Nitzbon:
Aber kann man nicht auch so etwas programmieren? Ich befürchte, dass eine KI dazu ebenfalls bald in der Lage sein wird. Der einzige Unterschied bleibt die menschliche Intention. Für die Gefühlswelt eines Menschen können wir Empathie empfinden. Für den Algorithmus einer Maschine nicht.

MYP Magazine:
Der Mensch bleibt am Ende eben immer Mensch…

Marius Nitzbon:
Und er will Mensch! Gerade in einer Welt, die mehr und mehr von künstlichen Intelligenzen beherrscht wird. Der Mensch will einen anderen Menschen, der leibhaftig auf der Bühne steht, eine persönliche Message hat und dabei auch Fehler macht, immer und immer wieder. Das wird das nostalgic longing der Zukunft sein.


Sina Martens

Interview — Sina Martens

»In Resignation zu versinken ist nicht die Art, wie ich leben möchte«

Im Berliner Ensemble steht Schauspielerin Sina Martens seit zwei Jahren als Britney Spears auf der Bühne, für Amazon Prime hat sie nun die Rolle einer Rucksacktouristin übernommen, die entführt und in einen Kofferraum gesperrt wurde: zwei ungleiche Formate, zwischen denen es mehr Parallelen gibt, als man im ersten Moment vermuten würde. Ein Gespräch über männliche Gewalt, weiblichen Überlebenswillen und das Prinzip Hoffnung in Momenten, die absolut aussichtslos erscheinen.

24. Januar 2024 — Interview & Text: Jonas Meyer, Fotografie: Steven Lüdtke

„Der permanente Wunsch von Künstler*innen, bekannt zu sein, sowie der ebenso permanente Wunsch ihrer Fans, wirklich alles über sie zu wissen, ist ein geradezu vulgäres Zeichen unserer Zeit“, schrieb der Kulturjournalist Douglas Greenwood vor Kurzem in einem Artikel für das „i-D Magazine“. Und in der Tat: Spätestens seit Social Media scheint nichts mehr zu privat oder zu intim, um es mit der ganzen Welt zu teilen – oder zumindest mit der eigenen Followerschaft. Wer nicht liefert, muss mit Liebesentzug rechnen.

Doch nicht alle, die im Showgeschäft tätig sind, hegen diesen Wunsch. Vor allem nicht, wenn sie am eigenen Leib erlebt haben, wie es ist, nicht mehr als menschliches Wesen wahrgenommen zu werden, sondern nur noch als Ereignis. Wie zum Beispiel Britney Spears.

Bereits im Kindesalter wurde die heute 42-Jährige von ihrer Mutter zu diversen Castings und Talentshows geschleppt, ihre Jugend opferte sie einer TV-Sendung namens „Mickey Mouse Club“, vor den Augen eines Millionenpublikums. Doch das eigentliche Unglück ereignete sich erst Ende der Neunziger – als ihr Debütalbum „… Baby One More Time“ auf Platz 1 der US-Billboard-Charts schoss und sie ein Star wurde. Von nun an war Britney Spears als Privatperson passé und ihr Leben vollzog sich unter der ständigen Beobachtung – und Beurteilung – der Weltöffentlichkeit.

Vor allem das Jahr 2007 brannte sich dabei ins kollektive Gedächtnis. Nach dem Scheitern zweier Ehen rasierte sich die Künstlerin, von der viele gehofft hatten, dass sie auf immer und ewig das laszive Schulmädchen mit den blonden Zöpfe bliebe, die schönen Haare ab. Außerdem begab sie sich in eine Reha-Klinik für Suchtkranke. Und ihrem Exmann wurde das alleinige Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder zugesprochen.

Spätestens nach diesem Jahr verfiel die Boulevard-Presse in Goldrausch. Angetrieben von einer schier unersättlichen Informationsgier der Weltöffentlichkeit, drehte sich das mediale Rad immer weiter – und wurde belohnt: Anfang 2008 wurde Britney Spears durch ein Gericht entmündigt und ihr Vater zum Vormund bestellt. Erst 13 Jahre später, nach einem fast biblischen Martyrium, wurde die Vormundschaft aufgehoben und Britney war wieder ein freier Mensch.

Doch wer ist dieser Mensch überhaupt?

Dieser Frage geht seit Januar 2022 das Theaterstück „It’s Britney, Bitch!“ am Berliner Ensemble nach. Entwickelt von Autorin Lena Brasch und Schauspielerin Sina Martens, wird dem Publikum hier eine Perspektive eröffnet, die so gar nichts mit dem Bild zu tun hat, das in der Presse – und damit in der Geschichte der Popkultur – über drei Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es ist die Perspektive einer Frau, die nicht nur an ihrer Seele, sondern auch in ihrer Würde verletzt wurde. Und die nicht aufgegeben hat, sich zu behaupten – gegenüber der öffentlichen Meinung, den Gerichten und nicht zuletzt auch ihrer Familie.

Dargeboten wird das Solostück von Sina Martens, die auf der Bühne 75 Minuten lang nichts anderes tut, als diesem menschlichen Wesen namens Britney Spears ein kleines bisschen Würde zurückzugeben. Was für eine Leistung!

Die 35-Jährige, die in Leipzig Schauspiel studiert hat und seit der Spielzeit 2017/2018 Teil des Berliner Ensembles ist, liefert aber nicht nur auf der Theaterbühne ab. Seit vielen Jahren brilliert sie auch immer wieder vor der Kamera. Ab dem 26. Januar zum Beispiel ist sie in der Amazon-Produktion „Trunk – Locked In“ zu sehen, in der sie – ähnlich wie in „It’s Britney, Bitch!“ – fast 90 Minuten lang eine Solorolle übernimmt. In dem packenden Thriller verkörpert sie eine junge Rucksack-Touristin namens Malina, die entführt und in einem Kofferraum gesperrt wurde und nun versuchen muss, sich irgendwie aus dieser Misere zu befreien.

Wir treffen Sina Martens am Morgen nach einem Auftritt in der Kantine des Berliner Ensembles. Als wir das Gespräch beginnen, läuft im Hintergrund der Song „Rosa Luft“ von Das Paradies:

Du träumst nicht das, was wird
Du träumst nicht das, was war
Du träumst für uns
Von der Gegenwart

Besser hätte man die gestrige Vorstellung von „It’s Britney, Bitch!“ nicht zusammenfassen können.

»Das Thema Emanzipation ist keines, das ausschließlich der jungen Generation vorbehalten wäre.«

MYP Magazine:
Seit der Premiere Anfang 2022 hast Du auf der Bühne etliche Male den Popstar Britney Spears verkörpert. Welches Zwischenfazit ziehst Du nach knapp zwei Jahren „It’s Britney, Bitch“?

Sina Martens:
Schon als wir im Herbst 2021 mit den Proben begonnen haben, hatte ich die leise Hoffnung, dass es uns gelingen würde, mit unserer Geschichte den einen oder anderen Menschen zu berühren. Dabei meinte ich vor allem junge Frauen, immerhin geht es in dem Stück einerseits um eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung und andererseits um den Umgang mit Frauen in der Öffentlichkeit. Aber bereits nach den ersten Vorstellungen wurde sichtbar, dass wir mit „It’s Britney, Bitch!“ ein Publikum über alle Geschlechter hinweg erreichen. Vor allem in der Eltern-Kind-Thematik finden sich auch viele Männer wieder. Und manche von ihnen hinterfragen sogar ihre eigene Position als Mann in der Gesellschaft, nachdem sie das Stück gesehen haben…

MYP Magazine:
… weil das Thema Emanzipation kein exklusiv weibliches ist?

Sina Martens:
Nicht nur das! Es ist auch keines, das ausschließlich der jungen Generation vorbehalten wäre. Klar, ich freue mich, dass vor allem junge und diverse Menschen in unser Stück kommen, immerhin ist das Publikum hier sonst eher ein älteres – und vor allem ein sehr weißes. Dennoch berührt es mich genauso sehr, wenn wir mit einem Theaterstück über Britney Spears auch die ältere Generation erreichen können. Erst gestern Abend hat mich nach der Vorstellung eine Dame um die 70 angesprochen, um mir zu sagen, wie wichtig sie es findet, dass wir auf der Bühne diese Themen behandeln.

»Es ist nach wie vor wichtig, diese besondere Geschichte zu erzählen.«

MYP Magazine:
Gibt es in Deinem Alltag – außerhalb des Theaters – Momente, in denen Du an den Mensch Britney Spears denken musst?

Sina Martens:
Die gibt es immer wieder. Zwar ist meine eigene Geschichte eine völlig andere als ihre, dennoch findet auch in mir eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themen statt. Da geht es mir nicht anders als den Menschen im Publikum. Ich denke da vor allem an das Ende des Stücks, wenn ich frage: „Wie soll man jemals lieben, wenn man so geliebt wurde?“ Hinter dieser Frage steht für mich eine grundsätzliche und universelle Auseinandersetzung mit dem eigenen Seelenleben, da ist Britney mir sehr nah.
Davon abgesehen muss ich an sie denken, wenn ich sehe, lese und erlebe, wie immer noch mit Frauen in der Öffentlichkeit umgegangen wird. Unser Stück bezieht sich zwar auf die Ereignisse von 2007 – und ein bisschen was hat sich seitdem auch verändert. Aber vieles auch nicht. Aus diesem Grund ist es nach wie vor wichtig, diese besondere Geschichte zu erzählen.

»Britney Spears war immer so etwas wie eine kollektive Erfahrung. Den Mensch dahinter hat so gut wie niemand gesehen.«

MYP Magazine:
In Eurem Stück geht es um die massenhaften Übergriffe auf das Leben, den Körper und die Seele eines einzelnen Menschen. Wie hast Du dir eine Figur erarbeitet, die in ihrem Leben ein so großes Maß an Unterdrückung erfahren hat? Eine Figur, die zwar entmündigt ist und handlungsunfähig scheint, aber gleichzeitig unermüdlich weiterarbeitet und riesige Konzerte spielt?

Sina Martens:
Für mich gab es hier zwei Ebenen der Erarbeitung. Auf der einen, der physischen, habe ich mich sehr intensiv mit Britneys Bühnenpräsenz und ihren Choreografien auseinandergesetzt. Sie ist nach wie vor eine fantastische Tänzerin und Sängerin, das hat mich ziemlich beeindruckt – und ich habe mit der Choreografin Brittany Young viele Stunden trainiert, um mir diesen besonderen Bewegungsstil anzueignen.
Daneben musste ich mir die Rolle aber auch emotional erarbeiten. Im Fall von Britney hieß das, sich mit der riesigen Einsamkeit einer Frau auseinanderzusetzen, von der fast alle glaubten, sie ganz genau zu kennen. Britney Spears war für die Leute immer so etwas wie eine kollektive Erfahrung. Den Mensch dahinter hat so gut wie niemand gesehen.

»Wir wollen uns mit dem Stück nicht anmaßen, diese Frau erklären zu wollen.«

MYP Magazine:
Zu Britney Spears schien um die Jahrtausendwende wirklich jede*r etwas zu sagen zu haben…

Sina Martens:
… und genau auf diesen Zug wollen wir nicht aufspringen! Wir wollen uns mit dem Stück nicht anmaßen, diese Frau erklären zu wollen. Wir können lediglich nach einzelnen Punkten in ihrer Biografie suchen, mit denen wir uns irgendwie verbinden können. Und das sind für uns die Themen Vater-Tochter-Beziehung, Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung und emotionale Vereinsamung.

MYP Magazine:
In den ersten Minuten des Stücks hältst Du eine Kaffeetasse mit folgender Aufschrift in die Luft: „Britney survived 2007. You can handle today.“ („Britney hat 2007 überlebt, also schaffst du diesen Tag.“) Und tatsächlich: Diesen massenhaften seelischen Missbrauch zu überleben, ist eine Leistung.

Sina Martens:
Das sehe ich ganz genauso. Für mich ist es auch interessant zu beobachten, dass einige Popstars, die nach Britney Spears groß geworden sind, ihrem privaten Ich erst mal eine Kunstfigur vorangestellt haben. Lady Gaga zum Beispiel. Wer weiß, vielleicht kann so eine Kunstfigur einen besseren Schutz vor dem bieten, was Britney erleiden musste. Die war leider immer „nur“ die echte Britney Spears und keine Kunstfigur, dadurch konnte die ganze Welt ungefiltert an ihrem Privatleben partizipieren. Schon als Kind arbeitete sie hart im „Mickey Mouse Club“ – und bereits da gab es keinen Schutzraum für sie.

»Was, wenn 2007 ein Akt der Emanzipation war?«

MYP Magazine:
Weißt Du, wie es ihr heute geht?

Sina Martens:
In unserem Ankündigungstext zur Premiere haben wir vor zwei Jahren gefragt: „Was, wenn 2007 ein Akt der Emanzipation war?“ Denn uns war aufgefallen, dass es bei der Berichterstattung aus jener Zeit kein einziges Medium gab, das Britneys Handeln als einen emanzipatorischen, selbstermächtigen Akt gedeutet hatte. Überall ging es nur um den körperlichen und physischen Untergang eines Weltstars. Doch wenn man bei den Bildern von damals genau hinschaut, zum Beispiel in der Doku „Framing Britney Spears“, sieht Britney weder fertig noch völlig durch aus. Ganz im Gegenteil: Sie wirkt rebellisch und stark – übrigens auch durch die kurzen Haare, wofür die Presse sie damals für verrückt erklärt hatte.
In ihren Memoiren, die erst vor wenigen Monaten erschienen sind, beschreibt Britney Spears, dass sie sich zu jener Zeit von alten Rollenbildern befreien wollte. Ich weiß zwar nicht, wie es ihr heute geht, aber für mich ist dieses Buch zum allerersten Mal so etwas wie ihre eigene Stimme. Und das macht Mut.

»Eines der wichtigsten Leitmotive im Leben ist die Frage: Wie wird man zu Ende geliebt?«

MYP Magazine:
An einer Stelle des Stücks zitierst Du Goethe: „Und wenn ich dich liebe, was geht es dich an?“ Welche Bedeutung hat diese Frage im Britney-Spears-Kontext?

Sina Martens:
Ich mag dieses Zitat wahnsinnig gerne. Eines der wichtigsten Leitmotive im Leben ist doch die Frage: Wie wird man zu Ende geliebt? Dabei geht es um die große Hoffnung, dass die Person, der wir unsere Liebe gestehen, mit einem „Ich liebe dich auch“ antwortet. Tut sie das nicht, sind wir tief verletzt. Aus diesem Grund machen wir unsere Liebe oft gar nicht erst sichtbar, weil die Angst vor einer Abweisung viel zu groß und mit einer enormen Scham verbunden ist.
Goethe löst diese Abhängigkeit auf und gibt uns unsere Autonomie zurück. Er sagt nichts anderes als: Es kann sein, dass ich dich liebe. Aber das ist meine Sache und geht dich nichts an. Ob ich dir davon erzähle oder nicht, ist ganz allein meine Entscheidung.
In Bezug auf unser Stück verstehe ich das Zitat in einem erweiterten Kontext. Aus Sicht von Britney Spears meint es: Ich habe mich wund geliebt an der Welt. Ich habe ihr immer gesagt, dass ich sie liebhabe, und nie kam echte, aufrichtige Liebe zurück. Mit jedem Mal tat das ein bisschen mehr weh. Und irgendwann habe ich entschieden, meine Liebe für mich zu behalten. Sie geht die Welt da draußen nichts mehr an.

»Statt mit Würde abzutreten, fällt Thomas Gottschalk nichts anderes ein, als weiter eine Debatte um Cancel Culture anzuheizen und sich dabei ganz seltsam zum Opfer zu stilisieren.«

MYP Magazine:
In Euer Theaterstück habt ihr auch einige Audio-Ausschnitte von Interviews eingebunden, in denen Britney Spears die übergriffigsten Fragen gestellt werden – etwa zu Brustimplantaten oder ihrer Jungfräulichkeit. Dabei gibt es auch einen Ausschnitt aus einer „Wetten, dass..?“-Sendung von 2002, in dem es um Britneys Beziehungsstatus geht. 21 Jahre später scheint hier die Welt immer noch die Gleiche zu sein: Ende November begleitete Moderator Thomas Gottschalk in seiner letzten Sendung die Sängerin Cher mit den Worten von der Bühne: „I can still take you by the hand, because nowadays you‘re really afraid to touch a girl.“ („Ich kann dich immer noch an die Hand nehmen – heutzutage muss man ja richtig Angst haben, ein Mädchen zu berühren.“) Was machen solche Momente mit Dir?

Sina Martens:
Das macht mich erst mal fassungslos. (schweigt für einen Moment) In unserem Stück gibt es eine Stelle, an der ich über Journalismus spreche. Ich sage: „Journalismus ist niemals langweilig, dafür aber wahnsinnig anstrengend, unterliegt strengen Regeln und man gewinnt nie einen Beliebtheitswettbewerb.“ In der Sonntagsvorstellung nach der „Wetten, dass..?“-Sendung habe ich an dieser Stelle einen kleinen Gruß an Thomas Gottschalk eingebaut. Ich finde es unglaublich, wie sich dieser Mann verhält. Der Spruch gegenüber Cher war ja nicht der einzige. Zu der Rapperin Shirin David sagte er, sie sehe ja gar nicht aus wie eine Feministin oder Opernliebhaberin. Das ist doch irre! Ich hatte in dem Moment das Gefühl, ein fiktionales Format zu sehen, aber das war im besten Sinne Realsatire…

MYP Magazine:
… in gewisser Weise strombergig.

Sina Martens:
Ja, tatsächlich. Das Ende der Sendung hat mich aber noch fassungsloser gemacht. Thomas Gottschalk kann ja denken und reden, was er will. Was aber nicht geht: wenn sich so jemand an Millionen von Menschen richtet und es dabei nicht schafft, einen versöhnlichen Ton zu treffen. Denn statt mit Würde abzutreten, fällt ihm nichts anderes ein, als weiter eine Debatte um Cancel Culture anzuheizen und sich dabei ganz seltsam zum Opfer zu stilisieren.
Warum hat er diese besondere Gelegenheit nicht anders genutzt? Er hätte doch genauso gut Größe zeigen können, indem er sagt: Lasst uns mal wieder miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen ja nicht alle das Gleiche denken, aber wir können doch wieder anfangen, sachlich miteinander zu debattieren und uns auszutauschen. Dass er da aber so dagegen geht und die gesellschaftliche Spaltung noch mehr befördert, will mir einfach nicht in den Kopf. Und auch nicht, dass jemand, der seit Jahrzehnten eine Sendung zur besten Primetime mit Millionenpublikum moderiert, sich gleichzeitig über ein vermeintliches Rede- oder Meinungsverbot auslässt. Einfach unfassbar.

»Vielleicht reagieren viele Männer auch deshalb wie bissige Hunde, weil sie nicht bereit sind, eine gewisse Vorherrschaft aufzugeben und sich dem Offensichtlichen zu stellen.«

MYP Magazine:
Dass sich ältere Männer reflexartig in eine Opferrolle begeben, sobald ihnen Kritik entgegenschlägt, ist immer wieder zu beobachten – zuletzt etwa bei Hubert Aiwanger im Zuge der sogenannten Flugblattaffäre. Wie erklärst Du dir dieses Verhalten?

Sina Martens:
Ich kenne diese Menschen nicht persönlich, daher empfände ich es als anmaßend, für deren Verhalten eine Erklärung zu präsentieren. Ich kann nur sagen, wie es auf mich wirkt. Und bei Leuten wie Gottschalk und Aiwanger kommt mir das wie eine tiefe Kränkung vor. Im Fall von Gottschalk macht es zudem den Eindruck, dass er unfähig ist zu akzeptieren, dass eine jüngere Generation nachkommt, die die Dinge etwas anders sieht. Und dass Frauen keine Lust mehr haben, in diesen patriarchalen Strukturen zu leben und sich permanent mit überholten Rollenbildern zuschütten zu lassen.
Vielleicht reagieren viele Männer auch deshalb wie bissige Hunde, weil sie nicht bereit sind, eine gewisse Vorherrschaft aufzugeben und sich dem Offensichtlichen zu stellen. Denn wenn ich mich vor allem als weißer Cis-Mann ernsthaft mit dem Patriarchat auseinandersetzen will, werde ich sehr schnell begreifen, dass ich selbst ein Teil des Problems bin – und dass ich in den letzten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten allein deshalb die heftigsten Vorteile genossen habe, weil ich als Mann zur Welt gekommen bin. Wenn ich mich wirklich aufrichtig mit dem Thema beschäftige und zu dem Schluss komme, dass das alles ungerecht ist, werde ich feststellen, dass ich selbst deutliche Abstriche machen muss in meinem Leben. Denn nur dadurch kann ich das Leben für viele andere etwas besser und gerechter machen.

»Der Tonmann sagte mir, dass er es hören könne, wenn ich eine halbe Minute vor Dreh einer Szene sei – weil sich mein Herzschlag in dem Moment so heftig beschleunigt hat.«

MYP Magazine:
Ab dem 26. Januar bist Du im Film „Trunk – Locked In“ zu sehen. Dabei gibt es eine interessante Parallele zu Eurem Theaterstück: In beiden Fällen verkörperst Du in einer Solo-Rollo eine Frau, die Gewalt erfahren hat, dieser Gewalt über eine längere Zeit ausgesetzt ist und nun mit aller Kraft versucht, sich aus ihrem Gefängnis und einer scheinbar ausweglosen Situation zu befreien. Hattest Du ein Déjà-vue, als die Anfrage kam?

Sina Martens:
Ja, aber eher insofern, dass ich solche klaren Setzungen spannend finde. Und die Idee, einen Film nur in einem Kofferraum zu spielen, fand ich einfach unglaublich herausfordernd.

MYP Magazine:
Solche Filme mit starken Solo-Rollen gibt es verhältnismäßig selten. Man denkt zwar sofort and an „Cast Away“ mit Tom Hanks, „Der Marsianer“ mit Matt Damon, „Die Wand“ Martina Gedeck…

Sina Martens:
… oder „Buried“ mit Ryan Reynolds.

MYP Magazine:
Genau! Hier haben die Darsteller*innen aber immer sehr viel Raum zur Verfügung. In „Trunk“ spielst Du fast 90 Minuten lang im Liegen, und das in einem Kofferraum von knapp zwei Quadratmetern Fläche. Wie hast Du dich auf diese Rolle vorbereitet?

Sina Martens:
Ähnlich wie für „It’s Britney, Bitch!“: Einerseits musste ich körperlich fit sein, da ich in der Rolle sehr viel Kraft aufwenden musste. Andererseits habe ich auf viel mentales Training gesetzt, vor allem auf Meditation. Bei meiner Figur Malina ging es immer wieder darum, aus stressigen Situationen schnell in die Ruhe zu kommen und mich genauso schnell aus dieser Ruhe wieder hochzupushen. Das ist mir irgendwann so gut gelungen, dass mir der Tonmann sagte, dass er es hören könne, wenn ich eine halbe Minute vor Dreh einer Szene sei – weil sich mein Herzschlag in dem Moment so heftig beschleunigt hat.

»Uns war es wichtig, dass Malinas Stimmung am Ende kein Brei aus Todesangst wird.«

MYP Magazine:
Da der Film fast ausschließlich in einem Kofferraum spielt, muss er sich gehörig ins Zeug legen, um das Publikum 90 Minuten bei der Stange zu halten – ein besonderer Anspruch an Cast, Regie und Kamera. Wie habt Ihr euch dieser gemeinsamen Aufgabe genähert?

Sina Martens:
Regisseur Marc Schießer und mir war es wichtig, dass Malinas Stimmung am Ende kein Brei aus Todesangst wird, sondern die einzelnen emotionalen Stufen sichtbar werden, die sie durchlebt. Aus diesem Grund hatten wir vor den Dreharbeiten eine Art Psychogramm von ihr entwickelt und uns gefragt: In welchen Momenten ist sie hoffnungsvoll? Wo ist sie lethargisch? Wo wird sie wütend? Wo ist sie verzweifelt? Die Antworten darauf haben wir uns dann gemeinsam im Drehbuch erarbeitet und die entsprechenden Szenen an den jeweiligen Drehtagen auch ausführlich geprobt.

»Diese Sequenz war am Ende ein großes Ballett des ganzen Teams.«

MYP Magazine:
Und wie blickst Du auf die Zusammenarbeit mit Tobias Lohf und Daniel Ernst, die für die Kamera verantwortlich waren?

Sina Martens:
Die war genauso intensiv! Es gibt im Film zum Beispiel eine Sequenz, in der ich zehn Minuten am Stück im Kofferraum zu sehen bin und die Kamera immer wieder um mich herumfährt. Bei der Produktion standen uns drei oder vier verschiedene Kofferräume zur Verfügung, in dem wir die einzelnen Szenen gedreht haben. Einer war so präpariert, dass man jede Seite einzeln herausnehmen konnte, damit die Kamera von dort aus filmen konnte. Hat sich die Kamera aber bewegt, musste das Team nacheinander die einzelnen Seitenteile herausziehen oder zurückstecken – je nachdem, von wo und in welche Richtung gerade gefilmt wurde. Ich selbst musste dabei immer darauf achten, dass ich die Kamera, die ja permanent ihre Position verändert hat, nicht aus den Augen verliere. So war diese Sequenz am Ende ein großes Ballett des ganzen Teams.

»In existenziellen Notsituationen kommt man scheinbar an einen Punkt, an dem man einfach nur noch funktioniert und über sich hinauswächst.«

MYP Magazine:
Trotz ihrer entsetzlichen Situation gelingt es Malina, halbwegs ruhig, reflektiert und klar zu bleiben. War das emotionales Neuland für Dich? Oder konntest Du auf Erfahrungen aus eigenen Notsituationen zurückgreifen?

Sina Martens:
Nein, solche Extremsituationen gab es noch nicht in meinem Leben. Daher habe ich mich umso intensiver damit auseinandergesetzt, wie man einen so unbedingten Überlebenswillen entwickeln und schauspielerisch darstellen kann. Denn das will Malina ja am meisten: leben. Ich glaube, so ein Überlebenswille setzt in Menschen ungeahnte Kräfte frei. Es gibt die unglaublichsten Geschichten von Leuten, die irgendwie riesige Unglücke und Katastrophen überlebt haben. In existenziellen Notsituationen kommt man scheinbar an einen Punkt, an dem man einfach nur noch funktioniert und über sich hinauswächst. Über diesen Gedanken habe ich versucht, Malina möglichst nahezukommen.

»Es macht einfach etwas mit dem Körper und dem Geist, wenn man neun bis zehn Stunden pro Tag in so einem engen Kasten herumliegt.«

MYP Magazine:
In „Trunk“ geht es auch darum, dass sich ein sorgloses Leben innerhalb von Sekunden ändern kann und man plötzlich um sein Leben kämpfen muss. Gehst Du seit der Arbeit an dem Film anders durch den Alltag? Bist Du misstrauischer geworden?

Sina Martens:
Eigentlich nicht. Ich kann so etwas recht gut hinter mir lassen, das gehört schließlich zu meinem Beruf – auch wenn es bei diesem Film tatsächlich etwas länger gedauert hat. Immerhin habe ich während der Dreharbeiten sehr viel Zeit in diesem Kofferraum verbracht. Es macht einfach etwas mit dem Körper und dem Geist, wenn man neun bis zehn Stunden pro Tag in so einem engen Kasten herumliegt. Daher habe ich in den Wochen danach auch einige Osteopathie-Behandlungen gebraucht, um den einen oder anderen verkürzten Muskel wieder in die Länge zu ziehen. Außerdem habe ich bei Fahrstühlen gedacht, ich nehme lieber mal die Treppe – ich hätte jetzt absolut keine Lust, darin steckenzubleiben. (lacht)

»Für mich ist Gewalt im Film vor allem dann problematisch, wenn sie entweder inflationär stattfindet oder in einem eher unbedeutenden Nebenstrang erzählt wird.«

MYP Magazine:
Laut einer Studie kommt in rund einem Drittel der Sendungen, die in Deutschland ausgestrahlt werden, geschlechtsspezifische Gewalt vor. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um explizite und schwere Gewalt gegen Frauen und Kinder – und nur in seltenen Fällen lässt man in den jeweiligen Sendungen die von Gewalt Betroffenen selbst zu Wort kommen. Wie ordnest Du euren Film in diesem Zusammenhang ein? Hattest Du im Vorfeld Sorge, mit Deinem Mitwirken an „Trunk“ diesen Umstand noch zu befördern?

Sina Martens: (überlegt kurz)
Für mich ist Gewalt im Film vor allem dann problematisch, wenn sie entweder inflationär stattfindet oder in einem eher unbedeutenden Nebenstrang erzählt wird – zum Beispiel, wenn irgendwo eine Frau entführt oder geschlagen wird und es am Ende doch nur um die männliche Hauptfigur geht. Daher hat mich übrigens auch Maria Schrader mit ihrem Film „She Said“ total beeindruckt. Sie verzichtet in ihrer Inszenierung komplett darauf, die Übergriffe zu zeigen, außerdem rückt die Kamera den Frauen nicht auf die Pelle. Das finde ich unglaublich interessant – und ist für mich eine ganz klare Setzung.
In unserem Film ist die Setzung genauso klar: Der Fokus liegt eindeutig auf einer starken Frauenfigur, die wir dabei verfolgen, auf engstem Raum zurechtzukommen und sich aktiv aus ihrem Gefängnis freizukämpfen. Das Drehbuch hat mich interessiert, weil sich hier eine starke Frau befreit; weil eine starke Frau hier Verantwortung übernimmt; weil diese starke Frau so viel mehr ist und macht als alle anderen in dem Film, die im Gegensatz zu ihr nicht in einem Kofferraum eingesperrt sind. Für mich ist das alles andere als eine Opfergeschichte. Es ist vielmehr die emanzipatorische Geschichte einer Frauenfigur, die sich gleich auf drei Ebenen befreien muss.

MYP Magazine:
Und welche Ebenen sind das?

Sina Martens: (grinst)
Das werde ich jetzt nicht spoilern! Wer das herausfinden will, muss sich den Film anschauen.

»Ich kann total verstehen, wenn eine Frau keine Lust mehr hat, Aufklärungsarbeit zu leisten.«

MYP Magazine:
Gewalt gegen Frauen ist – egal wo auf der Welt – in 99,9 Prozent der Fälle männliche Gewalt gegen Frauen. Und das wird sich nicht ändern, wenn sich nicht auf Seite der Männer etwas fundamental ändert. Die Autorin und Aktivistin Kristina Lunz sagte vor einigen Wochen in einer Gesprächsrunde zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, sie habe den Versuch aufgegeben, irgendwelche Männer zu überzeugen. Bist Du an einem ähnlichen Punkt angelangt? Oder gibt es eine Botschaft, die Du diesbezüglich an Männer hast?

Sina Martens:
Ich kann total verstehen, wenn eine Frau keine Lust mehr hat, Aufklärungsarbeit zu leisten. Ich selbst bin aber noch nicht an diesem Punkt. Ich habe noch nicht aufgegeben, Männern unsere Perspektive zu erklären, und gehe immer wieder gerne in Diskussionen, in denen ich sage: Stopp mal! Aber habe ich eine konkrete Botschaft, die ich Männern mitgeben möchte? (überlegt einen Moment)
Ich würde Männer ermutigen, uns Fragen zu stellen: Fragt uns, wie sich etwas anfühlt oder wie etwas ist!

»Mit der Schauspielerei habe ich tatsächlich mehr gefunden als das, wonach ich nach dem Abi gesucht hatte.«

MYP Magazine:
Du wolltest nach dem Abitur eigentlich Psychologie studieren, bist dann aber Schauspielerin geworden. Ist die Aufgabe am Ende nicht eh dieselbe? Menschen in ihrem Innersten zu verstehen und zu versuchen, ihnen mit dem eigenen Wirken zu helfen?

Sina Martens:
Mit der Schauspielerei habe ich tatsächlich mehr gefunden als das, wonach ich nach dem Abi gesucht hatte, denn in meinem Beruf gibt es ja noch diesen schönen Zusatz der Kunst. Ich habe hier nicht nur die Möglichkeit, Figuren zu verstehen – oder besser gesagt: mich auf die Suche danach zu machen, sie verstehen zu wollen. Sondern auch, einen künstlerischen Umgang mit dieser Suche zu finden und im besten Fall andere Menschen damit zu erreichen, zu berühren und sie zum Nachdenken zu bringen.

»Das Berliner Ensemble ist ein Ort, an dem schon viel gedacht, versucht und gescheitert wurde.«

MYP Magazine:
Seit mittlerweile sechs Jahren bist Du ein Teil des Berliner Ensemble. Was bedeutet Dir dieser Ort hier?

Sina Martens: (lacht)
Dieser Ort hier? Da muss ich an einen Satz von Wolfram Lotz denken, einem deutschen Dramatiker: „Das Theater ist ein Ort.“
Für mich persönlich ist Theater ein sehr wichtiger Ort – und das Berliner Ensemble ist unter all den Theatern ein ganz besonders wichtiger Ort für mich. Ich würde ihn zwar nicht als mein Zuhause bezeichnen, das Wort wäre mir an der Stelle zu groß, aber dennoch hat mich dieses Haus ungemein geprägt. Ich durfte hier nicht nur sehr viel lernen, sondern habe hier auch etliche Menschen getroffen, die heute einen wichtigen Teil meines Lebens ausmachen.
Und zu all dem kommt ja noch das kleine Detail, dass das hier das Brecht-Theater ist – also ein Ort, an dem schon viel gedacht, versucht und gescheitert wurde; und an dem man in so einer Art Tradition steht, fleißig weiter zu denken, weiter zu versuchen und weiter zu scheitern.

»Ich möchte mit großer Hoffnung leben, auch wenn es oft Momente gibt, in denen ich denke, dass der Mensch hoffnungslos verloren ist.«

MYP Magazine:
Ich komme zum Schluss noch mal auf „It’s Britney, Bitch!“ zurück. An einer Stelle zitiert Ihr den Refrain des Lieds „Der letzte Song“ von Felix Kummer und Fred Rabe, der sich zwischen Hoffnung und Resignation bewegt:

Alles wird gut / Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch
Aber alles wird gut / Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt
Aber alles wird gut / Dein Leben liegt in Scherben und das Haus steht in Flammen
Aber alles wird gut / Fühlt sich nicht danach an, aber alles wird gut

Wie blickst Du selbst auf die Zukunft. Bist Du eher resignativ oder hoffnungsvoll?

Sina Martens:
In mir steckt definitiv mehr Hoffnung als Resignation, auch weil Hoffnung für mich ein Antrieb ist. Natürlich habe auch ich große Sorgen, wenn ich an die Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Welt denke. Aber in Resignation zu versinken ist nicht die Art, wie ich leben möchte. Ich möchte mit großer Hoffnung leben, auch wenn es oft Momente gibt, in denen ich denke, dass der Mensch hoffnungslos verloren ist. Das ändert aber nichts daran, dass ich weiter an bestimmte Werte glaube. Ich glaube an die Liebe, ich glaube an die Freundschaft, ich glaube an den Dialog, ich glaube an die Verantwortung. Was kann mir mehr Hoffnung geben?


Milos Miskovic

Interview — Milos Miskovic

»Es ist keine langfristige Lösung, seine Gefühle zu verstecken«

Er gilt als der Udo Walz von Budapest: Milos Miskovic wuchs als schwuler Junge in Serbien auf, überlebte den Balkankrieg und avancierte in Ungarn zu einem berühmten Damenfriseur. Eine beeindruckende Biografie aus einer Generation, die bei uns in Westeuropa gleich mehrfach um Sichtbarkeit ringt.

8. Januar 2024 — Interview & Text: Katharina Viktoria Weiß, Fotografie: David Ajkai

Mitte der Achtziger im serbischen Dorf Ostojićevo. Wenige Tage vor einem Handballturnier wird Teenager Milos Miskovic von seinem Trainer aufgefordert, sich einen anständigen Haarschnitt zuzulegen. Also schaut er im einzigen Friseurladen der kleinen Gemeinde vorbei und verhandelt: Wenn er Friseurmeisterin Éva bei der Arbeit zur Hand geht, erhält er einen Last-Minute-Termin für sein wildes Haupthaar.

Als Milos aus nächster Nähe erlebt, wie Éva ihre Kund*innen verwandelt, findet er prompt seine Berufung – und verärgert ebenso prompt seine Eltern. Denn die sind ganz und gar nicht erfreut, dass der Filius plötzlich Damenfriseur werden will. Und nicht Anwalt, wie ursprünglich geplant und erhofft. Denn in einem serbischen Dorf wie Ostojićevo gilt es für einen Mann damals als peinlich, diesen Beruf auszuüben. Doch Milos setzt sich durch und eröffnet 1989, da ist er gerade mal 17 Jahre alt, seinen ersten Salon im Erdgeschoss des Elternhauses.

Heute, gut drei Dekaden später, lebt er in Ungarn und ist einer der bekanntesten Hair-Stylisten des Landes. Manche seiner Kundinnen fliegen sogar aus ganz Europa ein, einige kommen von noch weiter. Sein exklusives Studio, das den Namen „MMhair“ trägt, liegt im Zentrum Budapests und ist nur wenige Gehminuten von der berühmten St.-Stephans-Basilika entfernt. Eine edle Adresse. Dennoch ist Milos Miskovic in all den Jahren ein bodenständiger Handwerker der Schönheit geblieben: ein kerniger Typ, dessen Gestik wie eine einzige Umarmung an die Welt anmutet.

Seine große Empathie ist dabei auch ein Resultat seiner ganz eigenen Geschichte, die er in seiner kürzlich erschienenen Biografie niedergeschrieben hat. „Fear of myself“ erzählt von einem jungen, schwulen Mann in Jugoslawien und im späteren Serbien, der im politischen Chaos der neunziger Jahre in eine ungewöhnliche Karriere stürzt. Eine Karriere, die ihm hilft, der großen Einsamkeit zu entkommen, die mit dem Anderssein einhergeht.

In dem Buch erzählt Milos auch, wie der Umgang mit dem Tod seines Vaters und die Krankheit seiner Mutter ihren Tribut forderten. Aber er beschreibt auch, wie er bei einem Urlaub in Spanien seine erste Begegnung mit der Liebe machte: Es ist nur eine flüchtige Romanze, die ihm aber die Tür zu einer Welt öffnet, von der er wusste, dass er zu ihr gehört – obwohl er sie nie zuvor betreten hatte.

Milos, der heute mit seinem langjährigen Partner Simon zusammenlebt, schafft mit seinem Buch ein wichtiges Dokument queeren Lebens in Mittel- und Osteuropa und zeichnet darin Lebenswege einer LGBTQIA*-Generation nach, die bisher kaum sichtbar war. Eine Generation, die schon wieder in großer Sorge lebt angesichts des politischen Rechtsrucks vieler europäischer Staaten – und die, uns alle mahnend, den Zeigefinger hebt.

»Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf.«

MYP Magazine:
Nimm uns mit auf eine Zeitreise: Wie fühlte sich in Deiner Jugend das Leben in Jugoslawien an – einem Staat, den es heute nicht mehr gibt?

Milos Miskovic:
Die Region Vojvodina, in der ich aufgewachsen bin, lag damals im landwirtschaftlichen Teil Jugoslawiens, nahe der ungarischen und rumänischen Grenze. Die Bevölkerung war multikulturell: Serben, Ungarn, Tschechen, Polen und andere. Fast jede Familie besaß ein Stück Land. Fast alle Häuser hatten das gleiche Format – mit einem kleinen Garten neben dem Haus und dahinter ein oder zwei größere Flächen, um Hühner und andere Kleintiere zu halten, sowie einen Gemüsegarten. Jede Familie besaß Obstbäume: Pflaumen, Aprikosen, Äpfel und Birnen. Nut etwa 30 Prozent der Frauen arbeiteten, meistens in Fabriken, die anderen waren Hausfrauen. Modische Kleidung war keine Priorität. Wenn jemand mit einem bestimmten Stil auftrat, fiel er sofort auf. Nur einige hochgebildete Leute sowie ein paar Teenager tanzten modisch aus der Reihe.

»Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt.«

MYP Magazine:
Welche Erinnerungen hast Du allgemein an die späten Achtziger im heutigen Serbien?

Milos Miskovic:
Die achtziger Jahre waren echt schön. Jugoslawien war zu dieser Zeit ein reiches Land. Die Menschen hatten normale Gehälter und konnten von dem, was sie verdienten, etwas sparen. Auf dem Land produzierten wir alles zu Hause, so dass unsere Gemeinde ein schönes Leben und genug Geld für einen komfortablen Lebensstil hatten. Gleichheit und Brüderlichkeit waren das Motto in Jugoslawien – dennoch waren wir nicht gleichgestellt mit anderen Familien, denen es besser ging. Und so wurde mir klar, dass ich mich anstrengen muss, um etwas aus meinem Leben zu machen. In der Schule hatte ich manchmal Probleme, weil es in meiner Familie orthodoxe Priester gab. Andererseits: Das Bildungssystem war sehr gut und bot viele Möglichkeiten für kluge Kinder, unabhängig von ihrem familiären Hintergrund.

MYP Magazine:
„Ich hoffe, dass er aus diesem Wahnsinn herauswächst“, zitierst Du deinen Vater und seine Sicht auf Deinen Berufswunsch. War das eher seine persönliche Meinung? Oder spiegelt der Satz eher die generelle kulturelle Sichtweise auf Männlichkeit zu dieser Zeit wider?

Milos Miskovic:
Ich denke, das war beides gleichermaßen. Ich war ein ungewöhnliches Kind: sehr kultiviert, sensibel, aber auch schlau. Mein Vater sagte mir, dass ich meine guten Noten im Gymnasium beibehalten müsse, sonst würde er mir nicht erlauben, in einem Haarstudio zu lernen. Meine Noten waren immer sehr gut, also konnte er sich nicht beschweren.

»Mein Highlight war es zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben.«

MYP Magazine:
Bereits 1989 hast Du deinen ersten Salon eröffnen – das hatte auch mit einer Inflation von unglaublichen 2.700 Prozent zu tun. Was ist da passiert?

Milos Miskovic:
Zu dieser Zeit dachte niemand daran, dass es in Jugoslawien eine Hyperinflation geben würde. Für mich war das ein echtes Glück, denn ich nahm davor einen Kredit bei der Bank in Dinar auf – und als die Hyperinflation einsetzte, wurde die monatliche Rate zu einem Witz. So konnte ich den Kredit ganz einfach zurückzahlen.

MYP Magazine:
In den folgenden Jahren hast Du unter anderem in einem renommierten Spa in Belgrad gearbeitet und bist gelegentlich nach London oder nach Paris gefahren, zum ersten Mal im Jahr 1997. Dennoch schreibst Du in Deinem Buch: „Nach meinem Arbeitstag ging ich zurück in meinen goldenen Käfig. Allein, um mich auszuruhen und Energie und Kraft für einen neuen Tag zu sammeln.“ Du warst damals ein junger Mann. Wie war das mit dem Ausgehen und Daten in dieser Phase Deines Lebens?

Milos Miskovic:
Ich habe zu jener Zeit auch eine Weile im Friseursalon eines Rehabilitations-Zentrums in Kanjiza gearbeitet, in der Nähe meiner Heimatstadt. Ich konnte nicht daten, weil ich wusste, dass ich schwul bin. Und wenn man mich in einer Stadt oder sogar weiter weg mit einem Mann gesehen hätte, hätten es alle herausgefunden. Also ging ich nach der Arbeit nach Hause. Mein Highlight war es, ein schönes Abendessen zu kochen und zu versuchen, bis zum nächsten Tag zu überleben. In dieser Zeit fühlte ich mich nur im Studio gut aufgehoben.

»Wir wussten nicht, wo die Bomben als nächstes fallen.«

MYP Magazine:
1999 begann die Bombardierung Deiner Heimat. Wie erinnerst Du dich an den Krieg?

Milos Miskovic:
Ich hätte nie gedacht, dass unser Land bombardiert werden würde. Für mich war das irgendwie absurd: Das ganze Volk sollte wegen der Entscheidung der Regierung bestraft werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Land bereits von Milošević übernommen worden und die Bevölkerung hatte so gut wie keine Kontrolle über das, was die Regierung tat. Es war eine schreckliche Zeit. Wir alle hatten Angst, denn wir wussten nicht, was morgen passieren wird – und wo die Bomben als nächstes fallen.

MYP Magazine:
Wenn du heute über Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten liest: Hast Du einen besonderen Bezug zu den Betroffenen?

Milos Miskovic:
Wenn ich heute etwas über einen Krieg lese, tun mir die Opfer wirklich leid. Die Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, können nicht verstehen, was für ein Druck das ist – und was für eine furchtbare Erfahrung. Sie können es sich einfach nicht vorstellen.

»Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.«

MYP Magazine:
„In dem Moment, in dem ich den Garten betrat, sah ich einen atemberaubend schönen jungen Mann an einem Pool liegen. Ein Blick auf seinen perfekten Körper ließ meinen Magen verkrampfen. Ich schaute schnell weg.“ Im Jahr 2000 hast Du auf Ibiza einen besonderen Mann kennen gelernt. Er hat Dir die Frage gestellt: „Bist du schwul?“ War das das erste Mal in Deinem Leben, dass Dich jemand nach Deiner Sexualität hat?

Milos Miskovic:
Ja, das allererste Mal. Ich war schockiert, dass er den Mut hatte, mich so etwas zu fragen. Gleichzeitig war ich auch von seiner enormen Schönheit schockiert – eine doppelte Verwirrung.

MYP Magazine:
Wie hast Du reagiert?

Milos Miskovic:
Ich habe erkannt, dass er tief im schwulen Lifestyle steckte. Außerdem war er in einer Lebensphase, in der er sich fragte: „Wo will ich hin und was will ich vom Leben?“ Und ich war da, um ihm zuzuhören. Ich hatte damals keine Ahnung von schwulen Communitys. Er leitete mich und versuchte, mich über alles aufzuklären, worauf ich achten musste. Wir beide waren zwei starke Menschen, die sich zur richtigen Zeit gefunden hatten. Dennoch wusste ich früh, dass er nicht in der Lage war, einer Person gegenüber loyal zu sein. Er brauchte seine Freiheit – aber ich brauchte jemanden wie ihn, der mich in das schwule Leben einführte.

»Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös.«

MYP Magazine:
Dein Coming-out-Prozess hat sich über mehrere Jahre hingezogen. Wie hat Budapest Dein Leben als schwuler Mann verändert?

Milos Miskovic:
Das Beste war, dass ich dort frei war. Dennoch wurde mir schnell klar, dass die jungen Männer in Budapest keine ernsthafte Beziehung wollen und eher auf Sex aus sind – aber ich wollte unbedingt etwas Festes. Es war nicht leicht, jemanden zu finden, der es ernst meint mit mir; jemanden, der mich versteht und mit dem ich mein Leben gestalten will. Ich fing an zu erkennen, welche Art von Person die richtige für mich ist, und habe mich auf die Suche nach einem Partner gemacht…

MYP Magazine:
… und hast schließlich das Glück gefunden. Mit Deinem Partner Simon bist Du seit mittlerweile 17 Jahren liiert. Wie hat die ungarische Gesellschaft in den fast zwei Jahrzehnten auf Eure öffentlichen Auftritte reagiert?

Milos Miskovic:
Für mich ist es sehr wichtig, dass ich eine stabile Beziehung habe. Wenn man seinen Beruf ernst nimmt, kann man nicht jeden Monat den Partner wechseln, das ist nicht seriös. Die Gesellschaft in Serbien und auch in Ungarn betrachtet uns als normales, erfolgreiches Paar, das sich liebt. Als wir in Serbien das erste Mal zusammen gesehen wurden, wurden dort garantiert ein paar Augenbrauen hochgezogen. Aber da ich schon damals recht berühmt war und einige Leute meine Sexualität sicherlich schon länger in Frage gestellt hatten, war es keine große Überraschung, als ich eines Tages mit einem Mann aufgetaucht bin. Und dass wir von Menschen mit einer gewissen gesellschaftlichen Bedeutung akzeptiert wurden, die uns als Paar zu Partys und Hochzeiten einluden, hat uns ebenfalls den Weg geebnet.

»Es ist sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden.«

MYP Magazine:
Heute ist das queere Leben in Ungarn wieder bedroht: Was beunruhigt Dich, wenn Du auf die junge Generation blickst?

Milos Miskovic:
Man muss verstehen, dass Budapest mehr oder weniger eine Bubble ist und man das schwule Leben hier nicht mit dem im Rest des Landes vergleichen kann. Gleichzeitig ist es sehr besorgniserregend, welche repressiven Maßnahmen aktuell in Ungarn gegen die Queer- und Transgender-Community ergriffen werden – Maßnahmen, von denen wir alle wissen, dass sie aus rein politischen Gründen erfolgen. Das ist absolut nicht gut für das Selbstwertgefühl sowie das Selbstvertrauen junger queerer Menschen.

»Mein Leben wäre weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.«

MYP Magazine:
Vor allem älteren Queers wird immer wieder folgende Frage gestellt: „Was würdest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben, wenn du es heute treffen würdest?“ Was würdest Du deinem sagen?

Milos Miskovic:
Meinem jüngeren Ich würde ich raten, Gruppen und Orte aufzusuchen, an denen sich aufgeschlossenere Menschen versammeln – einfach, um ein soziales Sicherheitsnetz um sich herum aufzubauen. Außerdem würde ich ihm sagen, dass es keine langfristige Lösung ist, seine Gefühle zu verstecken und zu unterdrücken. Die Rechnung kommt immer am Ende. Und ich würde meinem jüngeren Ich empfehlen, vor allem seinen engsten Freunden mehr zu vertrauen und mit ihnen offen über seine Gefühle zu sprechen. So sehr wir alle versuchen, unsere wahre Natur zu verbergen, am Ende kommt sie doch zum Vorschein.
Das Interessante dabei ist, dass es den meisten intelligenten und emotional entwickelten Menschen egal ist, wer wie fühlt und wer wen liebt. Ich selbst durfte das leider erst relativ spät lernen. Ich bin ziemlich sicher: Mein Leben wäre einfacher und weniger einsam gewesen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, mit einigen ausgewählten Vertrauten etwas offener zu sein.


Romain Berger

Fotoserie — Romain Berger

Für Frankreich zu vulgär

Mit seinen Bildern feiert der queere Fotograf Romain Berger seit Jahren ein rauschendes Fest der Farben, Körper und Begierden: eine Freizügigkeit, die immer wieder mal mit den Moralvorstellungen von Instagram & Co. kollidiert – und die ihm auch in der analogen Welt das Leben schwer macht, zumindest in seiner Heimat. Denn den meisten französischen Galerien sind seine Arbeiten zu vulgär. »Une opportunité ratée«, wie wir finden – eine verpasste Chance.

21. Dezember 2023 — Fotografie: Romain Berger, Text: Jonas Meyer

»Dass Künstler*innen wie ich auf Instagram gesperrt werden, ist für mich schon lange nichts Neues mehr.«

„Dass Künstler*innen wie ich auf Instagram gesperrt oder einzelne Inhalte gelöscht werden, ist für mich schon lange nichts Neues mehr“, erzählt Romain Berger, als er sich nach knapp drei Jahren wieder mit einer Fotostrecke an uns wendet. Der queere Fotograf aus Rennes, der Ende der Achtziger im ländlich-konservativen Nordwesten Frankreichs geboren wurde und auch dort aufgewachsen ist – ganz ähnlich übrigens wie der berühmte Schriftsteller Édouard Louis („Das Ende von Eddy“) – beschrieb bereits im März 2021 im Rahmen einer Veröffentlichung einiger seiner Arbeiten in unserem Magazin, mit welchen seltsamen Moralvorstellungen er es immer wieder auf Social-Media-Plattformen zu tun hat.

Damals schrieben wir: Die Community-Politik von Facebook ist etwas, über das sich leidenschaftlich streiten lässt. Während auf den einzelnen Plattformen des US-Konzerns immer noch Autokraten und ihre radikalisierte Gefolgschaft fast ungehemmt ihre menschenfeindlichen Botschaften in alle Welt verbreiten dürfen, während Verunglimpfungen und Shitstorms wie die Axt im Walde wüten, während Falschnachrichten mehr schlecht als recht bekämpft und demokratische Systeme sukzessiv unterwandert werden, tut sich an ganz anderer Stelle ein bizarres Verständnis von Moral auf: bei der Abbildung des menschlichen Körpers.

»Wenn sexuell aufgeladener Content aus der heteronormativen Ecke kommt, scheint Instagram damit viel weniger ein Problem zu haben.«

Zum Verhängnis wurde Romain damals (wie heute) immer wieder die Darstellung von zu viel Schambehaarung in seinen Bildern. Man könnte laut loslachen, wenn es nicht so traurig und absurd wäre.

Die kürzlich aktualisierten Nutzungsbedingungen des Meta-Konzerns hätten die Situation für ihn dabei nur noch verschärft, erzählt der 35-Jährige: „Für queere Künstler*innen wie mich wird es auf Instagram immer schwieriger, unsere Inhalte sichtbar zu machen und dafür Reichweite zu generieren. Wenn sexuell aufgeladener Content dagegen aus der heteronormativen Ecke kommt, scheint die Plattform damit viel weniger ein Problem zu haben.“

Immer wieder müsse er erleben, wie er dem sogenannten shadow banning zum Opfer falle: dem Sperren von spezifischen Inhalten, über das die betroffenen User*innen aber nicht informiert werden. Stattdessen verhindert das soziale Netzwerk einfach, dass andere User*innen die Inhalte zu sehen bekommen.

»Die französischen Galerien erachten meine Arbeiten als zu vulgär für eine Ausstellung.«

Doch mit dieser Quasi-Zensur hat Romain nicht nur in der digitalen Welt zu kämpfen, sondern auch in der analogen – vor allem in seiner Heimat.

„Während es im Ausland verhältnismäßig leicht ist, Galerien für meine Bilder zu finden, ist das hier in Frankreich immer noch ein großes Problem“, schildert er seine Situation. „Die französischen Galerien erachten meine Arbeiten als zu vulgär für eine Ausstellung. Die einzige Galerie, die sich dazu mal mit viel Optimismus bereiterklärt hatte, musste am Ende resigniert feststellen, dass auch ihr es nicht möglich war, die Köpfe und Herzen der Menschen zu öffnen.“

Chez nous, tu seras toujours accueilli à bras ouverts, cher Romain!