Prinz Pi

Interview — Prinz Pi

Über dem Radar

Fortschrittsfanatiker und Fernweh-Typ: Wir fühlen Prinz Pi auf den Zahn und sprechen mit dem Rapper über seinen Kompass und ausbleibende Erfolge.

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Es ist noch etwas früh an diesem Morgen im Nordosten Kreuzbergs. Die sonst so lebhaften Straßen zwischen Görlitzer Park und Spree scheinen zwar bereits erwacht zu sein, wirklich aufstehen wollen sie aber irgendwie noch nicht. Wer könnte es ihnen auch verübeln, schließlich ist dieser März vom Gefühl her eher ein hartnäckiger Januar als der Beginn eines warmen Berliner Frühlings.

Die Zugvögel, die gerade aus dem Süden zurückgekehrt sind, machen auch nicht den entschlossensten Eindruck. Aufgeregt flattern sie umher und diskutieren energisch, ob
sie bleiben sollen oder besser wieder abreisen – zurück in die Wärme, aus der sie kommen.

Die Sonne könnte die Entscheidung ja erleichtern – sie müsste dazu nur die Wolken, die hartnäckig ihre Sicht versperren, frühzeitig in den Feierabend schicken. Aber ein Machtwort scheint ihr an diesem Morgen noch nicht über die Lippen zu kommen, dazu wirkt sie zu verschlafen.

Wie gut, dass es im Café Nest in der Görlitzer Straße schon etwas geschäftiger zugeht. Irgendwer muss den Tag ja in Gang bringen – und unseren Kreislauf. Der doppelte Espresso kommt also gerade recht.

In wenigen Minuten erwarten wir hier Friedrich Kautz, der bereits seit Ende der 90er Jahre in der deutschen HipHop-Szene für Musik sorgt und sich dort Prinz Pi nennt. In Kürze wird er sein fünfzehntes Album veröffentlichen, das den Namen „Kompass ohne Norden“ trägt. Ja, richtig gelesen: Fünfzehn. Also darf man gespannt sein.

Während wir noch unser Equipment vor einer gemütlichen Wohnzimmer-Sitzecke am Fenster aufbauen, schlendert Friedrich um die Ecke und betritt das Café. Er hat seinen besten Freund Wassif Hoteit dabei, mit dem er vor vier Jahren das Label „Keine Liebe Records“ gegründet hat. Und obwohl dieser Tag als Pressemarathon in ihrem Kalender geblockt ist, wirken beide absolut entspannt.

Nach einem freundlichen „Hallo!“ und „Einen Cappuccino bitte!“ lässt sich Friedrich auf einem der kleinen Wohnzimmersessel nieder und schaut uns an. Im Gegensatz zu den Kreuzberger Straßen und der Sonne ist er bereits hellwach.

„Der Cappuccino für den Herrn?“ Ja, dankesehr. Es kann losgehen.

Jonas:
Wenn man den Song „Fähnchen im Wind“ auf deinem neuen Album hört, fühlt man sich total in die Vergangenheit zurückgeschossen. Plötzlich hat man wieder die Bilder der eigenen Abifahrt vor Augen. War es für dich selbst auch wie eine Zeitreise, als du den Song geschrieben hast?

Friedrich:
Ja, schon. Dieser Song leitet das neue Album ein, da er bei den Erinnerungen an die Grundschulzeit ansetzt. Die sind wahrscheinlich bei den meisten Leuten gleich: Man saß wenige Wochen vor den Sommerferien in der Schule, goldenes Licht fiel in die Klasse und man konnte es kaum noch erwarten, dass endlich die große Freiheit anbrach. Die sechs Ferienwochen erschienen einem damals wie eine unendlich lange Zeit, die dann leider viel schneller rum war, als man dachte.
So sprang man von Schuljahr zu Schuljahr, bis plötzlich das Abi vor der Tür stand. Und man dachte schon wieder: Wenn das vorbei ist, beginnt ein riesengroßes Abenteuer. Doch irgendwie tut’s das halt doch nicht – und davon handelt der Song.
Bei mir zum Beispiel kam nach dem Abi direkt der Zivildienst und dann gleich das Studium. Man wartet dabei die ganze Zeit auf diesen Klick-Moment. Aber der kommt nicht.

Jonas:
Wartest Du immer noch?

Friedrich:
Ja, das tue ich. Bei mir hat es bisher nur so halb klick gemacht, aber eben noch nicht richtig.

Jonas:
Was genau meinst du mit „halb klick“?

Friedrich:
Naja, es gibt Leute, die wissen mit 16, 17 Jahren schon, was sie mal werden wollen. Und werden das dann auch. Für mich ist dieses Musikerdasein etwas, mit dem ich mich erst arrangieren musste – immerhin habe ich mich ziemlich lange dagegen gesträubt.
Ich habe ja eigentlich Kommunikationsdesign studiert und wollte ursprünglich auch in diesem Job arbeiten. Aber wie man sieht, bin ich dann doch nicht in einer Werbeagentur gelandet.

Jonas:
Vielleicht hätte die auch deine Seele einbehalten…

Friedrich:
Ja, die hätte ich dort wahrscheinlich irgendwie für 3.000 brutto im Monat verkauft.

Jonas:
Wie und wann bist du zur Musik gekommen?

Friedrich:
Das war zu meiner Abiturzeit. Ich war auf einem superkrassen Gymnasium, das sich als eine Art Eliteschule verstand. Die Schüler dort waren alle etwas anders drauf als ich und hatten einfach nicht meinen State of Mind. Dementsprechend habe ich mich mit ihnen nicht wirklich gut verstanden und bin daher auch nicht mit auf Abifahrt gekommen. Es war damals ein wunderschöner Sommer mit tollem Wetter – und ich habe mich in den kalten, nassen Keller meiner Eltern verkrochen.
In diesem Keller habe ich angefangen, meine ersten Songs zu schreiben. Unter anderem ist das Stück „Keine Liebe“ dort entstanden, das zu einer Art Klassiker von mir wurde. Der Song wurde aus dem Gefühl heraus geboren, dass es für mich absolut keine Gruppe gab, in der ich aufgenommen wurde und die mich mochte. Ich wollte der Welt die fehlende Liebe, die mir entgegenschlug, irgendwie zurückgeben – das ist die traurige Geschichte meines musikalischen Anfangs. Friedrich grinst.

Jonas:
Gott sei Dank verschwindet die Traurigkeit ja im Laufe der Zeit – vielleicht auch deshalb, weil man irgendwann die Leute von früher wieder sieht und sich ziemlich wundern muss, was aus ihnen geworden ist…

Friedrich:
Ja, das beschreibe ich auch in meinem Song „Kompass ohne Norden“. Manche trifft man nach einigen Jahren wieder und denkt sich: Oh mein Gott, wie kann man so klischeehaft sein? Da fallen nur Sätze wie „Das hier ist mein Auto, das meine krasse Uhr und das meine (viel zu) junge Frau.“

Jonas:
„Die Ersten sind gescheitert, die Ersten was geworden…“

Friedrich:
Genau – und die trifft man eben irgendwann wieder. Und ich habe nach wie vor keine Gruppe gefunden, zu der ich mich zugehörig fühle.
In der Musikszene ist es übrigens dasselbe: Ich sehe ja nicht unbedingt so aus und bin so drauf wie die meisten meiner Kollegen. So bin ich auch dort eher ein Einzelgänger, ein Steppenwolf sozusagen.

Jonas:
Treibt dich das um?

Friedrich:
Es gibt ja ganz viele Leute, die mich gerade deshalb mögen, weil ich so bin, wie ich bin: Das sind meine Fans. Daher finde ich das nicht wirklich schlimm.

Jonas:
Eigentlich könntest du ja total entspannt sein…

Friedrich:
Ich bin auch total entspannt. Ich glaube übrigens nicht, dass ich dadurch etwas Besonderes bin. Das ist so ein bisschen wie bei den Leuten, die sagen: „Oh Mann, ich bin ja so individuell! Ich hab’ einen so krass eigenen Style, der ist komplett anders als der Style von allen anderen.“ Irgendwann kommen sie dann aber nach Berlin-Friedrichshain und müssen feststellen: Dort sehen alle exakt so aus wie sie selbst.

In meinem Metier trägt man ja eher die „Babo-Jacke“ als die Barbour-Jacke.

Jonas:
Jede Gruppe hat eben ihre Uniform – bei den BWL-Studenten zum Beispiel sind es die Segelschuhe, das Polo von Ralph Lauren mit hochgestelltem Kragen und die Barbour-Jacke.

Friedrich (lacht):
In meinem Metier trägt man ja eher die „Babo-Jacke“ als die Barbour-Jacke. Aber ja, im Prinzip ist es das gleiche.
Interessanterweise ist dieser Drang, möglichst anders und individuell sein zu wollen, meistens an den Wunsch geknüpft, trotzdem Teil einer Gruppe oder einer Gesellschaft zu sein. Diesen Mechanismus habe ich schon sehr, sehr früh verstanden.
Als ich zum Beispiel 15, 16 Jahre alt war, war ich ziemlich links interessiert. Ich bin auf Demos gegangen, in meinem Zimmer hing ein Plakat von Che Guevara und ich hatte überall „Bildet Banden“-Sticker kleben. Ich war damals total begeistert von dem ganzen Antifa-Zeug und so.
Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass es auch bei diesen total toleranten Anarchisten eine ziemlich krasse Uniformierung gibt. Dort darfst du nicht unbedingt so aussehen, wie du willst, sondern musst dich kleiden, wie sich ein Punk eben kleidet. Und wenn nicht, wirst du schräg angeschaut.
Das fand ich total bescheuert. Wenn man schon Anarchist ist und sich über alle Normen und Gepflogenheit der Gesellschaft hinwegsetzen will, muss man auch so weit gehen, dass man in seinem eigenen Haufen Leute akzeptiert, die aussehen können wie sie wollen.

Friedrich nimmt einen großen Schluck seines Cappuccino und schaut aus dem Fenster. Wer hätte es gedacht: Die werte Sonne hat sich endlich dazu durchgerungen, die Wolken vor sich zu verjagen. Wie entfesselt durchströmen ihre Strahlen den Nordosten Kreuzbergs und tauchen unsere kleine Interviewecke in ein wunderschönes Licht.

Mit dem Auftritt der Sonne scheint auch etwas Ordnung in die Diskussion der Zugvögel gekommen zu sein, die nicht mehr ganz so wild umherfliegen. Immer mehr von ihnen formieren sich und wechseln ins Lager derer, die sich für ein Bleiben entscheiden.

Jonas:
Du bist ja hier aufgewachsen…

Friedrich:
Ja, ich bin born and raised in West-Berlin!

Jonas:
Wird dir die Stadt so langsam fremd?

Friedrich:
Fremd nicht, aber Berlin verändert sich schon sehr schnell. Der Wrangelkiez zum Beispiel – die Hood, wo wir gerade sind. Vor zehn Jahren bin ich hierher gezogen. Damals war das die Gegend mit der höchsten Kriminalitätsrate in Deutschland. Die Wrangelstraße war so ziemlich die schlimmste Ecke und wirklich mies. Hier bist du nachts nicht gerne rumgelaufen.
Kein einziges teures Auto stand damals hier – und heutzutage bekommst du vor lauter geparkten Porsche Panamera keinen Platz mehr mit deinem Kleinwagen. Es hat sich extrem verändert, aber ich will gar nicht das übliche Touristen-Bashing betreiben und sagen, dass alles total schlecht geworden ist. Die Touris bringen ja Geld in den Kiez und wir Berliner leben davon.

Jonas:
Und wenn man irgendwo anders auf der Welt unterwegs ist, ist man dort ja selbst Tourist…

Friedrich:
Genau. Allerdings versuche ich im Ausland nicht so aufzutreten, wie das die deutschen Touris so gerne tun: Mir ist echt aufgefallen, dass es so ein typisch deutsches Ding ist, im Ausland beispielsweise im Restaurant wie selbstverständlich auf Deutsch zu bestellen. Für gewöhnlich versteht ein Einheimischer aber kein Deutsch. Anstatt es dann mal auf Englisch zu probieren, wiederholen sie auf Deutsch – nur doppelt so laut: „Ich meinte eine Pizza! Verstehen sie mich nicht?“

Wenn ich ins Ausland fahre, wirke ich eher wie ein gut gekleideter Frank Sinatra.

Jonas:
Ich kann mir dich auch wirklich schlecht in Tennissocken und Sandaletten vorstellen.

Friedrich:
Stimmt, das Schlimmste sind Sandalen und Socken. Das ist wirklich peinlich, so sehe ich nicht aus.
Wenn ich ins Ausland fahre, wirke ich eher wie ein gut gekleideter Frank Sinatra. Ich trage dann nur klassische Sachen: eine braune Sonnenbrille, ein Hemd und einen Hut.

Jonas:
Bist du eher so der Fernweh-Typ?

Friedrich:
Ich liebe andere Länder und würde gerne viel mehr reisen. Und ja, ich habe wirklich oft großes Fernweh. Ich bin aber jemand, der lieber alleine reist.

Jonas:
Weil du dann endlich mal Zeit für dich findest?

Friedrich:
Ich bin so ein sehr, sehr kompliziertes Wesen, das es mag, viel Zeit mit sich selbst zu verbringen – und sich mit sich selbst zu unterhalten und auseinanderzusetzen. Das brauche ich ab und zu.

Wir unterbrechen das Gespräch und zahlen. Wir wollen Friedrich und Wassif noch zu ihrem Studio begleiten, das nur wenige Minuten entfernt liegt. Unterwegs halten wir immer wieder an, um ein paar Portraits von Friedrich zu schießen – das Licht bietet ja sich mittlerweile einfach an.

Nach etwa hundert Metern kommen wir an einem kleinen Spielplatz vorbei. Zwei junge Leute, die um die 20 sein müssen, schaukeln wild auf einem der Spielgeräte herum. Friedrich hält für einen Moment an, beobachtet das Treiben kurz und schüttelt den Kopf: „Seht ihr, die Hipster nehmen den Kindern die Spielplätze weg.“

Jonas:
In deinem Song „Moderne Zeiten“ beschreibst du, wie jeder versucht, irgendwie auf Retro zu machen…

Friedrich:
Ja, das ist eine Beobachtung, die ich immer wieder gemacht habe. Dieser Retro-Trend hat ja seinen Ursprung in einer gewissen Zukunftsangst – also die Angst vor einem Morgen, in dem es beispielsweise weniger Arbeitsplätze gibt, der Wohlstand abnimmt oder die Polkappen schmelzen. Man könnte etliche Punkte aufzählen.
In meiner Kindheit sah das alles noch anders aus. Wenn man damals in Büchern und Zeitschriften etwas über Zukunftsszenarien gelesen hat, war das alles toll und utopisch – mit fliegenden Autos und Wohnen auf dem Mars. Das war einfach eine geile Welt, auf die man sich gefreut hat. Heute malt man sich nur noch Horrorszenarien aus.
Daher suchen die Leute etwas, das sie kennen und wohin sie sich flüchten können. Sie suchen einfach nach der heilen Welt aus ihrer Kindheit. Meine Generation betreibt das so intensiv wie keine Generation vorher: Wir fliehen zu den Sneakers aus den 80ern und zu den alten Star Wars Filmen, die wir viel schöner und unperfekter finden als die neuen. Die machen uns eher Angst.
Diese alten Star Wars Filme sind echt ein gutes Beispiel: Sie beschreiben eine einfache und verständliche Welt mit klar definierten Rollen: Der Draufgänger Han Solo, der tugendhafte Held Luke Skywalker und das absolute Böse in Form von Darth Vader und dem Imperator.
Die heutigen Star Wars Streifen zeigen viel kompliziertere Charaktere und haben eine weitaus vielschichtigere Handlung. Das passt zwar in unsere heutige Zeit, gefällt uns aber nicht, weil wir uns nach dem einfachen Leben und klar definierten Rollen sehnen – wie bei Shakespeare.

Jonas:
Bist du selbst ein eher ängstlicher Typ?

Friedrich:
Ne, ganz im Gegenteil. Ich freue mich total auf das, was kommt. Ich bin ein absoluter Fortschrittsfanatiker. Ich habe ja Design und Gestaltung studiert und mag schon alleine deswegen alles, was modern ist. Ich als iPhone-Poweruser liebe die ganzen technischen Spielzeuge und finde das alles toll.
Allein diese gigantische Entwicklung der letzten Jahre beispielsweise in der Filmtechnik ist echt beeindruckend. Heute kann man mit einer relativ einfachen Kamera und überschaubarem Aufwand einen richtig guten Film drehen. Das war noch vor zehn Jahren undenkbar.
Diesen Fortschritt begrüße ich sehr. Das ist, wie wenn einem einfachen Arbeiter plötzlich alle Produktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. So ist es übrigens schon in „Das Kapital“ von Karl Marx gefordert.
Nur wegen dieser Entwicklung habe ich mit meinem kleinen Independent-Team überhaupt die Möglichkeit, gegen die viel größeren Major-Player zu bestehen. Hinter deren Produktionen verstecken sich ja ganz andere Strukturen und Budgets als bei mir. Und obwohl bei uns im kleinen Kreis das Meiste selbst gemacht wird, spielen wir qualitativ auf demselben Level. Das ist eine sehr moderne Herangehensweise, die total den Zeitgeist widerspiegelt.

Jonas:
Es gibt sicherlich viele, die dich heimlich um diese Freiheitsgrade beneiden.

Friedrich:
Bestimmt. Ich bin auch echt froh um diese Freiheit und sehr dankbar.

Jonas:
Und obwohl du diese Freiheitsgrade besitzt und es unzählige Menschen gibt, die du mit deiner Musik erreichst, sagst du von dir selbst, dass du seit Jahren knapp unter dem Erfolgsradar fliegst.

Friedrich:
Was ich damit meine, ist Folgendes: Wenn in Deutschland jemand von diesem Radar erfasst ist, kennt jeder seinen Namen – egal ob man mit seiner Musik was anfangen kann oder nicht. Ein Beispiel: Sogar meine Mutter kennt Peter Fox – spätestens seit Heino. Mich dagegen kennen über meine Fans hinaus nur wenige. Das ist das, was ich mit „knapp unterhalb des Erfolgsradars fliegen“ sagen will.
Um es nicht falsch zu verstehen: Ich bin super dankbar und freue mich total, dass ich so erfolgreich bin. Trotzdem ist es ein Fakt, dass mein Name noch nicht in aller Munde ist.

Jonas:
Ist es dein oberstes Ziel, diese Schwelle zu überschreiten und irgendwann in den Radar zu fliegen?

Friedrich:
Ne, das oberste Ziel ganz sicher nicht. Ich freue mich über alle, die ich mit meiner Kunst erreiche und die sich für meine Musik interessieren. Wenn Menschen das tun, ehrt mich das sehr.
Kunst muss ja auch nicht immer jeden ansprechen. Vor allem in der Musik passiert es oft, dass das Niveau gesenkt wird, um ein größeres Publikum zu erreichen. Das will ich aber auf gar keinen Fall. Ich müsste mich dann ja verbiegen – und dazu bin ich nicht gelenkig genug. Friedrich lacht.

Irgendwas sollte man schon hinterlassen können.

Jonas:
Musik, deren Niveau runtergeschraubt wird, überlebt naturgemäß ja auch nicht lange.

Friedrich:
Das stimmt. Irgendwas sollte man schon hinterlassen können. Wenn ich etwas von meiner humanistischen Schulbildung mitgenommen habe, dann den Anspruch, etwas für die Gesellschaft tun zu können. Meine Referenz ist da „De re publica“ von Cicero, der in seinem Werk dafür plädiert, dass es die Pflicht eines jeden Bürgers sein muss, seiner Gesellschaft zu dienen.
Wenn ich irgendwann mal ins Gras beißen werde, ist das in meinem Fall zwar eher der Lederbezug von dem Sitz meines Sportwagens, mit dem ich mich irgendwo gegen die Wand semmele, trotzdem will ich dann sagen können, dass ich etwas Vernünftiges gemacht habe – und nicht nur mein eigenes Bankkonto gefüllt habe.
Ich sehe deshalb meinen Dienst an der Gesellschaft darin, dass ich vernünftige Musik mache – Musik, die ich persönlich ziemlich gut finde.

Jonas:
Und Bob Dylan ist dabei der Kompass?

Friedrich:
Bob Dylan war einer der Musiker, die ich schon als Kind viel gehört habe, allerdings ohne wirklich zu verstehen, was er da sagt. Mein Papa hat mir dann irgendwann ein Buch geschenkt, in dem alle seine Texte ins Deutsche übersetzt waren.

So etwas hatte ich noch nicht gesehen: Die Songtexte von Bob Dylan waren so selbstverständlich in einem Buch abgedruckt, wie ich es vorher nur von Dichtern und Romanautoren kannte.
So habe ich gelernt, dass Texte auch ohne die Musik eine gewisse Gültigkeit und Wertigkeit besitzen können. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Wir sind mittlerweile am Studio angekommen und verabschieden uns. Der Prinz-Pi-Pressemarathon geht in die nächste Runde: Friedrich ist zu einem Telefoninterview verabredet, das in wenigen Minuten ansteht.

Während Friedrich und Wassif im Hauseingang verschwinden, wandern unsere Blicke erstaunt Richtung Himmel: Die Zugvögel haben sich geeinigt! Stolz verkünden sie, dass sie sich zum Bleiben entschieden haben.

Und so sammelt sich der Schwarm am Himmel, formiert sich und steigt auf, immer weiter und weiter. Wie eine Speerspitze wirkt er und zieht entschlossen der Sonne entgegen.

Wären die Vögel Flugzeuge, man würde sie kaum entdecken. Zu hoch sind sie schon aufgestiegen. Und fliegen über dem Radar.

Wer hätte das heute Morgen noch gedacht!

Sie haben wohl einfach einen Kompass gebraucht.


Sven Marquardt

Interview — Sven Marquardt

Was bleibt

Sven Marquardt, Fotograf und Gesicht der Berghain-Tür, dokumentiert mit seiner Kamera seit Jahrzehnten das Vergängliche. Seine Bilder sind Teil des fotografischen Gedächtnisses nicht nur einer ganzen Stadt, sondern einer ganzen Zeit. Dabei fotografiert der Mann der Nacht ausschließlich mit Tageslicht.

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Ole Westermann

Es gibt Orte auf der Welt, denen sagt man nach, sie könnten die spannendsten Geschichten erzählen. Wenn man dort sei, so heißt es, müsse man nur für einen Moment innehalten, die Augen schließen und einem leisen Flüstern lauschen – und schon würde man mitgenommen auf die Reise in eine andere Zeit.

Die Oranienburger Straße gehört zweifelsohne zu jenem Kreis geschichtsträchtiger Orte, die etwas zu erzählen haben, wenn man sie nur lässt. Schon seit knapp 800 Jahren liegt sie im Herzen Berlins und breitet sanftmütig zwischen Hackeschem Markt und Friedrichstraße ihre Arme aus, um alle herzlich zu begrüßen, die sie besuchen wollen.

Unzählige Menschen kamen im Laufe der Zeit vorbei, unzählige gingen auch wieder. Vieles wurde zerstört und vieles wieder aufgebaut, Altes ging und Neues konnte entstehen. So stapelten sich Geschichten über Geschichten, angesammelt über Jahre und Jahrhunderte.

Wer sich wie wir an diesem Freitagmorgen die Zeit nimmt, um auf den Stufen des Kaiserlichen Postfuhramts bei geschlossenen Augen die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zu genießen, dem erzählt die Oranienburger Straße leise ihre jüngste Geschichte: vom traurigen Abschied des C/O Berlin aus jenen ehrwürdigen Gemäuern, auf deren Stufen wir uns gerade niedergelassen haben.

Dort, wo sieben Jahre lang die Ausstellungsräume des C/O Fotografie-Forums beheimatet waren, hat nun irgendein Medizintechnik-Hersteller seine Flagge gehisst, die antriebslos im Wind flattert. So ist das eben dieser Tage in Berlin. Gibt es denn nichts, was bleibt?

So sitzen wir also am späten Vormittag vor dem Postfuhramt in der Sonne, schweigen und laufen Gefahr, in tiefen Wehmut zu verfallen. Doch plötzlich werden wir ins Hier und Jetzt zurückgeschossen: Vor uns baut sich ein freundliches und zuversichtliches Lächeln auf, das von einer großen dunklen Sonnenbrille eskortiert wird.

Lächeln und Sonnenbrille gehören beide zum Fotografen Sven Marquardt, mit dem wir heute zum Interview verabredet sind. Pünktlich auf die Minute erscheint er am vereinbarten Treffpunkt vor dem ehemaligen C/O und begrüßt uns mit einem herzlichen „Guten Morgen! Na, alles gut bei euch?“

Klar, alles gut. Gemeinsam laufen wir in das nur wenige Meter entfernte Café Oranium, um uns bei Kaffee und frischgepresstem Orangensaft zu unterhalten. Über ihn, seine Kunst und sein Leben.

Jonas:
Auf dem Opener deiner Website findet man das Zitat „Wilde Menschen hinterlassen wilde Dinge – Schlangenhäute, so dass man sich an sie erinnert, damit ihresgleichen nachfolgen kann.“ Bist du Fotograf geworden, weil du selbst irgendwann auf die Schlangenhaut von jemandem gestoßen bist, dem du nacheifern wolltest?

Sven:
Ne, da gab es niemanden. Als ich so etwa 16 Jahre alt war, herrschte bei mir ehrlich gesagt totale Orientierungslosigkeit. Damals habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Was will ich machen, was will ich werden, was will ich lernen? Darauf hatte ich erstmal absolut keine Antwort. Es gab in mir auch nicht diesen riesengroßen Wunsch, mich irgendwie kreativ verwirklichen zu müssen.
Nur eine Sache wusste ich ganz genau: Auf keinen Fall wollte ich in einem miefigen Büro sitzen oder in irgendeiner Halle Werkzeuge fertigen. Ich habe Ende der 70er einfach eine klassische Fotografen-Ausbildung begonnen und auch durchgezogen – aber eher deshalb, weil die Fotografie für mich eher ein Handwerk und eine Dienstleistung war, die überall gebraucht wurde. Erst im Laufe der Zeit und auch eher zufällig wurde das Fotografieren für mich zu einem Ausdrucksmittel, das genau das transportieren konnte, was mich beschäftigt – diese Bedeutungsebene gab es ganz am Anfang einfach noch nicht.

Die Leute fühlten sich durch meine Bilder irgendwie verstanden.

Jonas:
Wie genau kam es zu dieser Veränderung?

Sven:
Während meiner Fotografenausbildung erhielt ich irgendwann einen Musterungsbescheid. Wie jeder sollte auch ich zur Armee. Das habe ich aber total abgelehnt, ich wollte da auf keinen Fall hin.
Meine Familie sagte dazu nur: „Das wirst du nicht schaffen.“ Man muss wissen, dass diese Einstellung zu DDR-Zeiten als eine gegen den Staat gerichtete Haltung galt und daher nicht ganz ungefährlich war. Ich musste also versuchen, etwas schlauer zu sein und mir was einfallen zu lassen: Immer wieder habe ich mir daher ärztliche Atteste besorgt. Und auf die Atteste folgten Therapieversuche, Überweisungen und Einweisungen. So wurde ich bei der Musterung über Jahre immer wieder zurückgestellt, bis ich schließlich ganz ausgemustert wurde.
Bei einem dieser Therapieschritte sollte man irgendwann mal etwas gestalten, was mit einem selbst zu tun hatte. Also habe ich Gedichte ausgeschnitten und sie zusammen mit Portraits, die ich geschossen hatte, aufgeklebt. Die Leute, die meine Bilder sahen, sagten mir, dass meine Fotografie genau das erzählte, was sie selbst bedrückte. Sie fühlten sich durch meine Bilder irgendwie verstanden.
Das war zwar total schön, aber hat bei mir noch keinen Klick ausgelöst. Ich war zu der Zeit gerade mit meiner Ausbildung fertig und wusste schon wieder nicht, was ich machen soll und womit ich mein Geld verdienen will. Also habe ich erstmal angefangen zu jobben, war unter anderem Kleindarsteller beim Film und Statist am Theater. Die Atmosphäre dort habe ich sehr gemocht – hier gab es einfach mehr Freigeister und nicht so viele Linientreue wie sonstwo.
Irgendwann – ich glaube es war 1982 – bin ich im Prenzlauer Berg der Familie von Robert Paris begegnet. Das war ein entscheidender Moment in meinem Leben. Robert’s Mutter war Fotografin und nahm sich die Zeit, meine Bilder anzuschauen. Sie meinte nur: „Mach’ mal ruhig weiter! Und wenn du Lust hast, komm’ vorbei und zeig’ mir, was du fotografiert hast – ich schau’ mir das gerne an. Hier stehen die Türen jederzeit offen für dich.“
Da habe ich gespürt, dass ich tatsächlich damit weitermachen musste, um herauszufinden, was mit meinen Fotos noch so passiert – und habe immer mehr Menschen portraitiert.

Jonas:
Manchmal braucht es eben solche Begegnungen im Leben…

Sven:
Absolut! Auch die Begegnung mit Robert Paris selbst war ziemlich wichtig für mich. Zu Ostzeiten hatte Robert etliche Stellen der Stadt fotografiert: Häuser, Straßen – aber immer ohne Menschen. Alles wirkte total verlassen. Wenn man damals früh morgens vor dem Berufsverkehr oder am Wochenende losgezogen ist, war Ostberlin auch tatsächlich wie ausgestorben – sogar im Sommer. Ein Nachtleben gab es ja hier zu DDR-Zeiten nicht.
Irgendwie teilten wir beide einfach das gleiche Lebensgefühl – und so fügten sich im Jahr 1984 Robert’s Stadtbilder und meine Portraits zu unserer ersten gemeinsamen Ausstellung zusammen. Als seine und meine Fotos an den Wänden nebeneinander hingen, merkten wir, dass sie irgendwie zusammengehören und ziemlich gut zueinander passen: Ich hatte die Menschen zu seinen verlassenen Gebäuden und leeren Straßen – und umgekehrt.

Jonas:
Was für ein Gegensatz!

Sven:
Ja, total. Übrigens: Robert bringt jetzt nach langer Zeit wieder einen Bildband heraus, der den Titel „Entschwundene Stadt“ trägt. Darauf bin ich sehr gespannt! Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen – nach dem Mauerfall haben wir uns eines Tages aus den Augen verloren. Robert lebt seit etlichen Jahren in Indien, ich selbst bin Berlin treu geblieben.
Seit einigen Jahren sind wir aber wieder in Kontakt. Jeder lebt sein Leben, aber es gibt ja Dinge, die auf ewig einen Platz im Herzen haben.

Jonas:
Die Wendezeit scheint ein ziemlicher Bruch in deinem Leben gewesen zu sein, immerhin hast du damals aufgehört zu fotografieren.

Sven:
Ich habe nicht direkt nach der Wende aufgehört, aber Anfang der 90er. Ich war schon wieder orientierungslos. Und die Leidenschaft zur Fotografie war nicht mehr da.
Ich erinnere mich noch gut an ein Shooting für das Tattoo-Studio „Blut und Eisen“: Eigentlich war es ein klassischer Fototermin, reine Routine. Aber während ich so fotografiert habe, habe ich gemerkt: Irgendwas ist nicht mehr da. Ich habe die Kamera weggelegt und gesagt: Ne, ich mag nicht mehr.

Jonas:
War das für dich problematisch?

Sven:
Für mich war das ehrlich gesagt gar nicht so problematisch – für mein Umfeld dafür umso mehr. Das war echt komisch.
Ich habe angefangen in einem Schuhladen zu jobben, für den ich vorher mal Werbebilder gemacht hatte. Leute, die mich noch aus Ostzeiten kannten und in dem Geschäft antrafen, dachten: „Oh Gott, muss der arme Marquardt jetzt in so einem Laden stehen?“
Ich selbst habe das alles aber viel entspannter gesehen: Die alte Zeit hatte ich losgelassen und war jetzt dabei, etwas Neues zu suchen – das hatte ich nur einfach noch nicht direkt gefunden.

Jonas:
Und obwohl die Fotografie mittlerweile ein so wichtiges Ausdrucksmittel für dich war, konntest du ohne weiteres loslassen?

Sven:
Ja, konnte ich. Ich hatte das Gefühl, ich hätte alles gesagt. Ich dachte einfach: Das war’s. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass die Fotografie zu Ostzeiten Sehnsüchte und Wünsche ausgedrückt hatte, die nach der Wende so nicht mehr existierten.
Für mich war das alles komplett abgeschlossen. Meine Sachen hatte ich daher mehr oder weniger ordentlich in Kisten gepackt und weggeschoben. Worauf ich allerdings nach wie vor sorgfältig geachtet habe, war mein Negativarchiv. Das habe ich von einem zum anderen Umzug immer mitgeschleppt.
Alles andere hat mich aber nicht mehr interessiert. Berlin und ich, wir waren beide in totaler Aufbruchsstimmung: Partys, exzessives Leben, viele Tätowierungen.

Schon zu Ostzeiten war ich einfach schwer einzuordnen.

Jonas:
Du hast dich zu der Zeit aber nicht stumm gefühlt…

Sven:
Ne, ich bin ja in ein komplett neues Leben eingetaucht, was mir sehr viel Spaß gemacht hat. Ich hatte meine Jobs, um mich über Wasser zu halten, und war nicht der Meinung, dass mir was fehlt.
Auch mein Freundeskreis hat sich dadurch extrem verändert. Mit den ganzen Leuten von früher hatte ich irgendwann nichts mehr zu tun. Viele von denen sind einen ganz anderen Weg gegangen, haben Karriere gemacht und arbeiten heute beispielsweise als Dozenten. Ich bin einfach einen anderen Weg gegangen – schon zu Ostzeiten war ich einfach schwer einzuordnen.

Jonas:
Könntest du dir nicht vorstellen, auch als Dozent zu arbeiten?

Sven:
Ich hatte vor einiger Zeit tatsächlich ein Angebot von Werner Mahler an der Ostkreuzschule, wo ich einmal im Monat als Gastdozent aufgetreten wäre. Dieser Termin wäre allerdings immer am Wochenende gewesen, was für mich bedeutet hätte, mit dem Türjob im Berghain kürzertreten zu müssen. Ich hatte das Gefühl, dass das gerade irgendwie zu früh kommt.

Vielleicht wollte ich damals einfach etwas festhalten, weil alles um uns herum so vergänglich war.

Jonas:
Im Jahr 2003 hast du dann doch nochmal zur Kamera gegriffen…

Sven:
Ja! Das war zu der Zeit, als das Ostgut zugemacht hat – der Vorgängerladen des Berghain. Ich hatte damals dort gearbeitet, in einer der Hallen am ehemaligen Ostgüter-Bahnhof, wo jetzt die O2-Arena steht.
Damals bin ich an den freien Wochenenden zusammen mit meinem Kollegen Jan durch die Stadt gezogen. Wir mussten beobachten, dass immer mehr vom alten Berlin verschwindet, wie zum Beispiel die Rummelsburger Ecke oder Alt-Stralau, wo jetzt teure Apartments stehen.
Jan hat mich als Mensch zu dieser Zeit sehr inspiriert. Er hat mich dazu gebracht, wieder die Kamera in die Hand zu nehmen und ihn zu fotografieren. So sind wieder die ersten Portraits entstanden. Vielleicht wollte ich damals einfach etwas festhalten, weil alles um uns herum so vergänglich war.

Wir unterbrechen unser Interview für einen Moment und zahlen. Während Sven Marquardt seinen Orangensaft austrinkt, packen wir unser Equipment zusammen. Wir wollen noch in Richtung Museumsinsel weiterziehen, um dort einige Portraits von Sven zu schießen.

Während wir das Café verlassen, fällt unser Blick wieder auf das Kaiserliche Postfuhramt. Bei der Errichtung am Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier insgesamt 26 Portraits bedeutender Persönlichkeiten in die steinerne Fassade gemeißelt. Diese Persönlichkeiten hatten sich alle um das Post- und Nachrichtenwesen verdient gemacht und sollten in Erinnerung bleiben – vom persischen König Darius bis zum Physiker Gustav Robert Kirchhoff. 25 der 26 Portraits haben sich bis heute erhalten und trotzen dem Zahn der Zeit.

Jonas:
Du erlebst ja seit Dekaden den Wandel dieser Stadt: Heute Morgen haben wir uns vor dem alten Postfuhramt getroffen, das bis vor wenigen Tagen noch die Heimat des berühmten C/O Berlin war. Am letzten Tag wollten sich tausende Menschen verabschieden, die Schlange war über 100 Meter lang…

Sven:
Ja, das war ein toller Ort. Ich habe gesehen, dass jetzt „Biotronik“ oder sowas dransteht. Ich hätte mich auch gerne verabschiedet, aber ich gehe nicht gerne zu solchen offiziellen Sachen. Es ist aber echt toll, dass so viele Leute die letzte Ehre erweisen wollen.

Jonas:
Wie nimmst du selbst die Veränderung der Stadt über die Jahre wahr?

Sven:
Veränderung gehört zu einer Stadt wie Berlin dazu, ohne Frage. Manchmal laufe ich echt durch die Straßen und denke: Was ist denn hier passiert? Da sieht ein über die Jahre vertrauter Ort plötzlich ganz anders aus. So ist das eben.
Richtig schlimm würde es nur werden, wenn hier so eine Law&Order-Stimmung einziehen würde wie etwa in New York. Dann würde Berlin so glatt werden, dass es mich echt gruseln würde. Aber so lange es Oasen und Rückzugsorte wie zum Beispiel das Berghain gibt, besteht noch Hoffnung… Sven grinst

Jonas:
Welchen Einfluss hat der Job an der Berghain-Tür denn auf deine Fotografie, deine Kunst?

Sven:
Irgendjemand hat vor kurzem mal zu mir gesagt: „Deine Fotos sehen aus, als wären sie nachts entstanden.“ Ich fotografiere aber tatsächlich nur mit Tageslicht. Ich könnte nachts nie ein Foto machen. Trotzdem transportiert die Nacht als solche bestimmt einiges in meine Bilder. Ich sehe ja so viel und habe einen enormen Input durch den Job an der Tür.
Nicht dass ich jetzt irgendjemanden ansprechen würde und fragen würde, ob ich ihn fotografieren kann. Trotzdem nehme ich aus der Nacht eine gewisse Inspiration mit – von der Art der Menschen.

Wir haben die Museumsinsel erreicht und betreten das Palais am Festungsgraben, das sich direkt an dem Kastanienwäldchen hinter der Neuen Wache befindet. Einst saß hier der preußische Finanzminister, nach dem Zweiten Weltkrieg dann die sowjetische Militäradministration und später die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in der DDR.

All das ist seit vielen Jahren schon Vergangenheit. Wo damals noch Finanzbeamte, Militärs und Funktionäre saßen, hat sich heute ein kleines, aber feines Theater etabliert.

Im ersten Stock des Palais entdecken wir große, verspiegelte Räume. Auch wenn man ihnen ansieht, dass sie bereits ein gewisses Alter erreicht haben, strahlen sie immer noch eine unerschütterliche Würde aus.

Für einen Moment schließen wir die Augen und lauschen – denn dies scheint ebenfalls einer dieser Orte zu sein, der eine Geschichte zu erzählen hat und uns mitnehmen will auf die Reise in eine andere Zeit.

Währenddessen sind aus Erdgeschoss leise Stimmen zu hören, die ab und zu von einem Klavier unterbrochen werden – die Proben des Ensembles sind gerade in vollem Gange.

Jonas:
Hat Musik für deine Fotografie eigentlich auch eine gewisse Bedeutung?

Sven:
Ja, Musik ist nicht so ganz unwichtig. „Atoms for Peace“ sind vor kurzem im Berghain aufgetreten. Da hab’ ich mich unten in die Säulenhalle geschlichen und alles aufgesaugt, was die gespielt haben. Das war richtig gut.
Und mein Taxifahrer hat mir vor ein paar Tagen ein Album von Martyn Bates in die Hand gedrückt. Das hab’ ich ebenfalls sehr gemocht.

Jonas:
Wenn Musiker irgendwo Schlangenhäute hinterlassen, tun sie das in der Regel durch ihre Songs. Ist es dir ebenfalls wichtig, dass etwas von deiner Kunst bleibt?

Sven (lächelt):
Es gibt ja zwei Bildbände von mir. Wenn die noch einen Moment da bleiben, reicht mir das eigentlich. Neulich gab es auch eine Ausstellung in der Berlinischen Galerie, wo die Werke von etlichen ehemaligen Ostfotografen zu sehen waren. Auch von mir waren einige Fotos dabei, das war echt toll.
Ganz allgemein finde ich es aber auf jeden Fall wichtig, etwas zu hinterlassen. Das muss einfach eine gewisse Zeitlosigkeit haben, damit es über den Zeitgeist hinaus noch die nächste und übernächste Generation hinaus berühren kann.

Die Zeit ist ja auch zu kostbar, um sie dazu zu verbrauchen, jemand anderen verändern zu wollen.

Jonas:
Wilde Menschen hinterlassen wilde Dinge…

Sven:
Hmm… Irgendwie bin ich ja immer ausgebrochen und habe etwas anderes gemacht als das, was von mir erwartet wurde. Diesen klassischen Weg gab es bei mir einfach nicht – ich bin immer gegen den Strom geschwommen.
Daher habe ich auch über die Jahre viele Auseinandersetzungen innerhalb der Familie erlebt. Trotzdem stand zum Beispiel meine Mutter letztlich immer hinter mir, ganz egal wie chaotisch alles war.
Die Zeit ist ja auch zu kostbar, um sie dazu zu verbrauchen, jemand anderen verändern zu wollen. So war ich mein Leben lang einfach immer ein Stück weit unangepasster. Und vielleicht auch etwas wild.

Sven Marquardt wirkt gerade sehr zufrieden, seine tiefen Augen funkeln. Geduldig und schweigsam lässt er sich noch einige Minuten in den weiten Räumen des Palais ablichten, dann sind alle Fotos im Kasten.

Während man ihn so beobachtet, wirkt er selbst wie einer jener unerschütterlichen Orte, deren Geschichte man mit jedem Atemzug inhalieren kann, wenn man nur die Augen schließt und lauscht, um mitgenommen zu werden auf die Reise in eine andere Zeit.

Wir verabschieden uns herzlich. Während wir noch unser Equipment zusammenpacken, macht sich Sven schon auf den Weg und entschwindet in die Frühlingssonne.

Wenig später sind auch wir soweit und laufen zurück zum Postfuhramt. Hier, wo uns heute Morgen noch ein leises Gefühl von Wehmut packte, fällt unser Blick nun auf die steinernen Portraits, die sich aus der Fassade heraus dem Tageslicht entgegenstrecken.

Die Flagge des Medizintechnik-Herstellers, die immer noch antriebslos im Wind flattert, scheinen die 25 Köpfe nicht wirklich zu beachten – ihr Blick gilt einzig und allein dem Licht.

Stolz wirken sie dabei. Und etwas wild.

Das ist es, was bleibt.


Pierre-Louis Denaro

Submission — Pierre Louis Denaro

Stop Wondering

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text & Photo: Pierre-Louis Denaro

For me, it’s funny: This question-‘What is my night?’ What do you mean by that? What do you want to know? Well, maybe what I do during the night? What I don’t do? What I wish I would do?

Unfortunately, if you’re looking for a literal answer, a typical night for me consists predominantly of…sleep. Not that fancy huh? I agree. But that’s not the way I would like it to be. I have never been one of those people who look forward to going to bed. Ever since I was a little kid, I have purposefully plotted to stay awake past my bedtimes, abused my nightly recommended hours of sleep and devoted large portions of my time in trying to persuade my parents why they should “let me stay up an extra half hour even though I am only ‘x’ years old”. “Why?” –I here you ask with great confusion.

Well, it’s pretty simple actually; I don’t like sleeping. I see it as a waste of lifetime. A third of their lives humans spend sleeping? It’s absurd! I mean, think about it, imagine you’re going to live to a grand ninety years old: Thirty years of that will be spent lying down with your eyes shut! Scary thought huh? Well, that’s exactly the thought that fuels me to fight fatigue when night comes. There’s just too much stuff I could be doing, places I could be going to, goals I could be working towards. Thoughts like these are the causes of all my tossing and turning at night. They are the reason I am practically a semi-insomniac.

So what do I do about my problem? After all, I am not superhuman; everybody needs to recharge their batteries once in a while. But how do I do this without contradicting my pre-stated stern opinion about our traditional nocturnal activity? Well, over the years, I have developed the following guideline: go to bed late and wake up early. I know, it is not the healthiest of mottos. But for me, night time is not anything different from day time. For me, it’s just the day continued but with a little less light in the sky.

So what do I get up to after dark? I’ve decided to stay up so what am I going to do with my time now? Well that really depends. Occasionally, I’ll be boring and go for a jog by twilight. Other times, I’ll go out to shoot some night photography, stay in to edit my latest short film, or when things get really ‘crazy’, I’ll go out at midnight and practice holding handstands in the middle of the Plaza del Castillo in Pamplona, Spain [if you feel so inclined, you can see a video edit that I made of my trip to Pamplona on my YouTube channel].

However, I’m still studying, and as a student [and I’m sure if you are a student reading this you will agree with me here] you frequently find yourself doing late night studying. And to be honest, that bothers me a little bit.

Whether I’m pulling an all-nighter or catching up on missed classwork, I often feel frustrated that I have to do this work, which half the time doesn’t fully interest me, but then again I am a student who knows his priorities. In fact, I’m currently doing extra studying every other night as I plan on applying to American universities in a year’s time. Anyway, as a student you are tied by school, you are forced to make compromises and obliged to carefully choose ‘your nights’. Whoever said “When you are young, you can do anything” is full of crap.

So what am I getting at? What’s the big picture here? I think it’s all about taking advantage; taking advantage of what you can make happen, stop wondering “what if” and start doing the things you really want to do. To quote Mr DiCaprio from Titanic; “I figure life’s a gift and I don’t intend on wasting it”, and that’s how I’m taking advantage. I’m taking advantage of my night.


Viktor Gårdsäter

Submission — Viktor Gårdsäter

Welcome To Barcelona

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text & Photo: Viktor Gårdsäter

I was 19 and the bus had just stopped at Plaza Cataluña. Along with my friends Farzad and Gustav, I grabbed my bag and went for the exit of the bus. It was early evening and the sun was about to set. It was my first time in Barcelona and my expectations were huge. Just as we got out of the bus, we heard someone scream. When we looked up, a man was running away with a big bag and after him came a screaming older man. The bag was too heavy though, and after just a few meters the man dropped it. But instead of running away he just stopped and stared. The older man picked up his bag, yelled something to the man and returned to his wife by the bus. Still, the guy was just standing there, staring. And so did we. Then, out of nowhere, another big man came and threw the thief to the ground and put handcuffs on him. It was like a play. The two of them walked back to the older man and they all just stood there, quietly talking for several minutes. We just stared. Welcome to Barcelona.

“Ooookey, let’s find a hotel…to put our bags”– That was our next thought. This was pre-Iphone and we wanted to be spontaneous, so we hadn’t booked a hotel. I like that, being spontaneous while traveling, too bad this weekend everything was fully booked. Everything. Apparently, we had picked the biggest Spanish holiday of the summer for our travel. We walked to the cheapest hostels in Raval and to the big four star hotels by the sea. The receptionists just smiled at us. “If you had asked eight weeks ago, maybe we could have gotten you something”. It was almost midnight and we started to get desperate.

Hours passed and again we walked the “La Rambla” down. Still no luck. Halfway through, we took a right-hand corner into a small street to check out another hostel.

Then a left turn into an even smaller empty street. We were in the middle of a conversation and didn’t notice a gang of young guys that leaned against the wall in front of us. We stopped talking and so did they. We kept walking, looked straight ahead and tried to look as unconcerned and calm as possible.

One of the guys came up to Gustav and put his arm around him. It looked like he was trying to dance with him. Gustav started to laugh and then out of nowhere the guy dropped a big chef’s knife.

At that moment, you think you would probably just turn around and run like hell. Instead, Farzad said happily “Hey man, you dropped your knife!”. What? His friends were laughing in the background while the guy picked up his knife and pointed it at us. Then, we ran. We didn’t stop until we were back at the crowded pedestrian street. Welcome to Barcelona.

I looked back and there was no one behind us. While we were aimlessly walking and thinking about what to do, we heard a familiar song. It was the song “747” by the Swedish band “Kent”. We followed the sound, which came from a small night open falafel restaurant. The blonde girl behind the counter had a nametag that said “Anna” and it turned out she was Swedish. She barely had any customers so we sat down, ate a falafel and told her about our first night. She instantly replied “I live in an apartment together with eight Catalans, I’m off in 20 minutes, you can stay with us, if you want?”. That’s happiness.

A few moments later, she met us outside the restaurant and we headed towards her apartment. It was almost morning and the first beam of light had reached the rooftops. She smiled at us and said “Welcome to Barcelona”.


Anna Roxenholt

Submission — Anna Roxenholt

N.I.G.H.T.S.

14. April 2013 — MYP No. 10 »My Night« — Text: Anna Roxenholt, Photo: Katja Hoffmann

I close my eyes.
Escaping.
In to that soft cotton.
Behind my eyelids.
Sleep is embracing.
Breathe in.
Breathe out.
The dawn brings back the light.

It’s dark and I walk through the woods.
The moss devours my rubber boots.
I like the sound.
It’s the only sound beside the rustling of the trees.
The night reshapes everything again, gives it new names and contours.
Everything dirty becomes invisible or beautiful for a while.
All the clean and the clear is sleeping.
I put my hand to the ground.
The sky is resting on my head.

We’re pretending to be vampires just to get to taste it.
Biting in arms, fingers, shoulders.
We’re on the floor in a garage.
With lips.
In a garage.
On the floor.
We did nothing.

The river is calm now, at least on the surface.
Clouds are covering the moon.
Somewhere there is a light, but not here.
I dream that everything is forgiven.

Midsummer.
A man singing My Funny Valentine.
A lone couple dancing in the barn.
I’m twelve and I feel grown up.
Everyone has flowers in their hair.
The grass is wet from the dew.
It’s half past one and already getting light.
Days are getting shorter but we don’t think about that right now.

I’m dancing.
I’m dancing.
I have never danced this much.
Getting blisters on my feet.
Not noticing.
I’m dancing.

Stay up all night.
Talk about stuff.
Everything feels important.
But it’s not.

Christmas decorations and piano stools.
Tea and sandwiches.
Old school books.
Heirlooms.
Garage sale.
The clock always slightly ahead.
The street quiet even though it’s Saturday.
What did become of it all.
The kiss on the street.
The tall & slender boy.
The neighbour lady.
Making out in the laundry basement.
Bright nights and endless longing.
Everything’s the same.
Everything’s different.
The eurovision song contest without sound and the right song wins.
The sofa is worn.
Grandma’s grand piano.
The smell of instant coffee.
Biking to the sea.

Time rushes forward like a fast train and I’ve booked an SMS ticket.


Felix Kessler

Submission — Felix Kessler

Allein mit der Nacht

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Felix Kessler

Die Nächte von Montag bis Freitag haben ihren Platz am Schreibtisch oder am Computer. Da sitze ich im Licht meiner Tischlampe und arbeite für die Schule oder die Fotografie. Müde von der Schule nachhause kommend verlege ich einen Teil der Nacht auf den Nachmittag und halte eine Siesta.

In Nachtschichten mache ich mir dann einen Mitternachtstee bei guter Musik, die mich wachhält. Wieso sollte ich auch wichtige Arbeiten am Tage verrichten, wenn mich ein Jeder und Alles ablenkt? Die Nacht ist so viel beruhigender und bringt mich viel weniger von meinen Zielen ab.

Nächte von Freitag bis Sonntag verbringe ich oft draußen. Außerhalb meiner vier Wände wirken sie so ganz anders auf mich. Straßen werden leerer, die Luft kühler, die Geschäfte einsamer.

Sterne funkeln vom Himmel wie Diamanten eines Colliers. Ihr Licht trifft auf das der Straßenlaternen, mit dem sie ein eigenes Ganzes bilden. Die nächtliche Ruhe hat den Tag beendet. Mystisch und undurchschaubar legt sie sich über den Tag – es gibt nur noch die Nacht und mich. Ich erfahre ein ganz eigenes Gefühl der Freiheit, das die Sorgen des Tages nicht mehr kennt.

Ungebunden an Pflichten, kann ich frei entscheiden, was ich mit der noch jungen Nacht anstellen will. Wenn junge Nächte auf junge Menschen wie mich treffen, beflügeln sie zu einem starken Abenteuerdrang, der zu einem größeren Erfahrungsschatz und neuen Eindrücken führt. Amerika wurde bestimmt bei Nacht entdeckt.


Philipp Höbel

Submission — Philipp Höbel

Nacht aus Gold

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Philipp Höbel

Sinne entlassen
aus weisenden Bahnen
Lösen die Bande
Des leichternden Tages Den Kompass verhindern
Traumpfade finden
Im Dunkel der Nacht
Und du dann
Und dir dann
Mit dir dann
Mich sachter noch
nachten

Ein alter Mensch hat in seinem Leben rund 29200 Nächte erlebt. Doch an welche Nächte wird er oder sie sich am Ende des Lebens noch erinnern? Es sind die goldenen Nächte, die man niemals aus dem Gedächtnis verlieren wird.

Eine goldene Nacht, eine legendäre Nacht. Eine Nacht, die sich von allen anderen unterscheidet. Jeder Mensch erlebt in seinem Leben seine ganz besondere persönliche Nacht aus Gold.

Doch wie muss diese aussehen oder ablaufen?
Du legst auf mit deinem größtem Idol im bekanntesten Club der Stadt und spürst, wie dir Adrenalin durch die Adern schießt. Du feierst den Beginn des neuen Jahres mit tausend Anderen, als wären sie deine Freunde fürs Leben mitten in der Stadt unter dem Horizont. Du gehst auf ein Konzert und siehst dein Star so nah wie noch nie zuvor und fühlst dich für eine kurze Zeit wie der König der Welt.

Du liegst mit deiner großen Liebe auf einer Weide und geniest still diesen einen Moment, während die Sterne auf dich herab funkeln. Du sitzt mit deinen engsten Freunden an einem Tisch, lachst und trinkst mit ihnen bis in den frühen Morgen.

Dies alles sind Augenblicke, die eine Nacht mit Gold übergießen.

Genieße jede Nacht, als wäre sie aus Gold, denn sie könnte für dich zum unvergesslichsten Moment deines Lebens werden. Sinne entlassen


Pinar Cakmak

Submission — Pinar Cakmak

Nachts

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto:Pinar Cakmak

schritt um schritt
stein um stein
kleinste fugen
gefüllt mit erde
darauf moos
kleinstes leben
starker duft
mensch der
groß übergeht
mit nur
einem schritt
unzählige fugen
der boden zu
wänden geworden
schleicht dennoch
grau und grün
nun in die
höhen hoch
ich sehe mich
wie ich
mich sehe
mich
sehe ich
wie ich
sehe mich?
ich sehe viel
grau
hell grau
dunkel grau
gesprenkelt grau
geputzt grau
gestrichen grau
gefärbt grau
geblichen grau
zerstört grau
wie von bücherseiten
geblättert
erscheinen
fenster
finstre
fenster
frei der
finsternis
ausgesetzte
fenster
innen finsternis
hier die
finsternis
fenster die
nicht fenster
sind
fenster
nicht als
fenster
fungierende
fenster
fassaden
beleidigt
mit
finstren
fenstern
füllen
meinen
ausschnitt
von welt
aus eigenen
finstren
fenstern
schaue
in andere
finstre
fenster
höre
des menschen
stimmen
stimmen
bestimmen
stimmen
übereinstimmen
stimmige
stimmen
stimmen die
stimmung machen
verstimmte
stimmen
stimmen
überstimmen
stimmen umstimmen
stimmen die
einfach stimmen
stimmlose
stimmen
jalousien
gefechert
vorhänge
zerfetzt
in jedem
bruch
eine zahl
15
17
14
und die
karte
trostlos
gekritzelt
pinar


Fabian Krüger

Submission — Fabian Krüger

Der Fotograf und die Nacht

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Fabian Krüger

Es heißt, die wichtigste Eigenschaft eines Fotografen sei Geduld. Vor allem die Nacht stellt ihn auf eine ziemliche Geduldsprobe. Was im Tageslicht noch leicht von der Hand geht, braucht im Dunkel der späten Stunde weitaus mehr Beachtung: Bildausschnitt festlegen, manuell scharfstellen, …

Wie kann sie einen quälen, diese Nacht! Aber wehe, man nimmt sich für das Belichten oder Scharfstellen zu wenig Zeit! Dann heißt es nachjustieren, neu einstellen, wieder den Auslöser drücken und: warten.

Nach zwei oder drei Versuchen hat man dann das erste Motiv fertig. Gerade im Winter ist man dabei schnell durchgefroren. Warm ums Herz wird es aber wieder, wenn man mit einem Ergebnis belohnt wird, das das Frieren und Warten allemal wert war. Das ermutigt einen, weiterzuziehen und sich ein neues Motiv zu suchen.

Aufnahmen, die nachts entstehen, sind etwas ganz Besonderes. Sie haben eine Anmut, die der Tag nicht schaffen kann – und es entsteht ein Bild, das man so nicht sehen kann: Sterne, die man als Punkte am Himmel wahrnimmt, werden zu Linien; Wolken verlieren ihre Konturen und werden zu weichen Flächen; der Horizont leuchtet von entfernten Lichtern. Man nimmt die Umgebung dadurch viel intensiver wahr, gerade weil die Nacht einen dazu zwingt, länger auszuharren, als man vielleicht vorhatte.

Es ist wie eine Hassliebe.

Mit der Nacht und den Fotografen.


Ellie Garcia

Submission — Ellie Garcia

Schmutziger Asphalt

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text & Foto: Ellie Garcia

Meine Nacht ist dunkel, ganz schwarz. Am liebsten sehe ich raus zum Himmel, zur untergehenden Sonne hinter den stählernen Glasbauten, die mir die Sicht nehmen. Ganz leise geht sie unter, nimmt ihre letzten Lichtboten und weiß bemalten Wolken mit. Die noch kalten Tropfen vom letzten Sommerregen funkeln wie Diamanten. Der Himmel tut so, als wüsste er nicht, dass die Sonne ohne eine Verabschiedung geht. Der Himmel wartet auf die Nacht, den Rücken zur Sonne gewandt, genau so wie ich hinter dem ewigen Fenster meiner eigenen Finsternis.
Und die Bühne ist leer für die Dunkelheit, die wie die Pest über den Horizont zieht, eine Schar wilder Pferde, die das Wolkenland erobern. Und schon ist sie da, meine Nacht: kalt, grausam, geheimnisvoll, ein stiller Eroberer.

Die Lichter leisten mir Gesellschaft, im Glauben sie könnten die Sonne ersetzen.
Das blasse Gelb auf dem Asphalt und mein überdimensionaler Schatten öffnen mir das Tor zu einer anderen Welt, zu einer, wo Dunkelheit regiert.
Ich sehe rauf zu den braunen Motten, die um die Lampe kreisen; die neue Sonne aus Menschenhand – täuschend künstlich.

Die roten Lichter der Bar färben mein Gesicht, während ich weiter gehe; weiter die Straße hinunter, vorbei an lauter und fremder Musik aus schallenden Boxen. Tausend Schritte, die mir entgegen kommen, Gesichter der Nacht, kalt, schmunzelnd, frei, anarchistisch. Sie lachen, sehen mich an, gehen weiter bis ans Ende und noch weiter hinaus, klettern auf die Dächer, springen von Haus zu Haus.
Meine Nacht hat tausend Gesichter, doch alle sind teuflisch. Das lange Grinsen und die leisen, hinterhältigen Schritte hinter mir, die fremden und doch bekannten Blicke, tief und endlos.
Die Nacht dauert lang. Je mehr ich auf die Uhr sehe, so länger kommt es mir. Niemand auf den Straßen, alles menschenleer. Sie alle schlafen, wie die Schiffe im Meer.

Da sehe ich sie: die vergessenen Gestalten des Tages, die Könige der Nacht; meiner Nacht.
Schneller als ich es bemerken kann, rasen sie knapp an mir vorbei mit ihren ausgeleierten Tops und den Sonnenbrillen, ihren schwarzen Kappen und mystischen Tattoos von alten heiligen Zeichen einer ausgestorbenen Kultur.
Sie rasen durch die Nacht, reiten auf dem Asphalt, laut, lauter als alles andere.
Im Licht der billigen Automaten springen sie mit voller Wucht, kehren zurück zum Boden, das Skateboard knallt, bricht jedoch nicht.
Niemand hört sie feiern, niemand sieht sie tanzen auf der einsamen Straße.
Ein Funken Ewigkeit in meiner endlosen Nacht. Ein wenig Hoffnung, dass man sie retten kann, die Nacht mit den Sternen und Motten.

Die Stunde wird später, die Zeiger gehen vorwärts. Die letzten Stunden, die ich noch hier verbringe, bis der Tag wieder in voller Pracht anbricht. Ich nehme mir frei, denn niemand fragt, wo ich war; niemand weiß, wo ich bin, wo ich sein werde nach dieser Nacht. Nicht einmal ich selbst. Also gehe ich weiter über die kaputten Ampeln und sehe denen zu, die gelb blinken. Es ist still, stiller als je zuvor und nur ein leichter Windhauch bewegt kurz die Blätter der toten Birke. Ich kann sie hören, die Motten und Heuschrecken. Doch aus der Ferne höre ich etwas anderes und es wird immer lauter, kommt auf mich zu.
Ein junger, betrunkener Revolutionär, der wild die Straße runter rennt. Er stößt mich weg mit einer Glasflasche in der Hand und rennt weiter. Ein paar aufgenähte Zeichen auf seiner Lederjacke, schwarz und blau im Morgenlicht. Noch wartend auf den Rest, auf die Jagenden, stehe ich neben der Ampel, lehne mich an. Doch es kommt niemand. Wovor ist er weggerannt, vor dem Ende der Nacht? Denn ich sehe die Morgensonne ganz langsam hinter den Gebäuden aufgehen. Ein erfülltes Lächeln auf meinen Lippen während ich hier sitze, auf dem warmen Stein und gen Osten blicke. Noch eine Nacht, so unbekannt und unbekümmert, unberührt, frei, original. Die Nacht geht weg aus der Stadt, doch lässt sie die Sterne und den Mond noch da. Denn sie wird zurückkehren.
Morgen noch einmal.
Immer.
Wir warten wie Soldaten des Tages, den ganzen Abend lang, bis sie uns erlöst.
Wir warten auf die Freiheit der Nacht, der Dunkelheit, der Stadt bis sie wieder in ihrer vollen Pracht erwacht.

Meine Nacht lebt mit mir, sie kann ohne mich, sie ist frei, eigen, wild.
Meine Nacht ist unerforscht, wo immer sie ist, verändert sie uns, mich, dich. Sie lebt in der Stadt, auf der Straße am liebsten, in Kneipen, in warmen Schlafzimmern, in noblen Clubs, sie lebt mit uns. Sie lebt in uns. Leise kommt sie aus ihrem Reich voll Licht und Dunkelheit, verweilt, breitet ihre schwarze Decke aus, genießt, verändert, beeinflusst, liebt, lacht, schreit, weint, läuft am Horizont, versteckt uns.
Ich schlafe nicht, denn die Dunkelheit meiner Nacht macht mir Angst.
Sie wartet und ist präsent, wenn du deine Augen zu machst. Sie sieht dir zu, wie du schläfst.
Sie wartet auf dich, auf deine Seele.
Komm mit uns.
Reiche meiner Nacht deine Hand.
Und wir werden sein,
wir werden singen, tanzen und springen auf dem schmutzigen Asphalt,
wenn niemand uns sieht und hört….in meiner Nacht.
Wir sind am Leben.
Wir sind frei.
Wir sind wach.