Interview — Tobias Auner

Ein guter Freund

Tobias Auner glaubt, dass in jedem Mensch das Bedürfnis steckt zu tanzen. Wir haben den jungen Tänzer und Choreograph aus München für eine kleine Videoproduktion gewonnen und reden nun mit ihm über Konkurrenzkämpfe, Selbstzweifel und Vorurteile. Und natürlich über das Tanzen.

29. November 2015 — MYP No. 19 »Mein Protest« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Maximilian König

Ein Burgerladen in Friedrichshain an einem späten Sonntagabend. Viel los ist nicht mehr, die meisten Gäste sitzen längst zuhause vor dem Tatort und verdauen. Gut für uns, denn so gibt es keine Warteschlange, für die dieser Ort berühmt und auch berüchtigt ist. Also rein in die gute Stube!

Wir nehmen an einem kleinen Tisch neben der Bar Platz, schalten unsere Telefone aus und arbeiten uns durch die endlos lange Speisekarte. Was soll man nur bestellen? Erstmal ein großes, kühles Bier für jeden, das hilft bei der Entscheidungsfindung. Irgendwie fühlen wir uns wie benebelt, denn die Luft riecht nach einer Mischung aus Grill-, Brat- und Fritteusenfett. Auf einigen Tischen liegen die sterblichen Überreste von Bacon, Patties und geschmolzenem Käse, Mayo- und Ketchupspender laufen auf Reserve. Spuren, die erahnen lassen, welche Orgie aus Fleisch, Fritten und Gemüsedeko sich hier heute wieder abgespielt haben muss.

So etwas wollen wir jetzt auch, schließlich bewegen wir uns gerade irgendwo zwischen Hunger und Erschöpfung. Außerdem gibt’s was zu feiern, denn für uns ist der heutige Abend der krönende Abschluss eines langen und intensiven Wochenendes. Gemeinsam mit dem Tänzer Tobias Auner haben wir in den letzten Tagen in und um Berlin ein Musikvideo gedreht, das auf dem Song „Warm Dark Night“ der skandinavischen Band DNKL basiert. Auf den 19-jährigen Münchener sind wir vor etwa einem halben Jahr aufmerksam geworden, als wir unser Interview mit dem Musiker Martin Brugger alias Occupanther vorbereitet haben. In dessen Musikvideo zum gleichnamigen Song „Chimera“ wurde Tobias für die Hauptrolle besetzt und tanzt dort auf eine Art und Weise, wie wir sie bisher nicht kannten. Resolut, ja sogar hart sind seine Bewegungen, dabei aber gleichzeitig harmonisch und absolut präzise. Seine Hände scheinen in einem Moment wie ein Fallbeil die Luft zu spalten, nur um sie im nächsten Moment wieder glatt zu streichen. Und wenn man wegen der Geschwindigkeit und Turbulenz seiner Bewegungen gerade glaubt, er würde fliegen, erlebt man einen Augenblick später, wie sein Körper langsam und kontrolliert zu Boden schwebt.

Doch zurück ins Hier und Jetzt. Tanzen macht hungrig. Und Filme drehen auch. Auf der Speisekarte haben wir endlich unsere Burger- und Pommesfavoriten ausgemacht. Bestellt haben wir schnell, jetzt heißt es nur noch warten. Aber Vorfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude. Vor allem, wenn man sie mit jemandem teilen kann.

Jonas:
Bevor du für unseren Videodreh nach Berlin gekommen bist, warst du zwei Wochen lang in Polen unterwegs. Was hast du dort gemacht?

Tobias:
In Warschau habe ich an einem sogenannten Dance Camp teilgenommen. Das ist eine Veranstaltung, bei der hunderte Leute aus der Tanz-Community zusammenkommen, um in intensiven Workshops Tanzunterricht zu erhalten. Das Besondere dabei ist, dass die Kurse von sehr bekannten Tanzlehrern aus der ganzen Welt geleitet werden. So ein Dance Camp kann mehrere Tage oder sogar Wochen dauern und ist in der Regel recht erschwinglich. Für die zwei Wochen in Polen habe ich etwa 700 Euro gezahlt, inklusive Unterkunft und Verpflegung.

Jonas:
Was genau wird einem dort beigebracht?

Tobias:
In einem Dance Camp lernt man verschiedene Choreographien. Das sind vereinfacht gesagt spezielle Bewegungsabfolgen, die eine Person – der Choreograph – zu einem bestimmten Song entwickelt und festgelegt hat. Eine gute Choreographie hat für die Tanz-Community eine ähnliche Bedeutung wie ein sehr bekanntes Lied für die Allgemeinheit: Wenn man einen bekannten Song im Radio hört und er gute Stimmung erzeugt, singt man automatisch mit. Und wenn jemand in der Tanz-Szene ein tolles Video mit einer guten Choreographie veröffentlicht, wollen die Leute unbedingt lernen, das zu tanzen. Im Dance Camp in Polen hat man am Tag gleich sieben HipHop-Choreographien gelernt: sieben Unterrichtseinheiten á 1,5 Stunden – das war total intensiv.

Jonas:
Kannst du dich noch erinnern, wann du zum ersten Mal in deinem Leben mit Tanzen in Berührung gekommen bist?

Tobias:
Ja, das weiß ich sogar ganz genau. Das war im August 2010, als der Film „Step Up 3D“ herausgekommen ist – ich habe das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen. Damals war ich 15 Jahre alt und wollte zusammen mit zwei Freunden ins Kino gehen. Und da gerade nichts Besseres lief, haben wir uns eben für diesen Film entschieden. Wir haben uns nicht viel dabei gedacht und hatten dementsprechend auch überhaupt keine Erwartungen. Aber als der Film vorbei war, kamen wir alle total begeistert aus dem Kino – was wir da gesehen hatten, wollte uns nicht mehr aus dem Kopf gehen: In knapp zwei Stunden haben wir auf der Leinwand erlebt, was Tanzen bedeuten kann, welche Möglichkeiten es einem Menschen eröffnet und welche besonderen Freundschaften es hervorbringt. Einfach gesagt: Wir haben durch den Film erlebt, was für eine wunderschöne Sache das Tanzen ist.

Jonas:
Was genau meinst du damit, wenn du sagst, dass Tanzen besondere Freundschaften hervorbringt? Zu diesem Zeitpunkt war das Ganze für dich ja „nur“ ein Kinofilm und damit Fiktion.

Tobias:
Unabhängig davon, ob der Film Fiktion war oder nicht, hatte ich den Eindruck, dass Tanzen ganz allgemein eine Verbindung zwischen Menschen aufbauen kann. Ich glaube, das ist auch der Hauptgrund, warum mich dieser Film so fasziniert und Tag und Nacht begleitet hat.
Meinen beiden Freunden ging es ähnlich. Ein paar Tage später sagte einer von ihnen: „Lasst uns doch einfach mal zu einer Tanzschule gehen und das Ganze ausprobieren! Es gibt ja niemanden, der uns daran hindert.“ Also haben wir – erstmal zu zweit – tatsächlich bei einer Tanzschule vorbeigeschaut. Allerdings waren wir an dem Tag viel zu früh dort. Niemand war zu sehen, es war noch kein Betrieb. Und so kamen wir uns etwas komisch vor: Wir waren total eingeschüchtert und wussten nicht, was wir tun sollten.
Irgendwann haben wir eine Tür geöffnet und standen plötzlich in einem Raum, in dem 20 Leute auf dem Boden saßen. Alle Gesichter starrten in unsere Richtung, was für eine unangenehme Situation! Wir sind sofort rausgerannt, das Ganze war uns total peinlich. Erst drei Tage später hatten wir wieder den Mut, erneut dort vorbeizuschauen. Diesmal waren wir zu dritt – und haben uns vorher zur Sicherheit telefonisch angekündigt. (Tobias grinst)

Jonas:
So kamst du zu deiner ersten Tanzstunde.

Tobias:
Ja. Und ich war von der ersten Minute an geflasht. Wenn ich heute daran denke, wie ich mich damals gefühlt habe, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Das war ein unbeschreibliches Gefühl! Als ich nach der ersten Tanzstunde zuhause angekommen bin, habe ich mich sofort in meinem Zimmer eingesperrt, die Musik aufgedreht und weitergetanzt. Ich habe die Bewegungen geübt, die ich gerade gelernt hatte, und im Internet recherchiert, was man noch so alles machen kann. Von diesem Moment an gab es in meinem Leben nichts Anderes mehr.

Jonas:
Hattest du das Gefühl, deinen Körper plötzlich auf eine Art und Weise bewegen zu können, die du bis dahin nicht gekannt hast?

Durch das Tanzen hat sich für mich plötzlich ein Weg aufgetan, der mir ermöglicht, mich zu Musik voll und ganz auszudrücken.

Tobias:
Ich würde es etwas anders beschreiben. Ich hatte schon immer eine sehr starke Bindung zu Musik. Durch das Tanzen hat sich für mich plötzlich ein Weg aufgetan, der mir ermöglicht, mich zu Musik voll und ganz auszudrücken.

Jonas:
Wie genau ist deine erste Tanzstunde abgelaufen? Ich kann mir vorstellen, dass einem Anfänger die allererste Bewegung, die er dort machen soll, gar nicht so leicht fällt.

Tobias:
Natürlich nicht. Es gibt keinen Menschen auf der Welt, bei dem so etwas von der ersten Minute an gut aussieht. Das ist einfach unmöglich. Daher haben wir uns auch in den ersten Unterrichtsstunden in den hinteren Reihen versteckt und versucht, in die Sache hineinzufinden. Mit das Wichtigste sind dabei die Lockerungsübungen ganz am Anfang. Wenn man sich bei diesen Bewegungen als Anfänger im Spiegel betrachtet, sagt man sich ganz automatisch: „Junge, zieh den Stock aus dem Arsch!“ Und dann heißt es üben, üben, üben. Man wiederholt so lange die Motorik, bis man irgendwann an einen Punkt kommt, an dem man behaupten kann: Ich kann das jetzt wirklich. Das Entscheidende dabei ist, dass man von der ersten Bewegung an dranbleiben muss. Und man muss davon überzeugt sein, dass es irgenwann etwas wird.

Jonas:
Haben deine Freunde das ebenso wahrgenommen?

Tobias:
Ja, das ging uns allen dreien so.

Jonas:
Was für ein Zufall, dass drei Freunden nichtsahnend ins Kino gehen und im Anschluss jeder von ihnen das gleiche dringende Bedürfnis hat, mit dem Tanzen anzufangen.

Tobias:
Absolut. Wir konnten damals gar nicht mehr still sitzen und waren mit einem Mal so voller Energie und Inspiration, dass wir irgendetwas damit anfangen mussten. Immer wenn wir uns jetzt getroffen haben, haben wir die Bewegungen aus der Tanzschule geübt – zuhause, in der Schule, einfach überall.

Jonas:
In manchen Teilen unserer Gesellschaft wird Tanzen nicht unbedingt als typischer Jungs-Sport angesehen – im Gegensatz zu beispielsweise Fußball oder Handball. Hattest du jemals mit irgendwelchen Vorurteilen zu kämpfen?

Tobias:
Vorurteile gibt es immer, die machen mir nichts aus. Mein Problem ist vielmehr das Unverständnis. Ich empfinde es oft als extrem schwierig, Leuten zu erklären, warum ich überhaupt tanze. Viele schütteln da nur den Kopf. Das hat dazu geführt, dass ich eine Zeit lang dachte, zwei Persönlichkeiten zu haben, ja sogar zwei Leben zu führen: Auf der einen Seite gab es mein „normales“ Leben mit Familie, Schule und Freunden. Und auf der anderen Seite hatte ich mein Leben in der Tanzschule, wo es für mich um etwas so Großes und Faszinierendes ging, das ich außerhalb dieser Welt niemandem begreiflich machen konnte.
Diese Situation hat mich total verwirrt und in einen großen Zwiespalt gebracht. Meine Eltern wollten, dass ich für die Schule lerne. Ich selbst wollte aber nichts anderes als tanzen. Immer wieder fielen Sätze wie „Bist du komplett bescheuert?“ So etwas konnte ich einfach nicht verstehen, denn für mich war und ist Tanzen das Tollste auf der Welt.

Jonas:
Glaubst du, dein Umfeld hätte verständnisvoller reagiert, wenn du in der Jugend des FC Bayern gespielt und jede Minute mit Fußball verbracht hättest?

Tobias:
Ich denke schon – eine Zeit lang habe ich ja sogar auch Fußball gespielt. Ich habe sowieso immer schon viel Sport gemacht. Fußball, Tennis, Badminton – alles habe ich ausprobiert. Aber das Tanzen hat mich einfach in seinen Bann gezogen. Leider ist das nach wie vor für viele Menschen unverständlich.

Jonas:
Wie könnte man es denn erklären, damit es verständlich wird?

Tobias:
Hmm. Ich könnte sagen, dass Tanzen für mich wie ein sehr, sehr enger Freund ist. Wie bei allen engen Freundschaften existiert auch hier eine starke Bindung: Es gibt keine Probleme, man unterstützt sich und fühlt sich seelenverwandt. Wenn es mir mal schlecht geht, wenn ich wütend oder frustriert bin, kann ich mich zu diesem Freund flüchten und alles vergessen. Gleichzeitig weiß ich, dass dieser Freund auch in den schönsten Momenten immer bei mir ist – wenn ich Spaß habe, wenn ich glücklich bin, wenn ich etwas Neues kennenlerne. Kurz gesagt: Ich kann mit ihm alle Erlebnisse teilen, die entscheidend sind für mein Leben. Das macht Tanzen für mich zu einem ganzen Universum.

So individuell wie die Menschen sind, so individuell ist auch ihre Beziehung zum Tanzen.

Jonas:
Empfinden das andere Tänzer in deinem Umfeld ähnlich?

Tobias:
Das ist schwer zu sagen. Tanzen hat für jeden eine andere Bedeutung. Die einen tun es, um dem Alltag zu entfliehen, die anderen tun es, um Erfolg zu haben, wieder andere sehen es schlicht und einfach als ein Hobby und Zeitvertreib an – so individuell wie die Menschen sind, so individuell ist auch ihre Beziehung zum Tanzen.

Jonas:
Ist Tanzen nicht in erster Linie eine Sportart?

Tobias:
Seit einiger Zeit gebe ich auch selbst Tanzunterricht. Wenn die Leute zum ersten Mal in meinem Kurs sitzen, stelle ich immer dieselbe Frage: Was ist Tanzen?
Die simple Antwort lautet: Tanzen ist Bewegung zu Musik. Diese Bewegung ist es, die das Tanzen zum Sport macht. Wie im Fußball gibt es auch hier bestimmte Bewegungsabläufe, die man ständig wiederholt. Während man allerdings beim Fußballspielen irgendwann alle möglichen Bewegungen einstudiert hat, also beispielsweise laufen, dribbeln, schießen oder passen, kann man beim Tanzen immer wieder neue Bewegungsabläufe entdecken und trainieren. Man lernt da nie aus.
Darüber hinaus gibt es beim Tanzen aber noch die Komponente Musik – und die ist es, die es auch zu etwas Künstlerischem macht. Tanzen verbindet Sport also mit Kunst. Mir persönlich gibt es die Möglichkeit, alles Kreative, was in mir steckt und ich ausdrücken will, mit dem zu verknüpfen, was ich sowieso mag, denn seit meiner Kindheit liebe ich Sport über alles.

Jonas:
Zu einer Sportart gehört es auch, sich mit anderen zu messen.

Tobias:
Für mich persönlich ist diese Competition-Sache eher uninteressant. Ich habe bis heute nicht das Bedürfnis, mich zu messen oder sagen zu können, dass ich besser bin als jemand anderes. Ich finde ohnehin, dass es beim Tanzen kein besser oder schlechter gibt, sondern lediglich eigene Meinungen und Empfindungen: Angenommen, man lässt vor tausend Menschen zwei Tänzer auftreten, einen Profi und einen Anfänger. Ich wette, dass es unter den vielen Leuten einige geben wird, die den Anfänger besser finden. Natürlich ist die Mehrheit der Stimmen immer ein Indiz dafür, dass ein Tänzer gut ist. Aber die Minderheit der Stimmen kann nicht bedeuten, dass ein Tänzer schlecht ist. Das ist etwas, was mich am Tanzen bis heute fasziniert und was mich persönlich antreibt.

Jonas:
Trotzdem gibt es gerade in der Tanz-Szene national wie international zahllose Wettbewerbe. Schon im Film „Step Up 3D“ geht es ja im Prinzip nur darum, sich gemeinsam auf einen Wettkampf vorzubereiten und dann dort alles abzuräumen. Hast du das Gefühl, mit deiner Einstellung eher eine Ausnahme in der Tanz-Community zu sein?

Tobias:
Ich würde auf jeden Fall behaupten, dass es dort nicht viele Leute gibt, die ähnlich denken. Für die meisten geht es im Tanzen darum, ihren Erfolg darzustellen, indem sie behaupten können, bei diversen Wettbewerben Erster geworden zu sein. Ich selbst versuche eher, einen individuelleren Weg zu gehen, da ich mich auch als eine individuelle Persönlichkeit begreife. Ich weiß ganz genau, was mir gefällt und was nicht. Und wenn mir etwas nicht gut tut, schiebe ich es von mir weg. Das ist zwar nicht immer einfach, aber ich habe das Gefühl, dass es das Richtige für mich ist.

Jonas:
Da der gesamte Wettkampfbereich für dich eher uninteressant ist: Gibt es andere Erfolgsfaktoren, an denen du deine persönliche Entwicklung festmachen kannst?

Tobias:
Es ist ja nicht so, als hätte es das nie gegeben. Ganz am Anfang meiner Tanzkarriere hatte ich diesbezüglich ein einschneidendes Erlebnis. Auf meiner allerersten Meisterschaft bin ich gleich in der ersten Runde rausgeflogen und durfte in der Konsequenz den ganzen Tag lang von der Bank aus den anderen bei dem zusehen, was ich selbst gerne gemacht hätte. Von diesem Moment an habe ich es gehasst, schlechter zu sein als andere – dieser Hass war lange Zeit lang meine größte Motivation.
Aber irgendwie habe ich es geschafft, mich aus diesem Negativantrieb herauszuarbeiten und mir eine andere Einstellung anzueignen, mit der ich mich wesentlich wohler fühle. Ich glaube, ich habe heute einfach eine andere Sicht auf die Dinge. Zwar existiert in meinem Leben jetzt kein direkter Wettbewerb mehr, aber das heißt ja nicht, dass ich keinen Ehrgeiz mehr habe. Ich trainiere genauso hart wie vorher – lediglich die Ziele, die ich mir stecke, haben nichts mehr mit anderen Leuten zu tun. Nur noch mit mir selbst.

Jonas:
Warst du schon immer so selbstreflektiert? Oder sind daran die zwei Semester Wirtschaftspsychologie schuld, die du studiert hast?

Tobias:
So doof es auch klingt, aber in diesen zwei Semestern habe ich für mich einiges mitnehmen können. Das Studium hat mir die Möglichkeit gegeben, mich extrem mit mir selbst und meiner Umwelt zu beschäftigen. Ich habe dort angefangen, sehr viel darüber nachzudenken, wie ich handle und wie ich gegenüber meinen Mitmenschen auftrete, genauer gesagt wie ich mich präsentiere. Daher würde ich sagen, dass dieses eine Jahr zu den notwendigsten Dingen gehört, die bisher in meinem Leben stattgefunden haben.
So eine intensive Erfahrung zu machen ist allerdings gleichzeitig gut und schlecht. Man lernt zwar einerseits wahnsinnig viel über sich selbst, aber andererseits sollte man sein Leben einfach leben, ohne groß darüber nachzudenken.

Jonas:
Die Tatsache, dass du überhaupt ein Studium angefangen hast, lässt vermuten, dass du später einmal nicht hauptberuflich als Tänzer arbeiten willst.

Wenn ich irgendwann mal sterbe und auf mein Leben zurückschaue, soll Tanzen nicht das Einzige sein, was ich dann vor Augen habe.

Tobias:
Tanzen ist mein Leben, keine Frage. Aber trotzdem möchte ich mein Leben nicht ausschließlich mit Tanzen verbringen. Das heißt, wenn ich irgendwann mal sterbe und auf mein Leben zurückschaue, soll Tanzen nicht das Einzige sein, was ich dann vor Augen habe. Ich möchte vielmehr auf ein Leben blicken, das voller wunderschöner Erfahrungen war und das mir die Chance gegeben hat, sehr viel zu lernen.

Jonas:
Was war der Grund, warum du das Studium bereits nach zwei Semestern abgebrochen hast?

Tobias:
Da ich mir so viel Zeit dafür genommen habe, mich mit mir und meiner Umwelt auseinanderzusetzen, habe ich mich plötzlich sehr einsam gefühlt. Wenn man sich von morgens bis abends damit beschäftigt, wie die Leute im Kopf funktionieren, ist das sehr bedrückend. Irgendwann war ich an einem Punkt, an dem ich nicht mehr den Mensch vor mir gesehen habe, sondern nur noch darüber nachgedacht habe, wie diese Person tickt.
Ich hatte das Gefühl, nicht mehr befreit leben zu können, und war plötzlich in allem total verunsichert, was ich getan habe. Auch im Tanzen. Ich habe mich immer schlechter gefühlt, weil ich zu viele Gedanken im Kopf hatte. Es ist mir zunehmend schwerer gefallen, einfach intuitiv etwas zu tun. Irgendwann bin ich sogar richtig krank geworden und hatte lange Zeit mit schweren Magenproblemen zu kämpfen.
Das alles wollte ich irgendwann nicht mehr. Ich finde, dieses ganze Denken um das Leben herum macht das Leben selbst viel zu schwer. Es ist letztendlich doch nur wichtig, im Hier und Jetzt zu sein. Alles, was mal war und was noch kommt, kann man eh nicht ändern.

Jonas:
Wie hast du einen Ausweg aus deiner Situation gefunden?

Tobias:
Ich hatte das Glück, dass es in meiner Nähe ganz wunderbare Menschen gab, die mir geholfen haben: meine Freundin, meine Mutter, meine Freunde. Wer weiß, ob mich das Ganze nicht irgendwann total kaputt gemacht hätte, wenn diese Menschen nicht für mich da gewesen wären.
Es ist unglaublich schwer, aus eigener Kraft und Motivation aus solch einem Tief herauszukommen. Für mich war dabei das Wichtigste, überhaupt erstmal meine Situation zu erkennen und richtig einzuschätzen. Erst wenn man einen Punkt erreicht hat, an dem man sich eingesteht, dass gerade alles zu viel ist und bestimmte Dinge einem nicht mehr gut tun, dann ist es mit Hilfe von Familie und guten Freunden auch möglich, aus dieser Lage herauszukommen und wieder Freude zu entwickeln.

Jonas:
A propos gute Freunde: Gibt es noch Freundschaften aus deinem „alten Leben“? Oder besteht dein heutiger Freundeskreis ausschließlich aus Tänzern?

Tobias:
Tatsächlich gibt es nur noch eine Gruppe von sechs Freunden, die keine Tänzer sind. Diese Leute kenne ich schon ewig, mit ihnen kann ich durch dick und dünn gehen. Das bleibt auch so.

Jonas:
Würdest du sagen, dass Tänzer ein besonderer Schlag Menschen sind?

Tobias:
So, wie ich das bisher erlebt habe, sind Tänzer sehr offene Menschen. Das liegt unter anderem daran, dass man als Tänzer regelmäßig gezwungen ist, sich in unangenehme Situationen zu begeben, beispielsweise wenn man vor einem großen Publikum auftritt. Es gibt einen Illusionisten namens Thorsten Havener, der sich sehr ausführlich mit Körpersprache beschäftigt. Er sagt, dass der Mensch mehr Angst habe, vor einer Gruppe zu sprechen, als vor dem Tod. Die meisten Tänzer haben es irgendwann geschafft, diese Angst in Motivation zu verwandeln. Solche unangenehmen Situationen haben daher fast etwas Therapeutisches: Ab einem gewissen Punkt empfindet man den Auftritt vor einer großen Gruppe als ganz natürlich. Soziale Barrieren fallen und es gibt keine Probleme mehr mit Face-to-face-Situationen.
Ich habe diese Entwicklung auch bei mir selbst erleben können. Bevor ich angefangen habe, zu tanzen und selbst Tanzunterricht zu geben, war ich immer etwas zurückhaltender – beispielsweise in der Schule, wenn es darum ging, ein Referat zu halten. Mit der Zeit wurde es aber etwas total Normales für mich, vor Leuten zu stehen, ihnen in die Augen zu sehen und vor ihnen zu sprechen. Diese Entwicklung der Persönlichkeit kann bei Tänzern grundsätzlich positive wie negative Ausprägungen haben. Zwar sind die meisten friedlich, positiv und offen. Aber es gibt auch einige, die arrogant und eingebildet sind, weil sie sich gegenüber allen anderen überlegen fühlen.

Jonas:
Hat man als Tänzer nicht ständig das Gefühl, von Konkurrenten umgeben zu sein?

Tobias:
Klar, ich persönlich kenne das Gefühl, Freunde zu haben, die man irgendwo auch als Konkurrenten sieht. Manche Tänzer nehmen diesen Zustand als sehr extrem wahr und sehen sich in einem ständigen Konkurrenzkampf. Für mich selbst spielt das mittlerweile keine Rolle mehr. Mir ist nur wichtig, ich selbst zu sein – das kann ja auch niemand anderes. Wenn ich das, was ich tue, gut finde, ist es mir ziemlich egal, was andere machen.

Jonas:
Im letzten Jahr wurdest du für die Hauptrolle im Musikvideo des Occupanther-Songs „Chimera“ besetzt. Ist dieser persönliche Erfolg für dich eine Bestätigung deiner inneren Einstellung? Oder hattest du einfach Glück?

Ich bin der Meinung, dass man sein Glück auch ein wenig beeinflussen kann – etwa indem man hart trainiert und jede Chance ergreift, die sich bietet.

Tobias:
Ich glaube nicht, dass dieser Erfolg etwas damit zu tun hat, dass ich mich jedem Konkurrenzkampf entziehe. Ich habe in den letzten Jahren einfach wesentlich mehr an mir gearbeitet als viele andere. Es gab Wochenenden, da war ich von Freitag bis Sonntag durchgehend in der Tanzschule, habe bis drei Uhr nachts trainiert und bin um acht wieder aufgestanden, um weiterzumachen. Ich habe quasi 36 Stunden lang nur reingeballert, weil ich um jeden Preis besser werden wollte.
Natürlich ist bei so einer Sache wie der Besetzung für „Chimera“ auch eine große Portion Glück im Spiel. Man weiß ja nie, wie sich ein Regisseur den Charakter in seinem Film vorstellt und ob man zu dieser Rolle passt. Ich habe Freunde, die für ein Video von Kool Savas besetzt wurden, weil sie total kindlich aussahen und genau so etwas gesucht wurde. Da hätten ältere Tänzer allein aus optischen Gründen keine Chance gehabt.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass man sein Glück auch ein wenig beeinflussen kann – etwa indem man hart trainiert und jede Chance ergreift, die sich bietet. Ansonsten wird man wahrscheinlich nie einen Schritt nach vorne machen. So klein eine Entscheidung manchmal erscheinen mag, so groß kann letztendlich ihre Wirkung sein.

Jonas:
Das Occupanther-Musikvideo zeigt auch für Laien sehr deutlich, dass Tanzen eine Kunstform ist, mit der man wunderbar eine Geschichte erzählen kann. Wie hast du dich deiner Rolle in „Chimera“ genähert?

Tobias:
In einem Musikvideo kann ich mich ja grundsätzlich nicht über Sprache ausdrücken. Das bedeutet, dass ich alles, was ich dem Zuschauer vermitteln will, über meine Bewegung erzählen muss. Daher versuche ich bei jeder Rolle, die Emotionen der entsprechenden Figur in physische Kraft zu transformieren: Je leichter es mir fällt, mich in einen Charakter hineinzuversetzen, desto größer ist auch das Universum an Emotionen, aus dem ich schöpfen kann.
Dabei ist es mir immer wichtig, auch bestimmte Teile meiner eigenen Geschichte und Persönlichkeit mit in die Bewegung einfließen zu lassen – sonst würde ich mich wie eine Marionette fühlen. Für mich ist es einfach essenziell, mir vorab ausführliche Gedanken über einen Tanz zu machen und herauszufinden, was das Ganze mit meiner eigenen Person zu tun hat.
Wenn es nun darum geht, zu einem konkreten Song wie etwa „Chimera“ eine Choreographie zu entwickeln, setze ich meine Kopfhörer auf, schließe die Augen und stelle mir einen Ort oder einen Film vor, den ich mit der Musik verbinde. Aus den Emotionen, die sich daraus entwickeln, leite ich dann Bewegungen ab. Von Johannes Brugger, dem Regisseur, gab es bei „Chimera“ natürlich bestimmte Vorgaben, wie er sich das Ganze vorstellte und wie es letztendlich aussehen sollte. Im Nachhinein sagte er zu mir, dass ich ihm zwar nicht das geliefert hätte, was er wollte, aber dafür etwas anderes – und insgesamt sehr viel mehr. Ich denke, das liegt daran, dass jemand, der professionell tanzt, bei so etwas einfach mehr einbringen und in die Erfahrungskiste greifen kann.

Jonas:
Im „Chimera“-Video scheint der Protagonist in einer ganz eigenen Welt zu leben. Während er sich in seinem Kinderzimmer voll und ganz im Tanzen verliert, platzt plötzlich seine Mutter herein und versteht nicht, was er da tut. Davon lässt er sich allerdings nicht beirren und tanzt weiter. Es gelingt ihm, das Kinderzimmer in eine Traumwelt zu verwandeln, in die er besser zu passen scheint als in die reale. Hattest du bei dem Video das Gefühl, du erzählst dein eigenes Leben?

Tobias:
Die „Chimera“-Story ist tatsächlich gar nicht so weit weg von mir, es gibt da durchaus einige Parallelen zwischen der Hauptfigur und meinem eigenen Leben. Das war für mich sehr hilfreich, denn wenn ich tanze, möchte ich ja auch, dass es etwas mit mir selbst zu tun hat. Manchmal entstehen dabei so tiefe Gefühle, dass ich davon total überrascht werde – weil ich die Intensität dieser Emotionen vorher gar nicht kannte oder lange nicht mehr gespürt habe.

Jonas:
Hast du auch Parallelen zu deinem Leben entdeckt, als du dich auf deine Rolle in unserem „Warm Dark Night“-Video vorbereitet hast?

Tobias:
Ich habe im Song und im Drehbuch wirklich alles wiedergefunden, worüber wir heute gesprochen haben. Als ich mich der Figur genähert habe, musste ich vor allem an die Zeit während meines Studiums denken, als es mir so schlecht ging. Ich hatte plötzlich wieder die Bilder vor Augen, wie ich tagelang im Bett lag und lethargisch die Wand anstarrte. Oder wie ich wie ein Zombie endlos die Facebook-Timeline hoch- und runtergescrollt habe, obwohl ich genau wusste, was da stand. Gleichzeitig gab es damals Momente purer Emotion, beispielsweise als ich mal einen ganzen Tag lang durchgeweint habe. Dadurch schien der ganze Druck, der auf mir lastete, für einen Moment verschwunden zu sein. Diese Erfahrung war absolut notwendig und befreiend.
Um mich optimal in meine Rolle in „Warm Dark Night“ hineinversetzen zu können, habe ich versucht, diese Gefühle der Leere und Aussichtslosigkeit, aber auch die des Schmerzes und der Befreiung in meinem Kopf wieder aufleben zu lassen und daraus meine Choreographie zu entwickeln. Das hat sehr geholfen.

Jonas:
Du sagst, dass dich das Tanzen im Laufe der Jahre im positiven Sinne sehr verändert hat. Bist du der Meinung, dass mehr Leute anfangen sollten zu tanzen?

Tanzen ist etwas, das in jedem Menschen steckt: Jeder hat eine Seele, die tanzen will.

Tobias:
Ich glaube, dass grundsätzlich jeder Mensch tanzt. Mir ist jedenfalls noch nie einer begegnet, der es nicht tut.

Jonas:
Ich selbst zum Beispiel bewege mich gerade überhaupt nicht.

Tobias:
Versuch doch mal, auf die Musik zu achten, die gerade im Hintergrund läuft.

Aus einem Radio hinter der Theke tönt Musik.

Jonas:
Ok. Musik eben.

Tobias:
Genau. Auch wenn du es gerade nicht gemerkt hast, hast du ganz leicht deinen Kopf zur Melodie bewegt. Das ist Tanzen. Dasselbe kann man übrigens bei Leuten beobachten, die in der Ubahn sitzen und über ihre Kopfhörer Musik hören. Die meisten merken nicht, dass sie die ganze Zeit leicht mit dem Fuß stapfen oder mit den Fingern schnipsen – einfach weil sie so sehr in die Musik vertieft sind. Auch das ist Tanzen.
Kein Mensch kann Musik hören, ohne sich auch nur minimal zu bewegen, kein Mensch kann in einen Club gehen und vier Stunden lang irgendwo herumstehen, ohne dass er nichts tut. Und selbst wenn man versucht, sich dort absolut regungslos zu verhalten, ist auch das Tanzen, weil man damit nach außen etwas mitteilt.
Tanzen ist insgesamt etwas sehr Befreiendes. Es gibt afrikanische Kulturen, bei denen das Wort für Musik dasselbe ist wie das für Tanzen. Die Menschen dort können sich gar nicht vorstellen, Musik zu hören ohne zu tanzen und umgekehrt. Tanzen ist etwas, das in jedem Menschen steckt: Jeder hat eine Seele, die tanzen will. Man muss es ja nicht gleich als Sport oder Beruf betreiben. Aber wenn man das Bedürfnis hat, sich zu bewegen, sollte man dem nachgeben – weil es einfach ein superschönes Gefühl ist, für den Moment alles rauszulassen. Und das ist genau das, was die Menschen öfter tun sollten.