Submission — Hanna Becker

Im Herzen Kapitän

14. Dezember 2014 — MYP No. 16 »Meine Stimme« — Text & Foto: Hanna Becker

Wenn die Bahn nicht gerade streikt, dann fahre ich Bahn, meistens ICE und eigentlich auch nur eine Strecke: Berlin Hbf – Düsseldorf Hbf. Manchmal steige ich auch schon in Hamm aus, wenn ich in die Heimat will, hin und wieder fahre ich auch nur bis nach Dortmund, aber meistens sitze ich 4 Stunden und 20 Minuten im Zug. Die angegebene Zeit ist natürlich das Optimum, wenn der Zug mal keine Störung hat oder Verspätung oder sonst irgendwas… und wenn es der ICE ist… IC dauert länger, IC mit Verspätung dauert am längsten.

Doch diese 4 Stunden und 20 Minuten können schneller vorbei gehen, als man denkt. Meistens gibt es in der Zeit immer was zu tun, Mails schreiben, ein gutes Buch lesen oder auch einfach aus dem Fenster starren… aber am besten sind die Fahrten mit ungeahnten Überraschungen.

Auch heute sitze ich wieder einmal für mehrere Stunden im Zug mit dem Ziel: Berlin Hbf.
Wie immer gibt es noch eine Butterbrezel auf die Hand und dazu eine Flasche Cola-Light. „Achtung auf dem Gleis 18, der IC nach Berlin Südkreuz über Essen, Bielefeld, Hannover, Wolfsburg und Berlin Hbf. hält Einfahrt.“, tönt es aus dem Lautsprecher. Platzreservierung gibt es diesmal nicht. Ich hoffe, noch einen erwischen zu können. Das Lustige am IC: Es gibt immer einzelne Abteile mit jeweils sechs Sitzen. Das waren die besten Klassenfahrten… die roten, mit Samt überzogenen „Pull-Sitze“, die man zu einer kompletten Liegewiese ausziehen konnte. Laute Musik, knutschen mit den Jungs und sich total groß fühlen. Es ging schließlich nach Hamburg, München oder Berlin.

Heute betrachte ich die kleinen Abteile eher unter einem anderen Aspekt: Mit wem halte ich es die nächsten vier Stunden aus? Der Banker im ersten Abteil macht einen angespannten Eindruck… also weiter. Es folgen: eine vierköpfige Familie, zwei Männer, die wild auf ihren Computer hacken, ein Mann, der viel zu laut telefoniert. „So, jetzt vielleicht, dann doch mal irgendwo rein.“, ermahnt mich meine innere Stimme.

Durch den ganzen IC laufen macht es auch nicht besser. Ich entscheide mich, einfach der nächsten Sechser-Gruppe beizutreten, egal wer sich dort befindet.

Augen zu, Tür auf und Überraschung. Eine warme Welle kommt mir entgegen, was sich im ersten Moment gut anfühlt. Es folgt jedoch ein penetranter Geruch von Moschus. Als ich die Augen öffne, sitzt am Fenster ein fülliger Mann, ungefähr Mitte sechzig, schwarze Bomberjacke, buntes Hemd und blaue Hose.

„Da musst du jetzt wohl durch“, ist mein erster Gedanke. Mit tiefer Stimme wird der erste Kontakt zu mir aufgenommen: „Guten Tag, kann ich ihnen mit ihrer Tasche behilflich sein?“ „Für eine Bomberjacke ganz nett.“, spricht mein Inneres. Ich hole meinen iPod und meine Cola-Light aus der Tasche mit dem Plan, mich die nächsten vier Stunden abzuschotten. „Wohin fahren Sie denn?“, werde ich angesprochen.

Ich halte inne, lasse meine Hand mit meinen Kopfhörern auf den Schoß sinken. „Berlin Hbf.“, antworte ich mit müder Stimme. „…nach Hause“. Der Mann erzählt mir, dass er von Beruf Busfahrer ist. Zuhause hält er es nicht lange aus. Sein Zuhause liegt irgendwo in der Nähe von Bielefeld.

In London, Paris, Spanien und Frankreich ist er schon gewesen. Eigentlich wollte er Kapitän werden, so wie sein Vater, aber seine Mutter hat es ihm verboten. „Ein Seemann in der Familie reicht.“, hat sie ihm deutlich zu verstehen gegeben. Also hat er eine kaufmännische Ausbildung absolviert, „aber das hat mir keinen Spaß gemacht.“

„Haben Sie denn auch einen Ort, wo Sie mit ihren Reisegruppen am liebsten hinfahren?“, will ich von ihm wissen. Das Gespräch macht mir Spaß. Es ist sehr selten geworden, dass ein Fremder sich so mitteilt. „Am liebsten fahre ich nach London, mit der Fähre von Calais nach Dover. Dann trinke ich mir eine Tasse Kaffee auf der Fähre und schaue mir dabei die Kreidefelsen an… einfach wunderschön!“

Er erzählt mir von seinen Fahrten nach Spanien, mit seinen „Omis“, wie er die Damen ab sechzig aufwärts liebevoll nennt und, dass er mit ihnen meistens eine gute Zeit verbringt. Ich muss immer wieder schmunzeln und vergesse die Zeit. Auf einmal steht der Mann auf. „So, jetzt muss ich mich beeilen, die nächste Station ist Bielefeld.“

„Oh, das ging jetzt aber schnell.“, sagt meine innere Stimme und ich versuche, mich an die vorherigen Stopps zu erinnern. Klappt aber nicht. „Na dann noch ‘ne gute Reise, tschüss.“

„Äh… ja danke“, stammele ich. Schon ist er weg, nur noch der Moschus-Duft erinnert mich an meinen Busfahrer, der im Herzen ein Kapitän ist.

Ich krame nach meinen Kopfhörern, die irgendwo zwischen Mantel und Sitz gerutscht sind, stecke sie ins Ohr und kann mir ein Grinsen über mich selbst nicht verkneifen. Nette Bomberjacke… gutes Gespräch.