Interview — Kilian Kerner

Im Jetzt

Als Teenager fühlte er sich so unwohl, dass er mehrmals die Schule wechseln musste. Heute hat Kilian Kerner sein eigenes Design-Label und ist das coole Kind im Block. Im Gespräch verrät er uns, wie er durch einen Zufall zum Modedesigner wurde und was für ihn im Leben wichtig ist.

3. Mai 2014 — MYP No. 14 »Meine Wut« — Interview: Jonas Meyer, Fotos: Franz Grünewald

Was meint das Leben nur, wenn es uns manchmal glauben lässt, unser Gegenüber seit einer halben Ewigkeit zu kennen – obwohl wir ihm heute erst begegnet sind?

Ein Donnerstagmorgen Ende März. Im Innenhof des Gebäudekomplexes der Berliner KW Institute for Contemporary Art (Kunst-Werke) hat vor wenigen Minuten das Café Bravo seine Pforten geöffnet. Während die Morgensonne noch zaghaft ihre Strahlen durch die breite Glasfassade wirft, beugen sich die ersten Gäste bereits gedankenversunken über ihre Tageszeitungen. Der Duft frischer Croissants liegt in der Luft, dazu liefert die schnaufende Kaffeemaschine gemeinsam mit dem kleinen Radio hinter der Bar die entsprechende Morgenakustik.

Wir lassen uns an einem kleinen Tisch mit direktem Blick zum Innenhof nieder. Kaum haben wir unser Equipment ausgepackt, betritt auch schon der Berliner Modedesigner Kilian Kerner das Café. Der 35jährige begrüßt uns herzlich und setzt sich zu uns. „Habt ihr auch solchen Hunger?“, schießt es aus ihm heraus, als er einen großen Teller mit Croissants auf dem Tresen entdeckt.

Natürlich haben wir Hunger! Jetzt kein Frühstück zu bestellen wäre ein Verbrechen – also ordern wir, was die kleine Karte hergibt. Nur wenige Minuten später füllt sich der kleine Tisch mit dem, was wir bestellt haben. Die Basis ist damit geschaffen – es kann losgehen!

Jonas:
Du bist 1979 in Köln geboren und hast dort etwa zwei Drittel deines Lebens verbracht. Welche Erinnerungen an deine Kindheit und Jugend sind dir geblieben? Immerhin hast du die 80er Jahre voll mitgenommen.

Kilian:
Ja, das stimmt – ich bin ein absolutes Kind der 80er. Ich liebe einfach alles aus diesem Jahrzehnt und erinnere mich daher beispielsweise auch noch ganz genau an meine Lieblingsfernsehserie namens „Ich heirate eine Familie“. Erst letzte Weihnachten habe ich mir wieder alle alten Folgen angesehen, als mich meine Mutter in Berlin besucht hat. Faul wie ein Couchpotatoe lag ich dabei vor dem Fernseher.

Jonas:
Kilian Kerner als faules Couchpotatoe vor der Glotze – das kann man sich nur schwer vorstellen.

Kilian:
Du glaubst ja nicht, wie faul ich zuhause bin! Sobald meine Wohnungstür zugefallen ist, habe ich keine Lust mehr, mich aufzuraffen und das Haus zu verlassen.

Jonas:
Ich gehe mal davon aus, dass bei deinem Arbeitspensum die Zeit eher überschaubar ist, in der du zuhause bist.

Kilian:
Ja, daran bin ich aber selbst schuld. Ich bin geradezu ein Getriebener und kann nicht abgeben.

Jonas:
So etwas kann man aber lernen.

Kilian:
Stimmt, ich versuche auch gerade, mir das irgendwie beizubringen.

Jonas:
Deine Erinnerung an die 80er beschränkt sich aber hoffentlich nicht nur auf „Ich heirate eine Familie“…

Kilian:
Nein, natürlich nicht! Nena beispielsweise ist mir nach wie vor total präsent, da sie in den 80ern meine Heldin der Welt war – und ich sie heute noch absolut cool finde.

Jonas:
Das klingt nach einem tollen Jahrzehnt.

Kilian:
Naja, natürlich habe ich auch negative Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend. Mit Abstand das Schlimmste war für mich die Schule: Wenn ich ehrlich bin, fand ich die Schule immer zum Kotzen – und die Schule mich wahrscheinlich auch, denn als Jugendlicher war ich ein ziemlich komischer Typ. Ich habe nach der 10. Klasse mehrfach die Schule gewechselt , war auf kaufmännischen Schulen und einer Abendschule. Irgendwann wollte ich auch mal BWL studieren. Ich und BWL – das wär’s gewesen.

BWL, warum auch nicht? Das Leben schlägt ja manchmal unerwartete Haken. Kilian bricht ein Stück seines Croissants ab und wendet für einige Augenblicke den Kopf zur Seite. Dabei breitet sich auf seinem Gesicht ein jugendliches, vergnügt wirkendes Grinsen aus – flankiert von zwei wachen und neugierigen Augen.

Jonas:
Statt BWL hast du aber Schauspiel studiert. Wie kam es zu der Kehrtwende?

Kilian:
Seit ich denken kann, habe ich mich immer sehr für Film und Fernsehen interessiert und mich der Schauspielerei auf besondere Art und Weise verbunden gefühlt. Das war irgendwie in mir drin, aber konnte nie so richtig raus.
Obwohl ich eigentlich immer ein sehr selbständiger Mensch war, hatte ich nie den Mut und das Selbstbewusstsein, tatsächlich eine Schauspielerausbildung zu starten. Dazu brauchte es erst eine neue Beziehung und einen kleinen Schubser in die richtige Richtung.

Jonas:
Inwiefern?

Kilian:
Mein damaliger Freund hat mir nach kurzer Zeit die Frage gestellt, was ich denn eigentlich so mit meinem Leben machen wolle. Ich druckste mich um die Antwort herum, denn mir war es fast peinlich, “Schauspieler” zu sagen. Also hat er mich heimlich bei einem Schauspielkurs angemeldet und mir eine Woche vor Beginn gesagt: „So, da gehst Du jetzt hin!?“
Ich muss sagen, dass das mit das Coolste war, was jemals jemand für mich getan hat. Ich fand die ganze Aktion so romantisch, dass ich natürlich hingegangen bin. Und schon nach kurzer Zeit habe ich gemerkt, dass das genau das ist, was ich machen will. Zumindest dachte ich das drei bis vier Jahre lang.

Jonas:
Das klingt nach einer typischen Jungschauspieler-Story: durch Zufall in die Sache reingerutscht und dabei seine Passion für die Schauspielerei entdeckt.

Kilian:
Für mich gab es damals einen Schlüsselmoment: Schon in der ersten Stunde bestand unsere Aufgabe darin, die Kursräume für zwei Stunden zu verlassen, uns in der Öffentlichkeit irgendeine Person auszusuchen, sie zwei Stunden zu beobachten, zurückzukommen und diese Person dann zu spielen. Ich hatte mir eine H&M-Verkäuferin ausgesucht und war in meinem Spiel auch scheinbar gar nicht so schlecht. Dadurch schlug meine Schauspiellehrerin mich für eine Rolle vor. Eine Regisseurin suchte damals unerfahrene Schauspieler, die mit erfahren Schauspielern ein Stück spielen sollten: „Das Spiel von Liebe und Zufall“. So bekam ich meine erste Hauptrolle in einem Theaterstück.

Jonas:
Eine Hauptrolle am Theater spielen und gleichzeitig eine kaufmännische Schule besuchen – kann das gutgehen?

Kilian:
Meine schulischen Leistungen waren zwar ganz gut, aber durch die Schauspielerei hat mich auf einen Schlag nichts anderes mehr interessiert. Daher habe ich mich auch immer seltener in der Schule blicken lassen und schließlich drei Monate vor dem Fachabi hingeschmissen.
Ich habe mich damals voll und ganz auf das Theaterstück konzentriert und wenig später auch angefangen, einige kleinere Film- und Fernsehrollen zu spielen. Irgendwie hat sich alles total gut und richtig angefühlt, was ich da mache. Und so habe ich mich im Jahr 2000 dazu entschieden, mich an einer Schauspielschule zu bewerben. Ich wollte diesen Beruf einfach von Grund auf erlernen – und wurde genommen.

Während wir hier so gemütlich mit ihm sitzen und uns unterhalten, beschleicht uns ein sonderbar angenehmes Gefühl von Vertrautheit: Der Modedesigner wirkt seit der ersten Sekunde so offen und herzlich, dass man glaubt, sich mit ihm schon dutzende Male zum Frühstück getroffen und ausgetauscht zu haben.

Dabei kennen wir uns gerade einmal zehn Minuten…

Nach zwei Jahren in Köln hatte ich aber keine Lust, wieder komplett von vorne anzufangen – irgendwie wollte ich mehr.

Jonas:
Hast du die Ausbildung zum Schauspieler abgeschlossen?

Kilian:
Nee, die habe ich abgebrochen. Ich wurde Mitte 2002 ziemlich krank und hatte etliche Monate mit meinem schlechten Gesundheitszustand zu kämpfen. Mein Platz in der Schauspielschule wurde zwar freigehalten, aber als ich nach knapp einem Jahr zurückkam, hatte ich irgendwie das Gefühl, neu anfangen zu müssen.
Ich wollte nach der Krankenhauszeit und dem, was damals mit mir passierte, einfach aus Köln weg. Also bin ich Anfang 2003 nach Berlin gezogen und dort nochmal kurz auf eine Schauspielschule gegangen. Nach zwei Jahren in Köln hatte ich aber keine Lust, wieder komplett von vorne anzufangen – irgendwie wollte ich mehr.

Jonas:
Das klingt erstaunlich pragmatisch für so eine grundlegende Veränderung.

Kilian:
Es ging ja auch erstaunlich schnell! Ich wollte einfach nicht mehr in Köln bleiben. Irgendwann kam ich abends von einer Party nach Hause und habe mir gesagt: So, jetzt ist Feierabend. Du ziehst hier weg.
In der Anfangszeit bin ich allerdings auf Berlin überhaupt nicht klar gekommen und fand alles ganz schrecklich: Ich kannte hier einfach niemanden und kam auch mit den Menschen nicht zurecht. Wenn man auf Partys irgendwelche Leute kennengelernt und Nummern ausgetauscht hatte, konnten sie sich nicht mehr an einen erinnern, man sich zwei Tage später gemeldet hat. Diese schroffe Art fand ich ganz schlimm, so etwas kannte ich aus Köln einfach nicht.

Jonas:
Trotzdem hat dich Berlin nicht mehr losgelassen.

Kilian:
Ja, das stimmt. Irgendwann habe ich auch andere Menschen kennengelernt, die nicht diese schroffe Oberflächlichkeit besaßen und die ich sehr mochte. Wir haben uns angefreundet und viel unternommen. So konnte ich die Stadt von einer ganz anderen, schönen Seite kennenlernen.

Jonas:
Das war vor ziemlich genau elf Jahren. Wer hätte damals geahnt, dass dein Name mal für ein eigenes Modelabel stehen würde…

Kilian:
Wenn mir damals jemand so etwas erzählt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

Jonas:
Trotzdem hast Du das Label bereits 2004 gegründet – das muss ein ereignisreiches Jahr gewesen sein seit deinem Umzug nach Berlin. Wie bist du zur Mode gekommen?

Kilian:
Von heute aus betrachtet ging das wirklich schnell. Ohne es zu wissen, wurde der Grundstein dafür aber schon etwas früher gelegt – und zwar durch puren Zufall: Als ich 2001 in Köln mit einem Mädel in eine WG zog, fanden wir es dort ziemlich schmutzig. Also haben wir Chlorreiniger gekauft und uns vorgenommen, mal richtig durchzuputzen. Und tolpatschig wie ich bin, habe ich im Vorbeilaufen die offene Flasche umgestoßen. Alles lief auf eine meiner Lieblingshosen, die auf dem Boden lag – und was Chlorreiniger mit Klamotten macht, das wissen wir ja.
In meiner Verzweiflung habe ich einen Schwamm genommen und angefangen, damit auf der Hose rumzumalen und zu –schreiben. Und plötzlich stand in riesigen Lettern „NENA“ drauf. Ich mochte das irgendwie sehr und habe die Hose deshalb auch so getragen. Lustigerweise wollten alle Leute aus meiner damaligen Clique dann auch eine Hose haben, auf der der Name ihrer Lieblingsband stand. Also habe ich angefangen, ihre Hosen umzugestalten und zu beschriften: „Depeche Mode“, „Take That“ und was es sonst noch alles gab. Irgendwann hatten wir alle so eine Hose an, das war echt lustig.
Meine erste Berührung mit „Ich mache mir etwas zum Anziehen“ hat mir ziemlich viel Spaß gemacht. Und so kam es, dass ich immer wieder mal hobbymäßig für mich und meine Freunde Kleidungsstücke verändert habe.
In meiner Anfangszeit in Berlin gab es beispielsweise ein Mädchen namens Ellen, die jedes Wochenende von mir etwas Neues zum Anziehen haben wollte. Also habe ich mir Woche für Woche etwas einfallen lassen und für sie kreiert.
Die Leute haben damals immer öfter gefragt, woher Ellen oder ich die Klamotten hatten. Als sich herausstellte, dass ich selbst diese Sachen entworfen und kreiert hatte, sollte ich plötzlich eine Modenschau auf die Beine stellen. Von so etwas hatte ich aber keinen blassen Schimmer, also habe ich daraus ein Theaterstück gemacht – eine Inszenierung in einer Irrenanstalt.

Auf einmal habe ich aber gemerkt, welche Disziplin ich an den Tag legen kann, wenn ich mir zuhause neue Kleidungsstücke ausdenke.

Jonas:
Und so hat sich abgezeichnet, dass sich dein Leben in Richtung Modedesign verschieben wird?

Kilian:
Nein, wenn ich ehrlich bin, hatte ich nach einiger Zeit absolut keine Lust mehr auf diesen Zirkus. Ich fand auch die Leute viel zu komisch, die ich in nur kurzer Zeit kennengelernt hatte. Trotzdem konnte mich wenig später ein Freund dazu überreden, eine zweite Modenschau auf die Beine zu stellen. Nur leider hatte ich dafür keine Kleidungsstücke mehr. Und so musste ich innerhalb von zwei Wochen etliche Ideen entwickeln und Stücke entwerfen.
Interessanterweise habe ich während meiner Zeit an der Schauspielschule nie wirklich diszipliniert gearbeitet: Ich habe Texte nur mäßig oder gar nicht gelernt und bin gerne mal zu spät gekommen. Alles, was ich heute verabscheue, war ich damals selbst.
Auf einmal habe ich aber gemerkt, welche Disziplin ich an den Tag legen kann, wenn ich mir zuhause neue Kleidungsstücke ausdenke – und dass mir so etwas wesentlich mehr Spaß macht, als auf irgendwelchen Partys abzuhängen. Also habe ich mir vorgenommen, das Ganze auf eine professionellere Art und Weise anzugehen und mir eine Schneiderin gesucht, mit der ich in den Folgemonaten intensiv zusammenarbeiten konnte. So ist dann 2004/2005 die erste Kilian Kerner Kollektion entstanden.

Jonas:
Dabei ist dir in der Anfangszeit nicht nur Wohlwollen entgegengeschlagen, sondern vor allem auch Spott. Wie bist du damit umgegangen?

Kilian:
Ich glaube, das hat mir damals eher zusätzliche Energie gegeben als mich runtergezogen. Und aus der heutigen Perspektive betrachtet wirkt das Ganze sogar eher lustig: Bei unserem ersten Jubiläum, der zehnten Show in Folge auf der Berliner Fashion Week, musste ich wieder daran denken, dass die Personen, von denen der Spott damals hauptsächlich ausging, nach wenigen Jahren ihre eigenen Labels wieder aufgegeben haben. Mich aber gibt es immer noch – obwohl mir das vor zehn, elf Jahren nur wenige Leute zugetraut hatten.
Ich muss aber sagen, dass mich das Thema etwas verfolgt, seitdem ich es einmal nebenbei in einem Interview erwähnt hatte. Und wenn ich mir heute anschaue, was ich damals so gemacht habe – Sterne ausschneiden und auf Hosen kleben beispielsweise – war das ja auch eher amüsant und durchaus kritikwürdig.

Jonas:
Trotzdem hat es funktioniert – und ganz nebenbei gesagt hast du dich als erster Berliner Modedesigner etabliert, der in der Hauptstadt jede Fashion Week konsequent mitgemacht hat.

Kilian:
Ja, es hat damals sogar richtig gut funktioniert. Vor zehn Jahren war dieses Customizing in der Modewelt einfach total in. Alleine nach meiner ersten Modenschau wurden meine Stücke direkt von fünf Berliner Läden geordert.
Ich erinnere mich beispielsweise auch noch daran, dass einmal auf irgendeinem Magazincover ein T-Shirt von uns zu sehen war. Dadurch bekamen wir so viele Bestellungen, dass ich drei Wochen lang nichts anderes gemacht habe, als zuhause zu sitzen und T-Shirts zu zerreißen und zu bemalen.
Natürlich habe aber auch ich eine gewisse Zeit gebraucht, um mich zu entwickeln und weniger Fehler zu machen. Das gehört einfach dazu – meine Entwicklung dauert nach wie vor an dauert und wird auch immer andauern. Gott sei Dank lernt man ja jeden Tag dazu.

Es ist kur vor 12:00 Uhr, in den KW Institute for Contemporary Art öffnet gleich die Themenausstellung „Echte Gefühle: Denken im Film“, die wir uns gemeinsam ansehen wollen.

Wir verlassen das Café und betreten wenige Meter weiter die dunklen Ausstellungsräume, deren einzige Lichtquelle unzählige flimmernde Fernsehschirme und Projektoren sind. Die Ausstellung, so lesen wir im Programm, „widmet sich den Affekten und Emotionen im bewegten Bild. Sie geht der Frage nach, wie Filme Emotionen vermitteln und eine Authentizität erzeugen, an der individuelle und kollektive Erfahrung aufeinandertreffen“.

Gemeinsam laufen wir von Fernsehschirm zu Fernsehschirm. Dabei entdecken wir immer wieder Ausschnitte von Filmen, die wir noch aus unserer Kindheit kennen, und fragen uns, welche menschliche Emotion wohl mit der jeweiligen Filmsequenz verknüpft sein könnte.

Jonas:
Die meisten Menschen, die sich wie du etwas von Grund auf aufbauen, werden früher oder später von Existenzängsten aufgesucht. Hast du derartige Situationen auch erlebt?

Kilian:
Jeder klassische Student, der nicht gerade über reiche Eltern verfügt, weiß doch ganz genau, wie es ist, wenn man nicht den ganzen Tag zuhause sitzt, sondern raus geht und lebt. Da wird ab der Mitte des Monats das Geld zwangsläufig knapp. Bei mir war das nicht anders.
Für mich selbst finde ich es total wichtig, dass ich diese Erfahrung im Laufe meines Lebens immer wieder gemacht habe. Dadurch schätze ich heute vielmehr, was ich habe. Und es bringt eine gewisse Bodenhaftigkeit mit sich, die die Gefahr reduziert, irgendwann abzuheben – dafür weiß man einfach viel zu gut, wie es ist, ab dem 15. des Monats kein Geld mehr zu haben, Miracoli zu essen und Pfandflaschen zurückzubringen.
Doch auch wenn manchmal das Geld wirklich knapp war, muss ich sagen, dass ich trotzdem meistens eine gute Zeit hatte – wie etwa 2003 in meiner Berliner WG. Es ging uns damals gut, auch ohne Geld.

Jonas:
Der klassische Student verfügt aber in der Regel auch über eine berufliche Perspektive und weiß, dass es spätestens in ein paar Jahren wirtschaftlich bergauf geht, wenn er sein Studium abgeschlossen und einen Job gefunden hat.

Kilian:
Ich habe immer etwas getan und an etwas geglaubt. Und ich wusste immer, dass ich nicht still stehen werde.
Ganz allgemein bin ich aber kein Mensch, der sich hauptsächlich Gedanken darüber macht, was in fünf Jahren ist. Ich stelle mir eher die Frage: Was ist morgen? Was ist übermorgen? Davon abgesehen spielt sich mein Leben jetzt eh nur noch in Saisons ab und nicht mehr in Jahren. Ein Jahr hat zwei Saisons, das ist das für mich das einzig Wesentliche.
Ich versuche daher, absolut im Jetzt zu sein und mich darauf zu fokussieren, was gerade bzw. morgen wichtig ist – und das jede Saison auf’s Neue. Trotzdem liegt dabei mein Fokus natürlich auch darauf, dass das Label Kilian Kerner weiter aufgebaut wird: Es gibt definitiv immer Ziele, auf die wir alle dort hinarbeiten.

Jonas:
Und jede Saison versuchst du auf’s Neue, mit deiner Kollektion eine Geschichte zu erzählen.

Kilian:
Das stimmt. Ich glaube, das ist eine Herangehensweise, die ich aus der Schauspielerei mitgenommen habe.

Jonas:
Siehst du dich selbst eher als Geschichtenerzähler oder als Modedesigner?

Kilian (lächelt):
Ich würde sagen, ich bin ein Geschichten erzählender Modedesigner. Mir geht es bei meiner Arbeit darum, nicht einfach nur Kleidung zu entwerfen. Man vollzieht in diesem Business ja jeden Tag einen Seelen-Striptease – und auf einer Show zeigt man dann, was im Laufe der Wochen und Monate davor tief in einem entstanden ist.
Dem Ganzen möchte ich einfach eine gewisse Handlung geben, denn das hat für mich wesentlich mehr Relevanz, als wenn ich mich etwa davon inspirieren lassen würde, was in den 50er Jahren so passiert ist.

Während wir weiter neugierig durch die Ausstellung schlendern und an jeder Ecke altbekannte Filmsequenzen entdecken, malen die großen Filmprojektoren ihr farbenfrohes Bild auf Kilians Stirn und Wangen. Es wirkt geradezu, als sei dem jungen Modedesigner dabei die Story des Films ins Gesicht geschrieben – in das Gesicht, das mit seinen wachen und neugierigen Augen auch ohne Projektor unendlich viel zu erzählen hat. Vom Leben etwa. Oder von den Menschen und ihren Gefühlen.

Wenn man sich fragt, worum es im Leben wirklich geht, kommt man letztendlich immer auf die Liebe.

Jonas:
Du hast wahrscheinlich im Laufe der Jahre und bei der Vielzahl deiner Kollektionen jede einzelne menschliche Emotion thematisiert, die so entstehen kann…

Kilian:
Das ist durchaus möglich. Aber als ich vor kurzem mit meiner Grafikerin zusammensaß, sagte sie interessanterweise Folgendes: „Kilian, alles hat bei dir irgendwie immer mit der Liebe zu tun.“ Und ich glaube, da hat sie nicht unrecht.
Wenn man sich fragt, worum es im Leben wirklich geht, kommt man letztendlich immer auf die Liebe – was auf der Welt hat denn letztendlich nichts mit der Liebe zu tun?
Ich liebe meine Freunde, mein Zuhause, meine Arbeit oder gutes Essen. Und ich liebe es, wenn die Sonne scheint. Was kann einen denn mehr antreiben als das Gefühl, jemanden oder etwas zu lieben? Mich jedenfalls nichts.

Bedauerlicherweise definieren viele Menschen das Gefühl der Liebe nur über die Zuneigung zu einem Partner.

Jonas:
Der Mensch interessiert sich ja auch in erster Linie immer für den Menschen.

Kilian:
Ja, aber bedauerlicherweise definieren viele Menschen das Gefühl der Liebe nur über die Zuneigung zu einem Partner – was ja nicht wirklich richtig ist.

Jonas:
Deine jüngste Kollektion stellt die Frage in den Mittelpunkt, was im Leben wirklich wichtig ist – ein emotionales Grundsatzthema. Wie kam es dazu?

Kilian:
Auslöser war der plötzliche Tod einer sehr jungen Person in meinem näheren Umfeld. Als ich von diesem schrecklichen Ereignis erfahren habe, hatte ich gerade damit begonnen, die neue Kollektion zu entwerfen. Dieser unerwartete Tod hat mich so sehr beschäftigt, dass ich dadurch auch mein eigenes Leben komplett in Frage gestellt habe: Da legt sich ein sehr junger Mensch abends schlafen und wacht morgens nicht mehr auf – das kann uns allen passieren.
Ich habe mich also gefragt: Um was geht es eigentlich wirklich im Leben? Und dann habe ich dieses Gefühl dazu benutzt, die neue Kollektion zu machen.

Jonas:
Was genau heißt in diesem Zusammenhang „benutzt“? Bezieht sich das eher auf die allgemeine Stimmung, die du brauchst, um zu entwerfen, oder geht es eher um die konkrete Übersetzung in Farben, Schnitte oder Muster?

Kilian:
Das kann man nicht wirklich voneinander differenzieren. Es fängt damit an, dass ich mich komplett in diese Stimmung fallen lasse – das funktioniert übrigens nicht im Atelier, dazu muss ich zuhause sein. Erst schreibe ich ganz viel, dann zeichne ich. Dieser Prozess ist schön und hässlich, bringt Freude und tut weh, hebt die Stimmung und killt sie wieder. So entsteht das emotionale Grundgerüst der Kollektion.
Und wenn es in den darauf folgenden Monaten um die Umsetzung geht, bin ich jeden Tag so sehr in diese besondere Emotionalität involviert, dass sich das letztendlich auch über die Beschaffenheit der einzelnen Kleidungsstücke ausdrückt.

Jonas:
Besteht bei diesem Prozess nicht die Gefahr, sich selbst total zu verlieren?

Kilian:
Nein, ich habe glücklicherweise im Laufe meines Lebens gelernt, mich selbst ganz gut kontrollieren zu können – zumindest was diesen Teil meiner Arbeit angeht.

Jonas:
Auch ein Verdienst der Schauspielschule?

Kilian:
Nein, das habe ich mir tatsächlich erst danach durch die Arbeit als Modemacher angeeignet.

Jonas:
Welche Antwort hast du denn durch die Arbeit an der jüngsten Kollektion für dich persönlich gefunden? Was ist dir wichtig in deinem Leben?

Kilian:
Meine Unabhängigkeit! Ich genieße wirklich nichts mehr als meine Unabhängigkeit – jedenfalls in meinem Privatleben. Beruflich bin ich nicht ganz so unabhängig, da ich beispielweise auch eine große Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern habe. Trotzdem bin ich dort natürlich auch nicht so sehr fremdbestimmt, als wenn ich woanders arbeiten würde.

Jonas:
Auch wenn du nicht gerne darüber nachdenkst, was mal in ein paar Jahren sein wird – hast Du konkrete Pläne für die Zukunft?

Kilian:
Ich würde in den nächsten Jahren gerne in den USA Fuß fassen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dort zu leben, verspüre ich momentan große Lust, dort beruflich etwas zu starten. Ich war jetzt schon ein paar Mal beispielsweise in Los Angeles und werde wahrscheinlich im Sommer wieder dorthin fliegen.

Jonas:
Die Welthauptstadt des Films hat ja auch eine besondere Anziehungskraft.

Kilian:
Absolut – und meine Leidenschaft für den Film ist ja nach wie vor ungebrochen. Selbst mein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus filmschaffenden Menschen. Ich finde diese Leute wesentlich inspirierender als die aus dem Modebusiness, wir haben uns irgendwie mehr zu sagen. Vielleicht liegt das daran, dass ich in meiner Freizeit einfach keine Lust habe, über Mode zu reden. Immerhin verbringe ich beruflich schon den ganzen Tag damit. Irgendwann ist’s mal gut – im Leben gibt es ja außer Mode auch noch etwas anderes.

Wir sind am Ende der Ausstellung angekommen und treten aus den dunklen Räumen hinaus ins Freie. Auf Kilians Gesicht breitet sich wieder dasselbe jugendliche Lächeln aus, das wir bereits am Vormittag kennenlernen durften.

Während wir uns von dem jungen Berliner Modedesigner verabschieden, fällt unser Blick plötzlich auf seine pinkfarbenen Sneakers: Sie leuchten so intensiv, als hätte man sie direkt in die farbigen Videos der Ausstellung getaucht.

Kilian wünscht uns einen schönen Tag und verlässt den Innenhof der KW. Aus dem Inneren des Cafés summt das kleine Radio, die Mittagssonne wärmt unsere Wangen.

Was meint das Leben nur, wenn es uns manchmal glauben lässt, unser Gegenüber seit einer halben Ewigkeit zu kennen – obwohl wir ihm heute erst begegnet sind?

Es meint, dass nur das Heute wichtig ist.

Und natürlich die Liebe.

So wie im Film.