Submission — Regina Pichler

Resario Malti hat die Ruhe weg

27. Oktober 2013 — MYP No. 12 »Meine Stille« — Text & Illustration: Regina Pichler

Das lisarische Dorf Ringalli liegt seit Jahrtausenden in einem kleinen Tal umgeben von seltenen Fanfarensträuchen, die jeden Frühling meterhoch in den lachsfarbenen Himmel wachsen.

Das Leben im Dorf ist einfach. Jeden Montag beginnt eine neue Woche: Bäcker backen morgens Lunazzis aus Hefeteig mit Mandelherzen. Lehrer spitzen ihre blitzblauen Hussarenkreiden, um damit in die Luft zu malen. Und eine Hutmacherin klopft ihre meterhohen Kopfbedeckungen vor dem Laden aus und steckt an jeden Hut eine frisch gepflückte Mamali-Blüte.

Auch der alte Resario Malti steht Montags Frühmorgens auf und öffnet sein Geschäft, das an der Avenia Passarena liegt. Dort verkauft er keine süßen Lunazzis, keine Hüte – und er malt auch keine Dinge in die Luft.

Resario verkauft Stille. Dazu wandert er das ganze Jahr durch Ringalli und die umliegenden Dörfer, um mit einem sehr eng geknüpften Schmetterlingsnetz und einem Glas im Rucksack die Ruhe einzufangen. Einmal die Stille gefunden, packt er sie in ein Marmeladenglas, dreht den Deckel sehr fest zu und beschriftet das Glas. In seinem Laden in der Avenia Passarena werden die Gläser fein säuberlich in ein hohes Regal gestellt und mit einem Preisschild aus Ropaccio-Papier versehen.

Wer zu Resario kommt, hat die größte Auswahl an Stillen, die man sich vorstellen kann: es gibt in kleinen Gläsern die Stille aus der arakenischen Kirche im Nachbardorf. Die Stille zweier Freunde, die auf dem rotgekachelten Bürgersteig Schulter an Schulter gehen, kommt in einem bauchigen Glas mit rotem Deckel. Resario bietet auch die Stille einer großen Schulklasse in Arassio, dem Nachbarort von Ringalli an! Die ist sehr selten.

Auch im Angebot: die Stille einer großen Menschenmenge, nachdem ein Politiker aus Arakenien um Ruhe für seine Rede gebeten hat. Die Stille nach einer guten Mahlzeit, die Stille nach einem Paukenkonzert in der Ringalli-Arena. Und die Stille eines Mannes, der das traditionelle und schwere Lamisio-Rätsel mit den Steinen legt.

Und natürlich auch die Haus-Spezialität: ein großes Glas Stille aus dem Laden Resario Maltis. Eingefangen an einem heißen Sonnabend im August, als alle übrigen Einwohner Ringallis am Badeteich waren. Diese Stille ist allerdings nicht ganz still: beim Sammeln machte Resarios alter Dielenboden ein knarzendes Geräusch. Deshalb kostet das große Glas auch ein bisschen weniger als andere.

Seit vielen Jahren kommen Menschen aus dem ganzen Land zu Resario, um in Ruhe ein schönes Glas Stille auszusuchen und zu Hause aufzustellen. Besonders beliebt sind seit Neuestem auch kleine Stillen für unterwegs, die perfekt in die Hosentasche passen. Resario geht mit der Zeit!

Auch wenn Resario seinen Laden nicht ewig führen kann, weiß er, dass er sein ganzes Leben leidenschaftlich der Stille gewidmet hat. Ein Geheimtipp für alle, die Resarios Ruhe auch finden wollen: Einfach den nächsten Zug Richtung Apercio nehmen, bei Mabasta auf den ersten Wagon der Rundbahn Richtung Ringalli aufspringen – geschafft.

Aber Psst!