Submission — Calle Hackenberg

Perspektiven

14. April 2013 — MYP No. 10 »Meine Nacht« — Text: Benedikt Amara, Foto: Ingrid Raab

Tage werden mit unterschiedlichen Namen voneinander abgegrenzt. Der Nacht hingegen haftet immer die gleiche Benennung an. Und dennoch färben Blickwinkel ihre Finsternis mit verschiedensten Nuancen ein…„This is the rhythm of the night“:

I
Im Schutze der Dunkelheit wechseln Angestellte den Bürostuhl gegen den Barhocker, die Krawatte gegen den Party-Hut und das Beamten- gegen das Proletendeutsch. Sie legen eine Nachtschicht in Diskotheken ein und erinnern dabei keineswegs an Arbeitnehmer. Frei von ihren täglichen Pflichten setzt ihnen die Nacht eine Maske auf, damit sie sich verstecken können. Am Tage muss man Jungfrau sein, in der Nacht kann man Hure sein. Keineswegs verwunderlich, dass man sich zu „One-NIGHT-Stands“ trifft. Coronas „Because the night belongs to lovers“ wird zum Credo aller paarungswilligen Nachtschwärmer. Man merke sich: Was einem tagsüber ins Ohr geflüstert wird, ist meist geheim. Was einem nachts ins Ohr geflüstert wird, meist obszön

II
Schattige Gestalten tummeln sich vor der Bar-Theke wie das Vieh des Bauers am Futtertrog. Kapuzen überdimensionaler Capes geben nur vereinzelt Blicke auf sprödes, kaputtes Haar preis; dunkle Schatten unter den Augen, die nur schlecht von Concealer abgedeckt sind, lassen einen langen Tag vermuten. „La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut“ – denkste! Heinz Rühmann würde sich im Grabe umdrehen. Hier wird man zum Voyeurismus genötigt und ist unfreiwilliger Besucher im Gruselkabinett zu Berlin. Aber dennoch tut die Nacht ihr Nötigstes, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten: Da stehen die Partyzombies von der Finsternis der Nacht umhüllt und werden in ihren kleinen Makeln vom Dunkel der späten Stunde kaschiert. Doch sollte man die Nacht nie vor dem Morgen loben: Die Nacht wird von Sonnenuntergang und –aufgang begrenzt, die vermeintliche Schönheit jener Wesen auch.

III
Zu den Gesichtsleichen im Morgenrot gesellen sich die Schnapsleichen mit Orientierungsnot. Wankend und schwankend bahnen sie sich so rücksichtslos wie ein Eisbrecher auf See einen Weg durch Gruppen nach Hause gehender Clubbesucher. Die Lichter des Fernsehturms werden zu Lichtern eines Leuchtturms und sind den verirrten Schiffchen im tobenden Gewässer Berlins ein Anker. Die animalisch anmutende Mimik und Gestik jener Schiffbrüchigen lassen vermuten, dass in dieser Nacht Vollmond gewesen sein muss. Für ein Remake von Michael Jacksons Thriller-Video wären sie allemal zu gebrauchen. Weil diese modernen Werwölfe meistens alleine mit den letzten Resten Alkohol in der Hand über den Gehweg straucheln, reden sie mit sich selbst oder grölen ein Liedchen. Ist es auf dem Land der Hahn, der den ersten Morgengruß allen Schlafenden überbringt, ist es in der Stadt der alkoholisierte Vagabund.

IV
Obwohl sie sich schon die Nacht um die Ohren geschlagen haben, ertönt aus mindestens einer Ecke des Clubs: „Nein Mann, ich will noch nicht gehen! Ich will noch‘n bisschen tanzen!“. Die Schlafverweigerer machen den Morgen zur Nacht und tanzen anderswo weiter. Sie nehmen Lady Gagas „Marry the night“ wortwörtlich und gehen den ewigen Bund der Ehe mit der Nacht ein. Ganz konservativ ziehen diese sonst so liberalen Zeitgenossen keinesfalls eine Trennung in Betracht! Sie feiern weiter, bis dass die Müdigkeit sie scheidet! Bei diesen nimmersatten Clubkids hat Morgenstund‘ aber keinesfalls Gold im Mund! Viel eher Schnee in der Nase, Engelsstaub im Blut oder Gras im Paper. Ein Ritt durch Nacht und Wind geht heut auch ohne Pferd ganz geschwind! Und dürre Blätter im säuselnden Wind sind gegenüber heutigen Trips noch recht gelind! Ein Lockruf mit Töchtern lässt Erlkönig sein und geht mit diesen untätig heim. Denn heute führen die Junkies den nächtlichen Reihn, sie wiegen und tanzen von ganz allein. Stets erreichen sie einen Berliner Hinterhof mit Müh, mit Not, und stürzen sich in aller Früh ins nächste Kulturangebot.